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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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alles nur in der Form lng. In der That, die Zivilprozeßordnung gleicht einem
Gebäude mit schöner Fassade; wer es von außen betrachtet, wird entzückt sein
über die Symmetrie seines Baues, über das Gleichmaß seiner Glieder, über die
Zierraten und das Stückwerk. Aber hinter dieser schönen Fassade birgt sich ein
unsolider Ban, der Grundriß ist verfehlt, die Fundamente sind morsch, die Wohn¬
räume eng und feucht, und wer sich von dem Scheine locken läßt und eintritt,
der "lasse alle Hoffnung draußen/' Aber ganz war doch auch Minister Leon-
hardt seines Wertes nicht sicher, ja er hat in offner Reichstagssitzung ausge¬
sprochen, daß er nur mit Zagen das Werk vollendet sehe und gewünscht haben
würde, daß man es mit weniger Lob und mehr Bedenken behandelt hätte.

Die Zivilprozeßordnung trägt alle Merkmale jeuer Epoche in sich, die man
jetzt mit dem Namen Delbrücks, als des leitenden innern Ministers, bezeichnet;
derselbe Bankerott, den seine Wirtschaftspolitik erfahren hat, droht auch der
juristischen Reform. Es war jene Zeit, in welcher Fürst Bismarck, ganz von
Sorgen um die äußere Politik, um die Erhaltung des Friedens, um die Kräf¬
tigung des jungen Reiches in Anspruch genommen, die Zügel des Sonnen¬
wagens im Innern andern Kräften anvertrauen mußte, die ihrer Aufgabe uicht
gewachsen waren. Wie kein andrer, versteht er in der Volksseele zu lesen, und so
hoffen wir, daß er sich jetzt auch dieser Zustände erbarmen werde. Denn auch der
"Hödur" ist sehend geworden und läßt sich nach den trüben Erfahrungen der
letzten Jahre nicht mehr von der Phrase blenden; wir sind überzeugt, daß,
wenn die Sache länger so fortgeht, die Frage nach der Reform der Zivilproze߬
ordnung zur Parteifrage werden wird, und daß die Reform, zum Gegenstände
der Parteiagitation geworden, viel weniger sachgemäß durchgeführt werden kaun,
als wenn eine wohlbcratene Regierung die Führerrolle übernimmt.

Es liegt nicht in der Bährschcn Aufgabe, Vorschläge zur Abänderung zu
machen; aber aus dem ganzen Buche atmet nur der eine Gedanke, daß der preu¬
ßische Prozeß es war, der am meisten befriedigte, er ist das Hoffnuugslcmd,
das er mit der Seele sucht. Dieses Urteil ist aber von umso größerm Gewicht,
als es von einem Manne stammt, der nicht Altprcuße ist, dem man also eine
Partiknlaristische Befangenheit nicht vorwerfen kann, von einem Manne, der die
Zierde von vier obersten Gerichtshöfen gewesen ist, der sich in Theorie und Praxis
des höchsten Ansehens erfreut und jetzt außerhalb des politischen Lebens stehend
die Sache nicht von den Zinnen der Partei, sondern von dem Standpunkte des
Patrioten auffaßt, welchem die Not des Volkes zu Herzen geht.

Es mag sein, daß es bei den gegenwärtigen Parteiverhältnissen im Reichs¬
tage uicht mehr leicht ist, ein großes Gesetzgebungswerk zustande zu bringen.
Aber gerade auf diesem Gebiete werden die Fraktionen schieben müssen, um nicht
geschoben zu werden. Selten hatten die höchsten Leiter der Justiz eine dank¬
barere Aufgabe, und selbst wenn sie die Reform uicht durchführen konnten, sollten sie
sich den Ruhm, sie angeregt zu haben, bei Mit- und Nachwelt zu erwerben streben.




alles nur in der Form lng. In der That, die Zivilprozeßordnung gleicht einem
Gebäude mit schöner Fassade; wer es von außen betrachtet, wird entzückt sein
über die Symmetrie seines Baues, über das Gleichmaß seiner Glieder, über die
Zierraten und das Stückwerk. Aber hinter dieser schönen Fassade birgt sich ein
unsolider Ban, der Grundriß ist verfehlt, die Fundamente sind morsch, die Wohn¬
räume eng und feucht, und wer sich von dem Scheine locken läßt und eintritt,
der „lasse alle Hoffnung draußen/' Aber ganz war doch auch Minister Leon-
hardt seines Wertes nicht sicher, ja er hat in offner Reichstagssitzung ausge¬
sprochen, daß er nur mit Zagen das Werk vollendet sehe und gewünscht haben
würde, daß man es mit weniger Lob und mehr Bedenken behandelt hätte.

Die Zivilprozeßordnung trägt alle Merkmale jeuer Epoche in sich, die man
jetzt mit dem Namen Delbrücks, als des leitenden innern Ministers, bezeichnet;
derselbe Bankerott, den seine Wirtschaftspolitik erfahren hat, droht auch der
juristischen Reform. Es war jene Zeit, in welcher Fürst Bismarck, ganz von
Sorgen um die äußere Politik, um die Erhaltung des Friedens, um die Kräf¬
tigung des jungen Reiches in Anspruch genommen, die Zügel des Sonnen¬
wagens im Innern andern Kräften anvertrauen mußte, die ihrer Aufgabe uicht
gewachsen waren. Wie kein andrer, versteht er in der Volksseele zu lesen, und so
hoffen wir, daß er sich jetzt auch dieser Zustände erbarmen werde. Denn auch der
„Hödur" ist sehend geworden und läßt sich nach den trüben Erfahrungen der
letzten Jahre nicht mehr von der Phrase blenden; wir sind überzeugt, daß,
wenn die Sache länger so fortgeht, die Frage nach der Reform der Zivilproze߬
ordnung zur Parteifrage werden wird, und daß die Reform, zum Gegenstände
der Parteiagitation geworden, viel weniger sachgemäß durchgeführt werden kaun,
als wenn eine wohlbcratene Regierung die Führerrolle übernimmt.

Es liegt nicht in der Bährschcn Aufgabe, Vorschläge zur Abänderung zu
machen; aber aus dem ganzen Buche atmet nur der eine Gedanke, daß der preu¬
ßische Prozeß es war, der am meisten befriedigte, er ist das Hoffnuugslcmd,
das er mit der Seele sucht. Dieses Urteil ist aber von umso größerm Gewicht,
als es von einem Manne stammt, der nicht Altprcuße ist, dem man also eine
Partiknlaristische Befangenheit nicht vorwerfen kann, von einem Manne, der die
Zierde von vier obersten Gerichtshöfen gewesen ist, der sich in Theorie und Praxis
des höchsten Ansehens erfreut und jetzt außerhalb des politischen Lebens stehend
die Sache nicht von den Zinnen der Partei, sondern von dem Standpunkte des
Patrioten auffaßt, welchem die Not des Volkes zu Herzen geht.

Es mag sein, daß es bei den gegenwärtigen Parteiverhältnissen im Reichs¬
tage uicht mehr leicht ist, ein großes Gesetzgebungswerk zustande zu bringen.
Aber gerade auf diesem Gebiete werden die Fraktionen schieben müssen, um nicht
geschoben zu werden. Selten hatten die höchsten Leiter der Justiz eine dank¬
barere Aufgabe, und selbst wenn sie die Reform uicht durchführen konnten, sollten sie
sich den Ruhm, sie angeregt zu haben, bei Mit- und Nachwelt zu erwerben streben.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/309>, abgerufen am 25.11.2024.