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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Analekten zur Geschichte der neuern deutschen 'Kunst.

erregten, ein überaus großes, so überstieg der Beifall, den sie am Ende des
Jahres in der preußischen Hauptstadt fanden, alles bisher dagewesene. An¬
fänglich in den wenig günstigen Räumen des Akademiegebäudes aufgestellt,
wurden sie auf Befehl des Königs in die Rotunde des Museums gebracht, wo
freilich die Beleuchtung auch noch viel zu wünschen übrig ließ. Nichtsdesto¬
weniger drängte sich die ganze Schaar der Berliner Kunstfreunde zu ihrer Be¬
sichtigung; sie wurden das Gespräch des Tages, und der Austausch der Mei¬
nungen über die Vorzüge und Mängel der "belgischen Bilder" erfolgte mit
ungewöhnlicher Lebendigkeit. Selbst Lessings "Huß," der zum Beginn der Aus¬
stellung am meisten die Aufmerksamkeit der Besucher gefesselt hatte, vermochte
sich den später eingetroffn"! historischen Schilderungen der Belgier gegenüber
nicht zu behaupten. Wir werden uns daher nicht wundern, daß, als Cornelius,
der erst kurz zuvor von München nach Berlin übergesiedelt war, im folgenden
Herbste daselbst sein erstes Ölgemälde, "Christus in der Vorhölle," zur all¬
gemeinen Besichtigung brachte, dasselbe fast keine Beachtung fand und, wo es
beachtet wurde, nur herben Tadel erfuhr.

Wie wenig das Haupt der Münchener Schule seinerseits mit den Leistungen
der Belgier einverstanden war, wie sehr ihn die allgemeine Begeisterung der Ber¬
liner empörte, da er hier nur Abwege von der wahren Kunst erblickte, ist aus Ernst
Försters Darstellung zur Genüge bekannt und braucht hier nicht wiederholt zu
werden. Viel anerkennender verhielt sich der alte Gottfried Schadow, dem, wie
den meisten Berliner Künstlern, "die Harmonie der Farben und die Herzhaftig-
keit der Pinselführung" gewaltig imponirten. Der Eindruck von Gallaits und
de Bivfrcs Gemälden anf die Künstler war so mächtig, daß sie selbst das Beste
ihrer deutschen Landsleute unterschätzten und einer der ersten unter ihnen "sich
sehr scharf für die Belgier und sehr scharf gegen Lessing äußerte."

Alle warnenden Stimmen verhallten ungehört in dem Lärm des Beifalls,
den die Belgier fanden. Man hielt sich an die Aussprüche der Kritiker, die im
Grunde nnr die allgemeine Stimmung der Künstler und des Publikums wieder-
tönen ließen. Das "Kunstblatt," welches damals unter Ernst Försters Leitung
als Beiblatt zu Cottas Morgenblatt in Stuttgart erschien und bisher durchaus
die Tendenzen der Münchener vertreten hatte, mußte dazu dienen, den Enthusias¬
mus der Berliner in Deutschland zu verbreiten. Jakob Burckhardt, welcher
schon im Jahre 1841 die beiden Werke Gallaits und de Bieres in Brüssel
gesehen und auf ihre Bedeutung hingewiesen hatte, erklärte sich mit geringen
Einschränkungen für die von ihnen vertretenen Grundsätze der realistischen Kunst.
In folgender Weise ließ er sich in seinem Berichte über die Berliner Ausstellung
vernehmen:

Aller Maßstab siel den Zuschauern aus den Händen, als mit Anfang No¬
vember unvermutet die zwei belgischen Bilder aufgestellt wurden. . . . Ein dichter
Schwarm steht seitdem tagtäglich vor den beiden Werken und streitet laut, ob die


Analekten zur Geschichte der neuern deutschen 'Kunst.

erregten, ein überaus großes, so überstieg der Beifall, den sie am Ende des
Jahres in der preußischen Hauptstadt fanden, alles bisher dagewesene. An¬
fänglich in den wenig günstigen Räumen des Akademiegebäudes aufgestellt,
wurden sie auf Befehl des Königs in die Rotunde des Museums gebracht, wo
freilich die Beleuchtung auch noch viel zu wünschen übrig ließ. Nichtsdesto¬
weniger drängte sich die ganze Schaar der Berliner Kunstfreunde zu ihrer Be¬
sichtigung; sie wurden das Gespräch des Tages, und der Austausch der Mei¬
nungen über die Vorzüge und Mängel der „belgischen Bilder" erfolgte mit
ungewöhnlicher Lebendigkeit. Selbst Lessings „Huß," der zum Beginn der Aus¬
stellung am meisten die Aufmerksamkeit der Besucher gefesselt hatte, vermochte
sich den später eingetroffn«! historischen Schilderungen der Belgier gegenüber
nicht zu behaupten. Wir werden uns daher nicht wundern, daß, als Cornelius,
der erst kurz zuvor von München nach Berlin übergesiedelt war, im folgenden
Herbste daselbst sein erstes Ölgemälde, „Christus in der Vorhölle," zur all¬
gemeinen Besichtigung brachte, dasselbe fast keine Beachtung fand und, wo es
beachtet wurde, nur herben Tadel erfuhr.

