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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Hcirtmcmns Armer Heinrich.

man ihn ob seines formalen Vorzuges nicht als den größten Meister unsrer mittel¬
alterlichen Epik auf den Schild heben sollen. Gottfried, um der berühmten
Stelle des Tristan, verbindet das Lob Hartmanns mit einem höchst bissigen
Tadel gegen den Finder wilder Mären, den Verwilderer höfischer Erziehung --
Wolfram von Eschenbach. Es hat mich befremdet, auch in der neuestell Ausgabe
des Hartmannschen Gedichtes, einer sonst dankenswerten Gabe aus Wilhelm
Wackernagels Nachlaß,") einem ähnlichen Urteile wieder zu begegnen, wie es
Gottfried im Beginn des dreizehnten Jahrhunderts ausgesprochen hat. Un-
zähligcmale hat man mich dem Vorgänge von Gewinns den Gegensatz erörtert,
in welchem sich Gottfried und Wolfram und ihre Schulen bewegten. Sogar
in einer modernsten Zuckerwasserdichtnug ist diese literarhistorische Thatsache
belletristisch verwertet worden. Jener Gegensatz ist wirklich eine der wichtigern
Erscheinungen unsrer Literaturgeschichte. Er kehrt im achtzehnten Jahrhundert
wieder in der Gegenüberstellung Hagedorns und Hallers, Klopstocks und
Wielands. Haller suchte in einer lesenswerten Abhandlung sich selber über die
Natur dieses Gegensatzes Klarheit zu verschaffen. Hat die literarische Forschung
des neunzehnten Jahrhunderts aber mit vollem Rechte auf den Gegensatz
Gottfrieds von Straßburg und Wolframs von Eschenbach hingewiesen, so darf
darüber doch nicht vergesse" werde", daß Gottfried selber Hartmann von Ane
und Wolfram als die Führer verschiedner Richtungen einander entgegensetzt.
Hartmann ist der Vertreter des korrekten Formalismus, wie er sich unter andern
Verhältnissen und in andrer Form dann im achtzehnten Jahrhundert wieder in
Gottscheds Schule bildete. Dieser ästhetischen Korrektheit entspricht auch eine
ethische; doch nein, dies Wort sagt zu viel, es deutet zugleich auf das Element
hin, welches Hartmanns Sittenlehre eben nicht in sich enthält. Hartmann
schildert uns in seinen beiden großen Epen das Ideal höfischer Sitte, von einer
tiefern Auffassung ist bei ihm keine Rede. Der Anstand, man möchte fast sagen
nach einem Komplimentirlmche, wird hier in ritterlichen Beispiele" gelehrt, das
allgemein menschliche Sittengebot und Gefühl kommt dabei aber entschiede" zu
kurz. Auch Wolfram ist in den Anschauungen seines Standes vielfach befangen.
Der junge Parcivnl tötet eigentlich aus kindischem Umstände den edeln König
Jeder von Gahevicz, den fleckeureinen, von dem nie el" Ohr etwas tadelns¬
wertes vernommen. Der Dichter beklagt seinen Tod, weil dieser durch einen
Gabhlvt (Wurfspeer), nicht durch eine Turnierlauze erfolgt ist. Solches Auf¬
gehen in der formelhaften Courtoisie kommt auch bei Wolfram öfter als einmal
vor. Aber wie weit steht er nichtsdestoweniger von Hartmann und seinem rein
äußerlichen Wesen ab. Ich gebe statt aller weiter" Ausführung nur ein Beispiel,
das mir so charakteristisch erscheint, daß ich mich wundre, es nicht schon längst



Hartmanns Armer Heinrich. Mit Anmerkungen und Abhandlungen von Wil¬
helm Wackernagel herausgegeben von W. Toischer. Basel, Beim" Schivabe, 1885.
Hcirtmcmns Armer Heinrich.

man ihn ob seines formalen Vorzuges nicht als den größten Meister unsrer mittel¬
alterlichen Epik auf den Schild heben sollen. Gottfried, um der berühmten
Stelle des Tristan, verbindet das Lob Hartmanns mit einem höchst bissigen
Tadel gegen den Finder wilder Mären, den Verwilderer höfischer Erziehung —
Wolfram von Eschenbach. Es hat mich befremdet, auch in der neuestell Ausgabe
des Hartmannschen Gedichtes, einer sonst dankenswerten Gabe aus Wilhelm
Wackernagels Nachlaß,") einem ähnlichen Urteile wieder zu begegnen, wie es
Gottfried im Beginn des dreizehnten Jahrhunderts ausgesprochen hat. Un-
zähligcmale hat man mich dem Vorgänge von Gewinns den Gegensatz erörtert,
in welchem sich Gottfried und Wolfram und ihre Schulen bewegten. Sogar
in einer modernsten Zuckerwasserdichtnug ist diese literarhistorische Thatsache
belletristisch verwertet worden. Jener Gegensatz ist wirklich eine der wichtigern
Erscheinungen unsrer Literaturgeschichte. Er kehrt im achtzehnten Jahrhundert
wieder in der Gegenüberstellung Hagedorns und Hallers, Klopstocks und
Wielands. Haller suchte in einer lesenswerten Abhandlung sich selber über die
Natur dieses Gegensatzes Klarheit zu verschaffen. Hat die literarische Forschung
des neunzehnten Jahrhunderts aber mit vollem Rechte auf den Gegensatz
Gottfrieds von Straßburg und Wolframs von Eschenbach hingewiesen, so darf
darüber doch nicht vergesse» werde», daß Gottfried selber Hartmann von Ane
und Wolfram als die Führer verschiedner Richtungen einander entgegensetzt.
Hartmann ist der Vertreter des korrekten Formalismus, wie er sich unter andern
Verhältnissen und in andrer Form dann im achtzehnten Jahrhundert wieder in
Gottscheds Schule bildete. Dieser ästhetischen Korrektheit entspricht auch eine
ethische; doch nein, dies Wort sagt zu viel, es deutet zugleich auf das Element
hin, welches Hartmanns Sittenlehre eben nicht in sich enthält. Hartmann
schildert uns in seinen beiden großen Epen das Ideal höfischer Sitte, von einer
tiefern Auffassung ist bei ihm keine Rede. Der Anstand, man möchte fast sagen
nach einem Komplimentirlmche, wird hier in ritterlichen Beispiele» gelehrt, das
allgemein menschliche Sittengebot und Gefühl kommt dabei aber entschiede» zu
kurz. Auch Wolfram ist in den Anschauungen seines Standes vielfach befangen.
Der junge Parcivnl tötet eigentlich aus kindischem Umstände den edeln König
Jeder von Gahevicz, den fleckeureinen, von dem nie el» Ohr etwas tadelns¬
wertes vernommen. Der Dichter beklagt seinen Tod, weil dieser durch einen
Gabhlvt (Wurfspeer), nicht durch eine Turnierlauze erfolgt ist. Solches Auf¬
gehen in der formelhaften Courtoisie kommt auch bei Wolfram öfter als einmal
vor. Aber wie weit steht er nichtsdestoweniger von Hartmann und seinem rein
äußerlichen Wesen ab. Ich gebe statt aller weiter» Ausführung nur ein Beispiel,
das mir so charakteristisch erscheint, daß ich mich wundre, es nicht schon längst



