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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Martin Greif als dramatischer Dichter.

"Ulfelot." Allein wie uns- dünkt, ist hier ein großer Aufwand dichterischer
Kraft an einen im Grunde doch widerwärtigen Stoff gewendet, wenn auch
grausige, auf rohen Effekt und Sinnenkitzel berechnete Szenen durchaus ver¬
mieden sind. Dennoch hat Greif auch hier mächtige Wirkungen erzielt. So ist
der ganze dritte Alt -- die Planung und Nussnhrung des Mnttermordes --
wahrhaft großartig. Und geradezu erschütternd wirkt der vierte Akt, sonst die
Achillesferse der Dramatiker. Zur ersten Szene, welche das Ausbrechen des
Wahnsinnes bei Nero schildert steht die zweite, in der eine junge Christen¬
gemeinde vorgeführt wird, in Kontrast. Der entsetzliche Cäsar hat mitten im
Sinnenrausch die Geliebte, die reizende Sünderin Poppäa, um deretwillen er
die gräßlichsten Verbrechen auf seine Seele geladen hat, niedergestoßen; von
Schauer gebannt, stehen wir noch unter dem Eindrucke, als ob der göttliche
Rächerarm plötzlich hereingriffe in den tollen Reigen der blutigen Unmenschen;
da mit einemmale sind wir all dem Entsetzlichen entrückt und sehen hoffnungs¬
voll bessere Zeiten heraufdämmern. Das wirkt nach dem berauschenden Höllen-
tanmel rein und rührend wie ferne Glockenklange; aus schwüler, verwesungduftender
Atmosphäre entronnen, atmen wir die würzige Luft des stillen Waldgebirges.
Dies alles ist von einer so schlicht erhabnen Schönheit, daß es auch auf der
Vühne unfehlbar den tiefsten Eindruck hervorrufen muß.

"Nerv" ist keine gelehrte Studie. Unverständliches ist auch für einen
Laien, der niemals in Friedländers "Sittengeschichte Roms" gelesen hat, nichts
darin. Der Verfasser ist so weit entfernt von der Manier unsrer poetisch an¬
gehauchten Philologen, daß er sogar vor einem kleinen Anachronismus nicht
zurücksehend. Es giebt poetische Anachronismen, und Greif bietet ein schönes
Beispiel eines solchen: er zeigt auf der Bühne ein leibhaftiges Bild des ge¬
kreuzigten Christus, nnr dreiunddreißig Jahre nach des Heilands Tod, obgleich
er natürlich ebensogut wie wir weiß, daß die ersten christlichen Jahrhunderte
eine bildliche Darstellung des Erlösers nicht kannten und als Götzendieners
verdammt haben würden. Nun lese man aber die Szene, und man wird ein-
gestehen, daß der Eindruck ein hochpoetischer ist, und wird am Ende jenen
Anachronismus garnicht missen wollen.

Gestalten und Farben der einzelnen Personen heben sich deutlich von
einander ab. Vor allein ragt Poppäa hervor, eine dämonische Natur,
bei tiefster Verworfenheit doch imponirend durch fast männliche Energie und
anziehend durch diabolische Grazie. Zu ihr bildet die edle Oktavia einen wohl¬
thuenden Gegensatz, die neben der für alte Schuld reuig büßenden Sklavin
Akte -- einer überaus sympathischen Figur -- fast einzig das gute Prinzip
vertritt. Wie rührend ist ihre verhaltne Trauer um den ermordeten Bruder!
Auch der schrecklichen Agrippina hat der Dichter große Züge verliehen, die sie
unsers Interesses vollkommen würdig machen. Der Stoff bringt es mit sich,
daß wir uus fast ausschließlich in schlechter Gesellschaft sehen. Aber in wie


Grenzboten III. 133S. 40
Martin Greif als dramatischer Dichter.

„Ulfelot." Allein wie uns- dünkt, ist hier ein großer Aufwand dichterischer
Kraft an einen im Grunde doch widerwärtigen Stoff gewendet, wenn auch
grausige, auf rohen Effekt und Sinnenkitzel berechnete Szenen durchaus ver¬
mieden sind. Dennoch hat Greif auch hier mächtige Wirkungen erzielt. So ist
der ganze dritte Alt — die Planung und Nussnhrung des Mnttermordes —
wahrhaft großartig. Und geradezu erschütternd wirkt der vierte Akt, sonst die
Achillesferse der Dramatiker. Zur ersten Szene, welche das Ausbrechen des
Wahnsinnes bei Nero schildert steht die zweite, in der eine junge Christen¬
gemeinde vorgeführt wird, in Kontrast. Der entsetzliche Cäsar hat mitten im
Sinnenrausch die Geliebte, die reizende Sünderin Poppäa, um deretwillen er
die gräßlichsten Verbrechen auf seine Seele geladen hat, niedergestoßen; von
Schauer gebannt, stehen wir noch unter dem Eindrucke, als ob der göttliche
Rächerarm plötzlich hereingriffe in den tollen Reigen der blutigen Unmenschen;
da mit einemmale sind wir all dem Entsetzlichen entrückt und sehen hoffnungs¬
voll bessere Zeiten heraufdämmern. Das wirkt nach dem berauschenden Höllen-
tanmel rein und rührend wie ferne Glockenklange; aus schwüler, verwesungduftender
Atmosphäre entronnen, atmen wir die würzige Luft des stillen Waldgebirges.
Dies alles ist von einer so schlicht erhabnen Schönheit, daß es auch auf der
Vühne unfehlbar den tiefsten Eindruck hervorrufen muß.