Wie wenig das Haupt der Münchener Schule seinerseits mit den Leistungen
der Belgier einverstanden war, wie sehr ihn die allgemeine Begeisterung der Ber¬
liner empörte, da er hier nur Abwege von der wahren Kunst erblickte, ist aus Ernst
Försters Darstellung zur Genüge bekannt und braucht hier nicht wiederholt zu
werden. Viel anerkennender verhielt sich der alte Gottfried Schadow, dem, wie
den meisten Berliner Künstlern, „die Harmonie der Farben und die Herzhaftig-
keit der Pinselführung" gewaltig imponirten. Der Eindruck von Gallaits und
de Bivfrcs Gemälden anf die Künstler war so mächtig, daß sie selbst das Beste
ihrer deutschen Landsleute unterschätzten und einer der ersten unter ihnen „sich
sehr scharf für die Belgier und sehr scharf gegen Lessing äußerte."

Alle warnenden Stimmen verhallten ungehört in dem Lärm des Beifalls,
den die Belgier fanden. Man hielt sich an die Aussprüche der Kritiker, die im
Grunde nnr die allgemeine Stimmung der Künstler und des Publikums wieder-
tönen ließen. Das „Kunstblatt," welches damals unter Ernst Försters Leitung
als Beiblatt zu Cottas Morgenblatt in Stuttgart erschien und bisher durchaus
die Tendenzen der Münchener vertreten hatte, mußte dazu dienen, den Enthusias¬
mus der Berliner in Deutschland zu verbreiten. Jakob Burckhardt, welcher
schon im Jahre 1841 die beiden Werke Gallaits und de Bieres in Brüssel
gesehen und auf ihre Bedeutung hingewiesen hatte, erklärte sich mit geringen
Einschränkungen für die von ihnen vertretenen Grundsätze der realistischen Kunst.
In folgender Weise ließ er sich in seinem Berichte über die Berliner Ausstellung
vernehmen:

Aller Maßstab siel den Zuschauern aus den Händen, als mit Anfang No¬
vember unvermutet die zwei belgischen Bilder aufgestellt wurden. . . . Ein dichter
Schwarm steht seitdem tagtäglich vor den beiden Werken und streitet laut, ob die


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[0314] Analekten zur Geschichte der neuern deutschen 'Kunst. erregten, ein überaus großes, so überstieg der Beifall, den sie am Ende des Jahres in der preußischen Hauptstadt fanden, alles bisher dagewesene. An¬ fänglich in den wenig günstigen Räumen des Akademiegebäudes aufgestellt, wurden sie auf Befehl des Königs in die Rotunde des Museums gebracht, wo freilich die Beleuchtung auch noch viel zu wünschen übrig ließ. Nichtsdesto¬ weniger drängte sich die ganze Schaar der Berliner Kunstfreunde zu ihrer Be¬ sichtigung; sie wurden das Gespräch des Tages, und der Austausch der Mei¬ nungen über die Vorzüge und Mängel der „belgischen Bilder" erfolgte mit ungewöhnlicher Lebendigkeit. Selbst Lessings „Huß," der zum Beginn der Aus¬ stellung am meisten die Aufmerksamkeit der Besucher gefesselt hatte, vermochte sich den später eingetroffn«! historischen Schilderungen der Belgier gegenüber nicht zu behaupten. Wir werden uns daher nicht wundern, daß, als Cornelius, der erst kurz zuvor von München nach Berlin übergesiedelt war, im folgenden Herbste daselbst sein erstes Ölgemälde, „Christus in der Vorhölle," zur all¬ gemeinen Besichtigung brachte, dasselbe fast keine Beachtung fand und, wo es beachtet wurde, nur herben Tadel erfuhr. Wie wenig das Haupt der Münchener Schule seinerseits mit den Leistungen der Belgier einverstanden war, wie sehr ihn die allgemeine Begeisterung der Ber¬ liner empörte, da er hier nur Abwege von der wahren Kunst erblickte, ist aus Ernst Försters Darstellung zur Genüge bekannt und braucht hier nicht wiederholt zu werden. Viel anerkennender verhielt sich der alte Gottfried Schadow, dem, wie den meisten Berliner Künstlern, „die Harmonie der Farben und die Herzhaftig- keit der Pinselführung" gewaltig imponirten. Der Eindruck von Gallaits und de Bivfrcs Gemälden anf die Künstler war so mächtig, daß sie selbst das Beste ihrer deutschen Landsleute unterschätzten und einer der ersten unter ihnen „sich sehr scharf für die Belgier und sehr scharf gegen Lessing äußerte." Alle warnenden Stimmen verhallten ungehört in dem Lärm des Beifalls, den die Belgier fanden. Man hielt sich an die Aussprüche der Kritiker, die im Grunde nnr die allgemeine Stimmung der Künstler und des Publikums wieder- tönen ließen. Das „Kunstblatt," welches damals unter Ernst Försters Leitung als Beiblatt zu Cottas Morgenblatt in Stuttgart erschien und bisher durchaus die Tendenzen der Münchener vertreten hatte, mußte dazu dienen, den Enthusias¬ mus der Berliner in Deutschland zu verbreiten. Jakob Burckhardt, welcher schon im Jahre 1841 die beiden Werke Gallaits und de Bieres in Brüssel gesehen und auf ihre Bedeutung hingewiesen hatte, erklärte sich mit geringen Einschränkungen für die von ihnen vertretenen Grundsätze der realistischen Kunst. In folgender Weise ließ er sich in seinem Berichte über die Berliner Ausstellung vernehmen: Aller Maßstab siel den Zuschauern aus den Händen, als mit Anfang No¬ vember unvermutet die zwei belgischen Bilder aufgestellt wurden. . . . Ein dichter Schwarm steht seitdem tagtäglich vor den beiden Werken und streitet laut, ob die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/314>, abgerufen am 25.11.2024.