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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Martin Greif als dramatischer Dichter.

fichtige nur das erschütternde Schicksal eines großangelegten Menschen, sein ver¬
gebliches Ringen gegen die vereinten Möchte des feindlichen Geschickes, der
eignen Schuld und der schleichenden Intrigue, vor uns aufzudecken, und dies
ist ihm in bewundernswerter Weise gelungen. Die banalen Schulbegrisfe von
Schuld und Sühne wollen freilich auf das merkwürdige Stück nicht ganz Passen,
auch gegen das klassische Gewand des fünffüßigen Jambus sträubt sich die ur¬
wüchsige, aber noch ein wenig ungelenke Kraft des Dichters. Nur hieran aber
merkt man, daß man einen Erstling vor sich hat, außerdem vielleicht noch an
gewissen hastigen Übergängen der Stimmung und an einer hin und wieder zu
deutlichen Motivirung; im übrigen ist alles mit reifer Kunst geschaffen. Wie
der Held, so lebt auch jede der Nebenpersonen ihr eigenartiges Dasein; die edle,
aufopfernde Leonore, der König, "ein Schwachkopf, doch gescheit genug zur
Tücke," der schlaue, kalt berechnende Schlippenbach, die eitle, intrigante Königin,
der erbärmliche Sehftcdt, der jugendschöne und jugendreine Christian, der harm¬
los vertrauende, so schändlich geopferte Wind -- alles dies sind keine Mario¬
netten, keine herkömmlichen Theatertypen, sondern scharf nmrisfene, lebenswahre
Charaktere. Und ebenso sicher wie in der Charakteristik zeigt sich der Verfasser
in der dramatischen Technik. Die Schürzung des Knotens im Vorspiel, die
Führung der Handlung, der ganze Aufbau ist untadelhaft. Nie ruht die Hand¬
lung; in Monologen, häufiger in Zwiegesprächen, noch lieber in prächtig grup-
pirten Massenszenen schreitet sie vorwärts. Von letzteren ist namentlich die
Neichstagsszene im dritten Akte eine der wirkungsvollsten, welche die deutsche
Bühne besitzt. Wohl gemerkt, nicht mit einem bloß äußerlichen Geschick, mit
einer gewandt angeeigneten Routine haben wir es zu thun; nicht mit kleinen,
schlanberechneteu Kunstgriffen giebt sich der Dichter ab; sogenannte Knalleffekte,
brillante Abgänge :e. sind sogar wie geflissentlich vermieden. Die Wirkung be¬
ruht lediglich auf dem großen dramatischen Zuge, der alles durchweht, auf der
meisterlichen Charakterisirung, auf der Naturnotwendigkeit der Handlung und
-- nicht zu vergessen -- auf dem Reichtums an poetischem Detail, der selbst
die kleinste Szene in eine poetische Sphäre hebt. Welch tiefe Blicke in des
Helden Seele eröffnen uns die Monologe Ulfcldts! Welch ein unvergleichliches
Meisterstück eines Botenbcrichtes ist die großartige Erzählung des Kundschafters
im vierten Akte!

Es ist uns unbekannt, ob Corsiz Ulfeldt auf der Bühne Glück gehabt hat;
aber es scheint doch so, sonst hätte Wohl Meister Laube nicht schon nach Jahres¬
frist Greiff zweite Tragödie "Nerv" im Wiener Stadttheater aufführen lassen.
Der Dichter hat dann dankbaren Sinnes die Buchausgabe des Dramas dem
greifen Dramaturgen, der offenbar große Stücke auf ihn hielt, gewidmet. Einen
Fortschritt bezeichnet "Nero" insofern, als die Sprache, obgleich nicht immer
korrekt, reicheren Fluß und weicheren Tonfall gewonnen hat, wie dieses Drama
denn überhaupt an rein poetischen Schönheiten noch mehr aufweist als der


Martin Greif als dramatischer Dichter.

fichtige nur das erschütternde Schicksal eines großangelegten Menschen, sein ver¬
gebliches Ringen gegen die vereinten Möchte des feindlichen Geschickes, der
eignen Schuld und der schleichenden Intrigue, vor uns aufzudecken, und dies
ist ihm in bewundernswerter Weise gelungen. Die banalen Schulbegrisfe von
Schuld und Sühne wollen freilich auf das merkwürdige Stück nicht ganz Passen,
auch gegen das klassische Gewand des fünffüßigen Jambus sträubt sich die ur¬
wüchsige, aber noch ein wenig ungelenke Kraft des Dichters. Nur hieran aber
merkt man, daß man einen Erstling vor sich hat, außerdem vielleicht noch an
gewissen hastigen Übergängen der Stimmung und an einer hin und wieder zu
deutlichen Motivirung; im übrigen ist alles mit reifer Kunst geschaffen. Wie
der Held, so lebt auch jede der Nebenpersonen ihr eigenartiges Dasein; die edle,
aufopfernde Leonore, der König, „ein Schwachkopf, doch gescheit genug zur
Tücke," der schlaue, kalt berechnende Schlippenbach, die eitle, intrigante Königin,
der erbärmliche Sehftcdt, der jugendschöne und jugendreine Christian, der harm¬
los vertrauende, so schändlich geopferte Wind — alles dies sind keine Mario¬
netten, keine herkömmlichen Theatertypen, sondern scharf nmrisfene, lebenswahre
Charaktere. Und ebenso sicher wie in der Charakteristik zeigt sich der Verfasser
in der dramatischen Technik. Die Schürzung des Knotens im Vorspiel, die
Führung der Handlung, der ganze Aufbau ist untadelhaft. Nie ruht die Hand¬
lung; in Monologen, häufiger in Zwiegesprächen, noch lieber in prächtig grup-
pirten Massenszenen schreitet sie vorwärts. Von letzteren ist namentlich die
Neichstagsszene im dritten Akte eine der wirkungsvollsten, welche die deutsche
Bühne besitzt. Wohl gemerkt, nicht mit einem bloß äußerlichen Geschick, mit
einer gewandt angeeigneten Routine haben wir es zu thun; nicht mit kleinen,
schlanberechneteu Kunstgriffen giebt sich der Dichter ab; sogenannte Knalleffekte,
brillante Abgänge :e. sind sogar wie geflissentlich vermieden. Die Wirkung be¬
ruht lediglich auf dem großen dramatischen Zuge, der alles durchweht, auf der
meisterlichen Charakterisirung, auf der Naturnotwendigkeit der Handlung und
— nicht zu vergessen — auf dem Reichtums an poetischem Detail, der selbst
die kleinste Szene in eine poetische Sphäre hebt. Welch tiefe Blicke in des
Helden Seele eröffnen uns die Monologe Ulfcldts! Welch ein unvergleichliches
Meisterstück eines Botenbcrichtes ist die großartige Erzählung des Kundschafters
im vierten Akte!

Es ist uns unbekannt, ob Corsiz Ulfeldt auf der Bühne Glück gehabt hat;
aber es scheint doch so, sonst hätte Wohl Meister Laube nicht schon nach Jahres¬
frist Greiff zweite Tragödie „Nerv" im Wiener Stadttheater aufführen lassen.
Der Dichter hat dann dankbaren Sinnes die Buchausgabe des Dramas dem
greifen Dramaturgen, der offenbar große Stücke auf ihn hielt, gewidmet. Einen
Fortschritt bezeichnet „Nero" insofern, als die Sprache, obgleich nicht immer
korrekt, reicheren Fluß und weicheren Tonfall gewonnen hat, wie dieses Drama
denn überhaupt an rein poetischen Schönheiten noch mehr aufweist als der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/320>, abgerufen am 01.09.2024.