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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Hänger durch diese seine letzte größere Arbeit seine frühern Leistungen noch über¬
traf, so blieb doch die allgemeine Anerkennung, die ihm früher zur Seite ge¬
standen hatte, aus und wandte sich dem neuaufgehenden Gestirn zu. Die Zeit
war eine andre geworden. Die lange vernachlässigte realistische Kunstanffassung
machte lauter und lauter ihre Rechte geltend; mau wiederholte immer wieder
und wieder das Wort König Ludwigs: "Der Maler muß malen können"; und
wenn es früher geheißen hatte: Nach Rom und Italien! so galt jetzt das Lo¬
sungswort: Nach Antwerpen und nach Paris!

Das von Gallait und de Biöfre gegebne Beispiel fand denn auch bald
unter den deutschen Malern Nachahmung, und es währte nicht lange, so wurde
die historische Malerei nach realistischen Grundsätzen das Lieblingskind der ge¬
bildeten Laien, das auch die zünftige Ästhetik bereitwilligst unter ihre Fittiche
nahm. Man meinte, "daß sich das christliche Stoffgebiet für unsre Kunst er¬
schöpft habe und daß der geschichtliche Stoff an deren Stelle trete" müsse;
uicht die Darstellung des transzendentalen Gottes komme unsrer Zeit zu, son¬
dern des immanenten Gottes, der sich im Leben selbst in den großen Momenten
der Geschichte offenbare" (Alfred Woltmann, Aus vier Jahrhunderten, Berlin,
1878, S. 321).

Wieder war es ein Münchener, Karl von Piloty, der sowohl durch seine
eignen Schöpfungen als in noch höherem Grade durch den Einfluß, welchen er
vermöge feiner Schule gewann, den Prinzipien der Belgier einen rasch sich stei¬
gernden und geraume Zeit andauernden Beifall verschaffte und München noch
einmal eine führende Stellung in dem deutschen Kunstleben sicherte. Seine und
seiner Schüler Leistungen konnten bald den Wettkampf mit den Werken der
Belgier und Franzosen aufnehmen, ja sie übertrafen sie sogar in vielen Stücken.

Und hente? Offenbar stehen wir heute vor dem Verfall der Historienmalerei,
und kein auch uoch so wohlgemeintes Streben, nicht einmal die Verbindung für
historische Kunst, hat bis jetzt demselben Einhalt thun können.

Zwar fehlt es uns auch jetzt uoch nicht an Histvrieubilderu. Jedes Jahr
fördert eine Reihe von Gemälden zutage, die uus über einen welthistorischen
Moment belehren wollen, sei es daß sie uns den denkwürdigen Augenblick schildern,
wo eine französische Königstochter in die glückliche Lage kommt, einen Heirats¬
antrag zu erhalten, sei es daß uns die Grausamkeit, mit der ein römischer Kaiser
sich an den Qualen der Christen weidet, vor Augen gestellt wird. Und sollten
wir etwa geringen Wert legen ans die Ausfüllung der Lücken unsrer Geschichts-
kenntnisse, die uns auf diese Weise geboten wird, so gewinnen wir wenigstens
die tröstliche Überzeugung, daß unsre modernsten Historienmaler fleißig in die
Schule unsrer Opernregisseure gegangen sind.

Auch für die monumentale Malerei ist gerade gegenwärtig ein ans der
vaterländischen oder lokalen Geschichte entlehnter Stoff der am meisten will-
kommne. Bald wird keine Aula einer höhern Schule, kein Sitzungssaal eines


Hänger durch diese seine letzte größere Arbeit seine frühern Leistungen noch über¬
traf, so blieb doch die allgemeine Anerkennung, die ihm früher zur Seite ge¬
standen hatte, aus und wandte sich dem neuaufgehenden Gestirn zu. Die Zeit
war eine andre geworden. Die lange vernachlässigte realistische Kunstanffassung
machte lauter und lauter ihre Rechte geltend; mau wiederholte immer wieder
und wieder das Wort König Ludwigs: „Der Maler muß malen können"; und
wenn es früher geheißen hatte: Nach Rom und Italien! so galt jetzt das Lo¬
sungswort: Nach Antwerpen und nach Paris!

Das von Gallait und de Biöfre gegebne Beispiel fand denn auch bald
unter den deutschen Malern Nachahmung, und es währte nicht lange, so wurde
die historische Malerei nach realistischen Grundsätzen das Lieblingskind der ge¬
bildeten Laien, das auch die zünftige Ästhetik bereitwilligst unter ihre Fittiche
nahm. Man meinte, „daß sich das christliche Stoffgebiet für unsre Kunst er¬
schöpft habe und daß der geschichtliche Stoff an deren Stelle trete» müsse;
uicht die Darstellung des transzendentalen Gottes komme unsrer Zeit zu, son¬
dern des immanenten Gottes, der sich im Leben selbst in den großen Momenten
der Geschichte offenbare" (Alfred Woltmann, Aus vier Jahrhunderten, Berlin,
1878, S. 321).

