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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Hartmanns Armer Heinrich.

Leser mit Groll gegen den selbstsüchtigen Kranken erfüllt, der das gute Kind
einem grausamen Tode preiszugeben entschlossen ist, so erfreut die entscheidende
Wendung umsomehr, und die schließlich stattfindende Mesalliance sichert dem
alten Gedichte die unzweifelhafte Gunst des neunzehnten Jahrhunderts. Zum
Lobe des Gedichtes, das zwischen Legende und Novelle schwankt, darf auch in
betracht kommen, daß es eines der ungemein seltnen Werke unsrer mittelalterlichen
höfischen Literatur ist, das seinen Stoff nicht dem Auslande schuldig ist. Eine
von der Sage ausgeschmückte wirkliche Begebenheit im Geschlechte von Hart¬
manns Dienstherren, derer von Ane, liegt der Dichtung zu gründe. Die neue
Ausgabe ist aus Wilhelm Wackcrnagcls akademischen Vorlesungen hervor¬
gegangen; Toischer hat in taktvoller Weise die seit Wackernagcls Tode heraus-
gekommene Literatur über Hartmann und seine Werke ergänzend herangezogen,
svdciß die Ausgabe nach jeder Richtung hin dem neuesten Stande der For¬
schung entspricht. Die umfangreichen Anmerkungen Wackernagels --> in Fedor
Vechs gleichfalls kommentirtcr Ausgabe zählt das Gedicht 49 Seiten, in der
Aufgabe von Wackernagel und Toischer 98 Seiten -- sind hauptsächlich sprach-
crkiärcnd und für Fachgenossen berechnet. Die Abhandlungen des Anhanges da¬
gegen werden auch für weitere Kreise interessante Belehrung bieten. Der "Aussatz
und dessen Heilung innerhalb der Geschichte" bildet die allgemeine geschichtliche
Grundlage dieser und vieler verwandten Dichtungen (Konrads von Würzburg
"Engelhard," die Legenden von Sankt Silvester, Jourdans von Vlaivins ^uri8
et, ^unis8 n, a.). Wackernagel giebt, ans medizinische Vorarbeiten gestützt, eine
Beschreibung der verschiednen Arten des Aussatzes und der Behandlung, welche
vonseiten des Staates und der Gesellschaft den Aussätzigen zuteil wurde. Der
Glaube, daß der Aussatz durch das Blut unschuldiger Kinder geheilt werden
könne, war bei Laien wie Ärzten allgemein verbreitet. Im Mittelalter, sagt
Wackernagel (S. 198), "waren sehr häufig die Arzte Juden"; in verschiednen
Erzählungen (von Papst Innocenz VIII.) und Sagen (Hirlanda, Konstantinns
und Silvester) "sind es jüdische Ärzte, die den Rat geben. Rechnet man hierzu
noch, daß unter den Juden, wie es scheint, der Aussatz noch lange als häufiges
Erbübel fortgedauert hat, so fällt ein neues Licht ans die fort und fort und
überall wiederkehrenden Erzählungen, wie von den Juden Christenkinder auf¬
gefangen und ihnen das Blut sei abgezapft worden." Die zweite Abhandlung
untersucht die "sagenhafte Ausbildung und Anwendung des geschichtliche,:
Stoffes," eine dritte "die Sage vom armen Heinrich und Hartmanns Dar¬
stellung." Nicht mit Unrecht hebt Wackernagel dabei hervor, daß Hartmann
in der Darstellung der Krankheit sehr diskret verfahren sei; in der That, ver¬
gleicht man wie z. B. Konrad von Würzburg in seiner Allegorie vor vsrltiz
lün den von Maden durchwühlten Rücken der aufsätzigen Dame Welt mit Zola-
schem Naturalismus geschildert hat, so weiß man dem streng den höfischen An¬
stand währenden Kunststile Hartmanns einmal aufrichtig Dank. Daß er diesen


Hartmanns Armer Heinrich.