„Nerv" ist keine gelehrte Studie. Unverständliches ist auch für einen
Laien, der niemals in Friedländers „Sittengeschichte Roms" gelesen hat, nichts
darin. Der Verfasser ist so weit entfernt von der Manier unsrer poetisch an¬
gehauchten Philologen, daß er sogar vor einem kleinen Anachronismus nicht
zurücksehend. Es giebt poetische Anachronismen, und Greif bietet ein schönes
Beispiel eines solchen: er zeigt auf der Bühne ein leibhaftiges Bild des ge¬
kreuzigten Christus, nnr dreiunddreißig Jahre nach des Heilands Tod, obgleich
er natürlich ebensogut wie wir weiß, daß die ersten christlichen Jahrhunderte
eine bildliche Darstellung des Erlösers nicht kannten und als Götzendieners
verdammt haben würden. Nun lese man aber die Szene, und man wird ein-
gestehen, daß der Eindruck ein hochpoetischer ist, und wird am Ende jenen
Anachronismus garnicht missen wollen.

Gestalten und Farben der einzelnen Personen heben sich deutlich von
einander ab. Vor allein ragt Poppäa hervor, eine dämonische Natur,
bei tiefster Verworfenheit doch imponirend durch fast männliche Energie und
anziehend durch diabolische Grazie. Zu ihr bildet die edle Oktavia einen wohl¬
thuenden Gegensatz, die neben der für alte Schuld reuig büßenden Sklavin
Akte — einer überaus sympathischen Figur — fast einzig das gute Prinzip
vertritt. Wie rührend ist ihre verhaltne Trauer um den ermordeten Bruder!
Auch der schrecklichen Agrippina hat der Dichter große Züge verliehen, die sie
unsers Interesses vollkommen würdig machen. Der Stoff bringt es mit sich,
daß wir uus fast ausschließlich in schlechter Gesellschaft sehen. Aber in wie


Grenzboten III. 133S. 40
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[0321] Martin Greif als dramatischer Dichter. „Ulfelot." Allein wie uns- dünkt, ist hier ein großer Aufwand dichterischer Kraft an einen im Grunde doch widerwärtigen Stoff gewendet, wenn auch grausige, auf rohen Effekt und Sinnenkitzel berechnete Szenen durchaus ver¬ mieden sind. Dennoch hat Greif auch hier mächtige Wirkungen erzielt. So ist der ganze dritte Alt — die Planung und Nussnhrung des Mnttermordes — wahrhaft großartig. Und geradezu erschütternd wirkt der vierte Akt, sonst die Achillesferse der Dramatiker. Zur ersten Szene, welche das Ausbrechen des Wahnsinnes bei Nero schildert steht die zweite, in der eine junge Christen¬ gemeinde vorgeführt wird, in Kontrast. Der entsetzliche Cäsar hat mitten im Sinnenrausch die Geliebte, die reizende Sünderin Poppäa, um deretwillen er die gräßlichsten Verbrechen auf seine Seele geladen hat, niedergestoßen; von Schauer gebannt, stehen wir noch unter dem Eindrucke, als ob der göttliche Rächerarm plötzlich hereingriffe in den tollen Reigen der blutigen Unmenschen; da mit einemmale sind wir all dem Entsetzlichen entrückt und sehen hoffnungs¬ voll bessere Zeiten heraufdämmern. Das wirkt nach dem berauschenden Höllen- tanmel rein und rührend wie ferne Glockenklange; aus schwüler, verwesungduftender Atmosphäre entronnen, atmen wir die würzige Luft des stillen Waldgebirges. Dies alles ist von einer so schlicht erhabnen Schönheit, daß es auch auf der Vühne unfehlbar den tiefsten Eindruck hervorrufen muß. „Nerv" ist keine gelehrte Studie. Unverständliches ist auch für einen Laien, der niemals in Friedländers „Sittengeschichte Roms" gelesen hat, nichts darin. Der Verfasser ist so weit entfernt von der Manier unsrer poetisch an¬ gehauchten Philologen, daß er sogar vor einem kleinen Anachronismus nicht zurücksehend. Es giebt poetische Anachronismen, und Greif bietet ein schönes Beispiel eines solchen: er zeigt auf der Bühne ein leibhaftiges Bild des ge¬ kreuzigten Christus, nnr dreiunddreißig Jahre nach des Heilands Tod, obgleich er natürlich ebensogut wie wir weiß, daß die ersten christlichen Jahrhunderte eine bildliche Darstellung des Erlösers nicht kannten und als Götzendieners verdammt haben würden. Nun lese man aber die Szene, und man wird ein- gestehen, daß der Eindruck ein hochpoetischer ist, und wird am Ende jenen Anachronismus garnicht missen wollen. Gestalten und Farben der einzelnen Personen heben sich deutlich von einander ab. Vor allein ragt Poppäa hervor, eine dämonische Natur, bei tiefster Verworfenheit doch imponirend durch fast männliche Energie und anziehend durch diabolische Grazie. Zu ihr bildet die edle Oktavia einen wohl¬ thuenden Gegensatz, die neben der für alte Schuld reuig büßenden Sklavin Akte — einer überaus sympathischen Figur — fast einzig das gute Prinzip vertritt. Wie rührend ist ihre verhaltne Trauer um den ermordeten Bruder! Auch der schrecklichen Agrippina hat der Dichter große Züge verliehen, die sie unsers Interesses vollkommen würdig machen. Der Stoff bringt es mit sich, daß wir uus fast ausschließlich in schlechter Gesellschaft sehen. Aber in wie Grenzboten III. 133S. 40

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/321>, abgerufen am 01.09.2024.