Hartmanns Armer Heinrich. Mit Anmerkungen und Abhandlungen von Wil¬
helm Wackernagel herausgegeben von W. Toischer. Basel, Beim» Schivabe, 1885.
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[0413] Hcirtmcmns Armer Heinrich. man ihn ob seines formalen Vorzuges nicht als den größten Meister unsrer mittel¬ alterlichen Epik auf den Schild heben sollen. Gottfried, um der berühmten Stelle des Tristan, verbindet das Lob Hartmanns mit einem höchst bissigen Tadel gegen den Finder wilder Mären, den Verwilderer höfischer Erziehung — Wolfram von Eschenbach. Es hat mich befremdet, auch in der neuestell Ausgabe des Hartmannschen Gedichtes, einer sonst dankenswerten Gabe aus Wilhelm Wackernagels Nachlaß,") einem ähnlichen Urteile wieder zu begegnen, wie es Gottfried im Beginn des dreizehnten Jahrhunderts ausgesprochen hat. Un- zähligcmale hat man mich dem Vorgänge von Gewinns den Gegensatz erörtert, in welchem sich Gottfried und Wolfram und ihre Schulen bewegten. Sogar in einer modernsten Zuckerwasserdichtnug ist diese literarhistorische Thatsache belletristisch verwertet worden. Jener Gegensatz ist wirklich eine der wichtigern Erscheinungen unsrer Literaturgeschichte. Er kehrt im achtzehnten Jahrhundert wieder in der Gegenüberstellung Hagedorns und Hallers, Klopstocks und Wielands. Haller suchte in einer lesenswerten Abhandlung sich selber über die Natur dieses Gegensatzes Klarheit zu verschaffen. Hat die literarische Forschung des neunzehnten Jahrhunderts aber mit vollem Rechte auf den Gegensatz Gottfrieds von Straßburg und Wolframs von Eschenbach hingewiesen, so darf darüber doch nicht vergesse» werde», daß Gottfried selber Hartmann von Ane und Wolfram als die Führer verschiedner Richtungen einander entgegensetzt. Hartmann ist der Vertreter des korrekten Formalismus, wie er sich unter andern Verhältnissen und in andrer Form dann im achtzehnten Jahrhundert wieder in Gottscheds Schule bildete. Dieser ästhetischen Korrektheit entspricht auch eine ethische; doch nein, dies Wort sagt zu viel, es deutet zugleich auf das Element hin, welches Hartmanns Sittenlehre eben nicht in sich enthält. Hartmann schildert uns in seinen beiden großen Epen das Ideal höfischer Sitte, von einer tiefern Auffassung ist bei ihm keine Rede. Der Anstand, man möchte fast sagen nach einem Komplimentirlmche, wird hier in ritterlichen Beispiele» gelehrt, das allgemein menschliche Sittengebot und Gefühl kommt dabei aber entschiede» zu kurz. Auch Wolfram ist in den Anschauungen seines Standes vielfach befangen. Der junge Parcivnl tötet eigentlich aus kindischem Umstände den edeln König Jeder von Gahevicz, den fleckeureinen, von dem nie el» Ohr etwas tadelns¬ wertes vernommen. Der Dichter beklagt seinen Tod, weil dieser durch einen Gabhlvt (Wurfspeer), nicht durch eine Turnierlauze erfolgt ist. Solches Auf¬ gehen in der formelhaften Courtoisie kommt auch bei Wolfram öfter als einmal vor. Aber wie weit steht er nichtsdestoweniger von Hartmann und seinem rein äußerlichen Wesen ab. Ich gebe statt aller weiter» Ausführung nur ein Beispiel, das mir so charakteristisch erscheint, daß ich mich wundre, es nicht schon längst Hartmanns Armer Heinrich. Mit Anmerkungen und Abhandlungen von Wil¬ helm Wackernagel herausgegeben von W. Toischer. Basel, Beim» Schivabe, 1885.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/413>, abgerufen am 25.11.2024.