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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Martin Greif als dramatischer Dichter.

Vielfachen, schier unerschöpflichen Schattirungen erscheinen diese Schurken oder
Schwächlinge! Welche Stufenleiter von dem Erzböscwicht Tigellinus und den
feilen Schmarotzern Scnceio und Anieetns an bis zu dein furchtsamen selten,
dem schwachen Otho (beide nicht ohne feinen Humor gezeichnet) und den
leichtsinnigen, aber nicht schlimmartigen Höflingen Epaphroditus und Phaon.
Die Hauptperson des Dramas, der blutige Nero selbst, ist zwar eine ent¬
schieden interessante Figur, bietet auch eine der dankbarsten Aufgaben, die
ein bedeutender Schauspieler überwinden kann; dennoch liegt, wie uns scheint,
in der Art, wie der Dichter diesen Charakter darstellt, ein Fehler. Hätte doch
Greif seinem Cäsar irgendeine imponirende Eigenschaft verliehen! Aber daran
fehlt es! Dieser Nero ist kein grandioses Scheusal, wie etwa Richard der Dritte
oder Franz Moor, sondern eine gemeine Seele, unberechenbar im Bösen und
Guten, schwankend, eitel, feig, nichtswürdig, kurz ganz so, wie Tacitus ihn der
Nachwelt geschildert hat. Und der strenge, ernste Dichter erspart ihm keine,
auch uicht die tiefste Demütigung und zeigt ihn uns am Schluß von allen
verachtet und der Verachtung würdig -- ein trauriges Schauspiel, aber kein
tragisches. Daran scheitert in gewissem höhern Sinne das so. kühn angelegte,
an großen Schönheiten so reiche Stück. Der Dichter hat sich eine unlösbare
Aufgabe gestellt: für diesen Nero menschliches Mitgefühl zu erwecken. Dazu
kommt endlich, daß die Struktur des Dramas bei weitem nicht die straffe Ein¬
heit des "Corfiz Ulfeldt" zeigt, sondern von ziemlich lockerm Gefüge ist. So
können wir bei aller Anerkennung des im einzelnen Gelungnen dennoch dieser
zweiten Tragödie, als Ganzes betrachtet, nicht den gleichen Wert wie jenem
großartigen Erstlingswerke einräumen.

scheitert im "Nero" die Kunst des Dichters zum Teil an den unüber¬
windlichen Schwierigkeiten des Stoffes, so will uns scheinen, als habe Greif
bei der Ausarbeitung seines dritten Dramas "Marino Falieri oder die Ver¬
schwörung des Dogen zu Venedig" nicht von dem vollen Maße poetischer Kraft,
dessen er mächtig erscheint, Gebrauch gemacht. Es tritt dies in kleinen Nach¬
lässigkeiten der Darstellung zutage, die ein dramatischer Dichter nach Schiller,
Kleist und Grillparzer vermeiden müßte. So verläuft z. B. der trefflich an¬
sehende Monolog Stenos im Beginn des Stückes schließlich in eine Art orien-
tirenden Prologes im Tercnzischcn Stile. Das war allerdings bequem, aber
feiner, künstlerischer wäre es, wenn uns alle die Vorbedingungen der folgenden
Verwicklung nicht in trocknem Bericht, sondern -- scheinbar unabsichtlich -- im
Verlauf des Dialoges bekannt würden. Zuweilen stören auch prosaische Ausdrücke,
Flüchtigkeiten wie Seite 154: "Nie war ein Vater jammervoller je," kleine
Flecken, die der Dichter durch eine sorgfältige Feile leicht hätte tilgen können.
Und da wir einmal von Kleinigkeiten reden, so wollen wir auch gestehen, daß
die gereimten Verse im ersten Akte, zumal da sie in ihrer Form ganz allein
stehen, uns befremden. Die Anwendung deS Reimes im Drama scheint uns nur


Martin Greif als dramatischer Dichter.