Leser mit Groll gegen den selbstsüchtigen Kranken erfüllt, der das gute Kind
einem grausamen Tode preiszugeben entschlossen ist, so erfreut die entscheidende
Wendung umsomehr, und die schließlich stattfindende Mesalliance sichert dem
alten Gedichte die unzweifelhafte Gunst des neunzehnten Jahrhunderts. Zum
Lobe des Gedichtes, das zwischen Legende und Novelle schwankt, darf auch in
betracht kommen, daß es eines der ungemein seltnen Werke unsrer mittelalterlichen
höfischen Literatur ist, das seinen Stoff nicht dem Auslande schuldig ist. Eine
von der Sage ausgeschmückte wirkliche Begebenheit im Geschlechte von Hart¬
manns Dienstherren, derer von Ane, liegt der Dichtung zu gründe. Die neue
Ausgabe ist aus Wilhelm Wackcrnagcls akademischen Vorlesungen hervor¬
gegangen; Toischer hat in taktvoller Weise die seit Wackernagcls Tode heraus-
gekommene Literatur über Hartmann und seine Werke ergänzend herangezogen,
svdciß die Ausgabe nach jeder Richtung hin dem neuesten Stande der For¬
schung entspricht. Die umfangreichen Anmerkungen Wackernagels —> in Fedor
Vechs gleichfalls kommentirtcr Ausgabe zählt das Gedicht 49 Seiten, in der
Aufgabe von Wackernagel und Toischer 98 Seiten — sind hauptsächlich sprach-
crkiärcnd und für Fachgenossen berechnet. Die Abhandlungen des Anhanges da¬
gegen werden auch für weitere Kreise interessante Belehrung bieten. Der „Aussatz
und dessen Heilung innerhalb der Geschichte" bildet die allgemeine geschichtliche
Grundlage dieser und vieler verwandten Dichtungen (Konrads von Würzburg
„Engelhard," die Legenden von Sankt Silvester, Jourdans von Vlaivins ^uri8
et, ^unis8 n, a.). Wackernagel giebt, ans medizinische Vorarbeiten gestützt, eine
Beschreibung der verschiednen Arten des Aussatzes und der Behandlung, welche
vonseiten des Staates und der Gesellschaft den Aussätzigen zuteil wurde. Der
Glaube, daß der Aussatz durch das Blut unschuldiger Kinder geheilt werden
könne, war bei Laien wie Ärzten allgemein verbreitet. Im Mittelalter, sagt
Wackernagel (S. 198), „waren sehr häufig die Arzte Juden"; in verschiednen
Erzählungen (von Papst Innocenz VIII.) und Sagen (Hirlanda, Konstantinns
und Silvester) „sind es jüdische Ärzte, die den Rat geben. Rechnet man hierzu
noch, daß unter den Juden, wie es scheint, der Aussatz noch lange als häufiges
Erbübel fortgedauert hat, so fällt ein neues Licht ans die fort und fort und
überall wiederkehrenden Erzählungen, wie von den Juden Christenkinder auf¬
gefangen und ihnen das Blut sei abgezapft worden." Die zweite Abhandlung
untersucht die „sagenhafte Ausbildung und Anwendung des geschichtliche,:
Stoffes," eine dritte „die Sage vom armen Heinrich und Hartmanns Dar¬
stellung." Nicht mit Unrecht hebt Wackernagel dabei hervor, daß Hartmann
in der Darstellung der Krankheit sehr diskret verfahren sei; in der That, ver¬
gleicht man wie z. B. Konrad von Würzburg in seiner Allegorie vor vsrltiz
lün den von Maden durchwühlten Rücken der aufsätzigen Dame Welt mit Zola-
schem Naturalismus geschildert hat, so weiß man dem streng den höfischen An¬
stand währenden Kunststile Hartmanns einmal aufrichtig Dank. Daß er diesen


