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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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schaft nicht wenig Energie und Talent bekundet und namentlich sich als einen
kaltblütigen und zähen Politiker erwiesen, und man kann ihm das Zeugnis
geben, daß er alles zustande gebracht hat, was mit dieser Kammer und diesem
Senate zustande gebracht werden konnte, mehr vielleicht als das, was der
Meister der Schule bei seiner hitzigen und ungeduldigen Art an seiner Stelle
zu leisten vermocht hätte. Schwach freilich war er infolge der parlamentarischen
Verhältnisse immer, und das Ministerium, welches an die Stelle des seinigen
trat, ist nicht stärker. Es ist ohne politische Initiative, mehr eine Behörde der
Liquidation. Brisson denkt mehr an den zukünftigen Präsidenten der Republik
als an seine jetzige Stellung als Premier, er strebt nach Versöhnung der Gegen¬
sätze, aber es wird ihm schwerlich gelingen, die weitere Zersetzung der oppor¬
tunistischen Partei zu verhindern, geschweige denn die Spaltungen zu schließen,
welche die Republikaner überhaupt trennen und in sich gegenseitig bekämpfende
Gruppen absondern. Er würde damit mehr vermögen als die Natur.

In der Wahlbewegung, die seit einigen Wochen begonnen hat, setzten die
Gambettisten auf den frühern Ministerpräsidenten, ihren nunmehrigen Führer,
große Hoffnungen. Indes hat Ferry diese bisher nicht zu erfüllen vermocht,
namentlich war sein Erscheinen in Lyon, mit dem er den Wahlfeldzug eröffnete,
von geringem Erfolg. Eine aufgeregte Volksmasse empfing ihn bereits am
Bahnhofe mit dem Rufe: "Nieder mit dem Tonkinesen Ferry!" und verfolgte
ihn mit Schmähungen bis in das Hotel, wo dann seine Wahlrede einem sehr
entschiednen Widersprüche begegnete, obwohl sie unleugbare Wahrheiten aus-
sprach, wenn es darin hieß, an eine soziale Gefahr in Frankreich sei vorderhand
nicht zu glauben, weil hier dafür kein Boden sei, wohl aber könne man insofern
in Sorge sein, als die unfruchtbare Agitation der radikalen Wühler, der Mon¬
archisten und der roten Unversöhnlichen imstande sei, die Bildung einer starken
Regierungsmehrheit zu verhindern und die Möglichkeit herbeizuführen, daß ein
monarchischer Abenteurer sich der Regierungsgewalt bemächtige. Ein großer
Teil der französischen Presse, darunter auch Organe des maßvollern Republi¬
kanismus, äußerte sich tadelnd über diese Rede des Exmiuisters. Das ^carmen
(>v" I)vo!^8 fand, daß sie ans einem Programm und einer Vorlesung über
Wnhlmoral bestehe, die sich wenig glichen, da das Programm von einem Staats¬
manne, die Vorlesung aber von einem Opportunisten herrühre. Der r^Ätioir^l
meinte, Ferry, der konservativ thue, ohne es zu sein, Opportunist ohne Be¬
geisterung sei und sich radikal geberde, ohne überzeugt zu sein, habe damit allen
seinen frühern Ansichten ins Gesicht geschlagen. Besonders giftig und heftig
ging Clemeneeans 5uLtiov dem Redner zu Leibe, indem sie die Politik desselben
"eine Politik ohne Gedanken und Grundsätze" nennt, die "je nach der Sachlage
heute weiß, morgen schwarz färbt, die es versteht, den Rock rasch genug umzu¬
wenden, um durch nichts überrascht zu werden, und die als einzigem Ideale
dem augenblicklichen Erfolge nachjagt und zu diesem Zwecke alles opfert, selbst


schaft nicht wenig Energie und Talent bekundet und namentlich sich als einen
kaltblütigen und zähen Politiker erwiesen, und man kann ihm das Zeugnis
geben, daß er alles zustande gebracht hat, was mit dieser Kammer und diesem
Senate zustande gebracht werden konnte, mehr vielleicht als das, was der
Meister der Schule bei seiner hitzigen und ungeduldigen Art an seiner Stelle
zu leisten vermocht hätte. Schwach freilich war er infolge der parlamentarischen
Verhältnisse immer, und das Ministerium, welches an die Stelle des seinigen
trat, ist nicht stärker. Es ist ohne politische Initiative, mehr eine Behörde der
Liquidation. Brisson denkt mehr an den zukünftigen Präsidenten der Republik
als an seine jetzige Stellung als Premier, er strebt nach Versöhnung der Gegen¬
sätze, aber es wird ihm schwerlich gelingen, die weitere Zersetzung der oppor¬
tunistischen Partei zu verhindern, geschweige denn die Spaltungen zu schließen,
welche die Republikaner überhaupt trennen und in sich gegenseitig bekämpfende
Gruppen absondern. Er würde damit mehr vermögen als die Natur.

In der Wahlbewegung, die seit einigen Wochen begonnen hat, setzten die
Gambettisten auf den frühern Ministerpräsidenten, ihren nunmehrigen Führer,
große Hoffnungen. Indes hat Ferry diese bisher nicht zu erfüllen vermocht,
namentlich war sein Erscheinen in Lyon, mit dem er den Wahlfeldzug eröffnete,
von geringem Erfolg. Eine aufgeregte Volksmasse empfing ihn bereits am
Bahnhofe mit dem Rufe: „Nieder mit dem Tonkinesen Ferry!" und verfolgte
ihn mit Schmähungen bis in das Hotel, wo dann seine Wahlrede einem sehr
entschiednen Widersprüche begegnete, obwohl sie unleugbare Wahrheiten aus-
sprach, wenn es darin hieß, an eine soziale Gefahr in Frankreich sei vorderhand
nicht zu glauben, weil hier dafür kein Boden sei, wohl aber könne man insofern
in Sorge sein, als die unfruchtbare Agitation der radikalen Wühler, der Mon¬
archisten und der roten Unversöhnlichen imstande sei, die Bildung einer starken
Regierungsmehrheit zu verhindern und die Möglichkeit herbeizuführen, daß ein
monarchischer Abenteurer sich der Regierungsgewalt bemächtige. Ein großer
Teil der französischen Presse, darunter auch Organe des maßvollern Republi¬
kanismus, äußerte sich tadelnd über diese Rede des Exmiuisters. Das ^carmen
(>v» I)vo!^8 fand, daß sie ans einem Programm und einer Vorlesung über
Wnhlmoral bestehe, die sich wenig glichen, da das Programm von einem Staats¬
manne, die Vorlesung aber von einem Opportunisten herrühre. Der r^Ätioir^l
meinte, Ferry, der konservativ thue, ohne es zu sein, Opportunist ohne Be¬
geisterung sei und sich radikal geberde, ohne überzeugt zu sein, habe damit allen
seinen frühern Ansichten ins Gesicht geschlagen. Besonders giftig und heftig
ging Clemeneeans 5uLtiov dem Redner zu Leibe, indem sie die Politik desselben
„eine Politik ohne Gedanken und Grundsätze" nennt, die „je nach der Sachlage
heute weiß, morgen schwarz färbt, die es versteht, den Rock rasch genug umzu¬
wenden, um durch nichts überrascht zu werden, und die als einzigem Ideale
dem augenblicklichen Erfolge nachjagt und zu diesem Zwecke alles opfert, selbst


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/396>, abgerufen am 25.11.2024.