Wieder war es ein Münchener, Karl von Piloty, der sowohl durch seine
eignen Schöpfungen als in noch höherem Grade durch den Einfluß, welchen er
vermöge feiner Schule gewann, den Prinzipien der Belgier einen rasch sich stei¬
gernden und geraume Zeit andauernden Beifall verschaffte und München noch
einmal eine führende Stellung in dem deutschen Kunstleben sicherte. Seine und
seiner Schüler Leistungen konnten bald den Wettkampf mit den Werken der
Belgier und Franzosen aufnehmen, ja sie übertrafen sie sogar in vielen Stücken.

Und hente? Offenbar stehen wir heute vor dem Verfall der Historienmalerei,
und kein auch uoch so wohlgemeintes Streben, nicht einmal die Verbindung für
historische Kunst, hat bis jetzt demselben Einhalt thun können.

Zwar fehlt es uns auch jetzt uoch nicht an Histvrieubilderu. Jedes Jahr
fördert eine Reihe von Gemälden zutage, die uus über einen welthistorischen
Moment belehren wollen, sei es daß sie uns den denkwürdigen Augenblick schildern,
wo eine französische Königstochter in die glückliche Lage kommt, einen Heirats¬
antrag zu erhalten, sei es daß uns die Grausamkeit, mit der ein römischer Kaiser
sich an den Qualen der Christen weidet, vor Augen gestellt wird. Und sollten
wir etwa geringen Wert legen ans die Ausfüllung der Lücken unsrer Geschichts-
kenntnisse, die uns auf diese Weise geboten wird, so gewinnen wir wenigstens
die tröstliche Überzeugung, daß unsre modernsten Historienmaler fleißig in die
Schule unsrer Opernregisseure gegangen sind.

Auch für die monumentale Malerei ist gerade gegenwärtig ein ans der
vaterländischen oder lokalen Geschichte entlehnter Stoff der am meisten will-
kommne. Bald wird keine Aula einer höhern Schule, kein Sitzungssaal eines


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[0311] Hänger durch diese seine letzte größere Arbeit seine frühern Leistungen noch über¬ traf, so blieb doch die allgemeine Anerkennung, die ihm früher zur Seite ge¬ standen hatte, aus und wandte sich dem neuaufgehenden Gestirn zu. Die Zeit war eine andre geworden. Die lange vernachlässigte realistische Kunstanffassung machte lauter und lauter ihre Rechte geltend; mau wiederholte immer wieder und wieder das Wort König Ludwigs: „Der Maler muß malen können"; und wenn es früher geheißen hatte: Nach Rom und Italien! so galt jetzt das Lo¬ sungswort: Nach Antwerpen und nach Paris! Das von Gallait und de Biöfre gegebne Beispiel fand denn auch bald unter den deutschen Malern Nachahmung, und es währte nicht lange, so wurde die historische Malerei nach realistischen Grundsätzen das Lieblingskind der ge¬ bildeten Laien, das auch die zünftige Ästhetik bereitwilligst unter ihre Fittiche nahm. Man meinte, „daß sich das christliche Stoffgebiet für unsre Kunst er¬ schöpft habe und daß der geschichtliche Stoff an deren Stelle trete» müsse; uicht die Darstellung des transzendentalen Gottes komme unsrer Zeit zu, son¬ dern des immanenten Gottes, der sich im Leben selbst in den großen Momenten der Geschichte offenbare" (Alfred Woltmann, Aus vier Jahrhunderten, Berlin, 1878, S. 321). Wieder war es ein Münchener, Karl von Piloty, der sowohl durch seine eignen Schöpfungen als in noch höherem Grade durch den Einfluß, welchen er vermöge feiner Schule gewann, den Prinzipien der Belgier einen rasch sich stei¬ gernden und geraume Zeit andauernden Beifall verschaffte und München noch einmal eine führende Stellung in dem deutschen Kunstleben sicherte. Seine und seiner Schüler Leistungen konnten bald den Wettkampf mit den Werken der Belgier und Franzosen aufnehmen, ja sie übertrafen sie sogar in vielen Stücken. Und hente? Offenbar stehen wir heute vor dem Verfall der Historienmalerei, und kein auch uoch so wohlgemeintes Streben, nicht einmal die Verbindung für historische Kunst, hat bis jetzt demselben Einhalt thun können. Zwar fehlt es uns auch jetzt uoch nicht an Histvrieubilderu. Jedes Jahr fördert eine Reihe von Gemälden zutage, die uus über einen welthistorischen Moment belehren wollen, sei es daß sie uns den denkwürdigen Augenblick schildern, wo eine französische Königstochter in die glückliche Lage kommt, einen Heirats¬ antrag zu erhalten, sei es daß uns die Grausamkeit, mit der ein römischer Kaiser sich an den Qualen der Christen weidet, vor Augen gestellt wird. Und sollten wir etwa geringen Wert legen ans die Ausfüllung der Lücken unsrer Geschichts- kenntnisse, die uns auf diese Weise geboten wird, so gewinnen wir wenigstens die tröstliche Überzeugung, daß unsre modernsten Historienmaler fleißig in die Schule unsrer Opernregisseure gegangen sind. Auch für die monumentale Malerei ist gerade gegenwärtig ein ans der vaterländischen oder lokalen Geschichte entlehnter Stoff der am meisten will- kommne. Bald wird keine Aula einer höhern Schule, kein Sitzungssaal eines

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/311>, abgerufen am 25.11.2024.