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[0415] Hartmanns Armer Heinrich. Leser mit Groll gegen den selbstsüchtigen Kranken erfüllt, der das gute Kind einem grausamen Tode preiszugeben entschlossen ist, so erfreut die entscheidende Wendung umsomehr, und die schließlich stattfindende Mesalliance sichert dem alten Gedichte die unzweifelhafte Gunst des neunzehnten Jahrhunderts. Zum Lobe des Gedichtes, das zwischen Legende und Novelle schwankt, darf auch in betracht kommen, daß es eines der ungemein seltnen Werke unsrer mittelalterlichen höfischen Literatur ist, das seinen Stoff nicht dem Auslande schuldig ist. Eine von der Sage ausgeschmückte wirkliche Begebenheit im Geschlechte von Hart¬ manns Dienstherren, derer von Ane, liegt der Dichtung zu gründe. Die neue Ausgabe ist aus Wilhelm Wackcrnagcls akademischen Vorlesungen hervor¬ gegangen; Toischer hat in taktvoller Weise die seit Wackernagcls Tode heraus- gekommene Literatur über Hartmann und seine Werke ergänzend herangezogen, svdciß die Ausgabe nach jeder Richtung hin dem neuesten Stande der For¬ schung entspricht. Die umfangreichen Anmerkungen Wackernagels —> in Fedor Vechs gleichfalls kommentirtcr Ausgabe zählt das Gedicht 49 Seiten, in der Aufgabe von Wackernagel und Toischer 98 Seiten — sind hauptsächlich sprach- crkiärcnd und für Fachgenossen berechnet. Die Abhandlungen des Anhanges da¬ gegen werden auch für weitere Kreise interessante Belehrung bieten. Der „Aussatz und dessen Heilung innerhalb der Geschichte" bildet die allgemeine geschichtliche Grundlage dieser und vieler verwandten Dichtungen (Konrads von Würzburg „Engelhard," die Legenden von Sankt Silvester, Jourdans von Vlaivins ^uri8 et, ^unis8 n, a.). Wackernagel giebt, ans medizinische Vorarbeiten gestützt, eine Beschreibung der verschiednen Arten des Aussatzes und der Behandlung, welche vonseiten des Staates und der Gesellschaft den Aussätzigen zuteil wurde. Der Glaube, daß der Aussatz durch das Blut unschuldiger Kinder geheilt werden könne, war bei Laien wie Ärzten allgemein verbreitet. Im Mittelalter, sagt Wackernagel (S. 198), „waren sehr häufig die Arzte Juden"; in verschiednen Erzählungen (von Papst Innocenz VIII.) und Sagen (Hirlanda, Konstantinns und Silvester) „sind es jüdische Ärzte, die den Rat geben. Rechnet man hierzu noch, daß unter den Juden, wie es scheint, der Aussatz noch lange als häufiges Erbübel fortgedauert hat, so fällt ein neues Licht ans die fort und fort und überall wiederkehrenden Erzählungen, wie von den Juden Christenkinder auf¬ gefangen und ihnen das Blut sei abgezapft worden." Die zweite Abhandlung untersucht die „sagenhafte Ausbildung und Anwendung des geschichtliche,: Stoffes," eine dritte „die Sage vom armen Heinrich und Hartmanns Dar¬ stellung." Nicht mit Unrecht hebt Wackernagel dabei hervor, daß Hartmann in der Darstellung der Krankheit sehr diskret verfahren sei; in der That, ver¬ gleicht man wie z. B. Konrad von Würzburg in seiner Allegorie vor vsrltiz lün den von Maden durchwühlten Rücken der aufsätzigen Dame Welt mit Zola- schem Naturalismus geschildert hat, so weiß man dem streng den höfischen An¬ stand währenden Kunststile Hartmanns einmal aufrichtig Dank. Daß er diesen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/415>, abgerufen am 28.11.2024.