Vielfachen, schier unerschöpflichen Schattirungen erscheinen diese Schurken oder
Schwächlinge! Welche Stufenleiter von dem Erzböscwicht Tigellinus und den
feilen Schmarotzern Scnceio und Anieetns an bis zu dein furchtsamen selten,
dem schwachen Otho (beide nicht ohne feinen Humor gezeichnet) und den
leichtsinnigen, aber nicht schlimmartigen Höflingen Epaphroditus und Phaon.
Die Hauptperson des Dramas, der blutige Nero selbst, ist zwar eine ent¬
schieden interessante Figur, bietet auch eine der dankbarsten Aufgaben, die
ein bedeutender Schauspieler überwinden kann; dennoch liegt, wie uns scheint,
in der Art, wie der Dichter diesen Charakter darstellt, ein Fehler. Hätte doch
Greif seinem Cäsar irgendeine imponirende Eigenschaft verliehen! Aber daran
fehlt es! Dieser Nero ist kein grandioses Scheusal, wie etwa Richard der Dritte
oder Franz Moor, sondern eine gemeine Seele, unberechenbar im Bösen und
Guten, schwankend, eitel, feig, nichtswürdig, kurz ganz so, wie Tacitus ihn der
Nachwelt geschildert hat. Und der strenge, ernste Dichter erspart ihm keine,
auch uicht die tiefste Demütigung und zeigt ihn uns am Schluß von allen
verachtet und der Verachtung würdig — ein trauriges Schauspiel, aber kein
tragisches. Daran scheitert in gewissem höhern Sinne das so. kühn angelegte,
an großen Schönheiten so reiche Stück. Der Dichter hat sich eine unlösbare
Aufgabe gestellt: für diesen Nero menschliches Mitgefühl zu erwecken. Dazu
kommt endlich, daß die Struktur des Dramas bei weitem nicht die straffe Ein¬
heit des „Corfiz Ulfeldt" zeigt, sondern von ziemlich lockerm Gefüge ist. So
können wir bei aller Anerkennung des im einzelnen Gelungnen dennoch dieser
zweiten Tragödie, als Ganzes betrachtet, nicht den gleichen Wert wie jenem
großartigen Erstlingswerke einräumen.

scheitert im „Nero" die Kunst des Dichters zum Teil an den unüber¬
windlichen Schwierigkeiten des Stoffes, so will uns scheinen, als habe Greif
bei der Ausarbeitung seines dritten Dramas „Marino Falieri oder die Ver¬
schwörung des Dogen zu Venedig" nicht von dem vollen Maße poetischer Kraft,
dessen er mächtig erscheint, Gebrauch gemacht. Es tritt dies in kleinen Nach¬
lässigkeiten der Darstellung zutage, die ein dramatischer Dichter nach Schiller,
Kleist und Grillparzer vermeiden müßte. So verläuft z. B. der trefflich an¬
sehende Monolog Stenos im Beginn des Stückes schließlich in eine Art orien-
tirenden Prologes im Tercnzischcn Stile. Das war allerdings bequem, aber
feiner, künstlerischer wäre es, wenn uns alle die Vorbedingungen der folgenden
Verwicklung nicht in trocknem Bericht, sondern — scheinbar unabsichtlich — im
Verlauf des Dialoges bekannt würden. Zuweilen stören auch prosaische Ausdrücke,
Flüchtigkeiten wie Seite 154: „Nie war ein Vater jammervoller je," kleine
Flecken, die der Dichter durch eine sorgfältige Feile leicht hätte tilgen können.
Und da wir einmal von Kleinigkeiten reden, so wollen wir auch gestehen, daß
die gereimten Verse im ersten Akte, zumal da sie in ihrer Form ganz allein
stehen, uns befremden. Die Anwendung deS Reimes im Drama scheint uns nur


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/322>, abgerufen am 25.11.2024.