Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.Der deutsche Zivilprozeß in praktischer Bethätigung. Daß aber eine solche Vielgestaltung gerade in den Hauptgrundlagen der Der deutsche Zivilprozeß in praktischer Bethätigung. Daß aber eine solche Vielgestaltung gerade in den Hauptgrundlagen der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0306" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196406"/> <fw type="header" place="top"> Der deutsche Zivilprozeß in praktischer Bethätigung.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1229" next="#ID_1230"> Daß aber eine solche Vielgestaltung gerade in den Hauptgrundlagen der<lb/> Rechtsanwendung möglich ist, liegt in den Vorschriften, mit welchen die Zivil¬<lb/> prozeßordnung Mündlichkeit und Schriftlichkeit nebeneinander setzte, ohne sie<lb/> organisch miteinander zu verschmelzen. Es würde zu weit führen, dies im<lb/> einzelnen auseinanderzusetzen — wer dies verfolgen will, mag Bahrs Aus¬<lb/> führungen nachlesen. Heute liegt die Sache so, daß niemand sicher ist, ob seine<lb/> Darstellung auch wirklich vom Richter geprüft wird. Früher mußte der Richter<lb/> auf die Schriftsätze der Parteien eingehen, und wenn er es nicht that, so war<lb/> die Partei doch sicher, daß der höhere Richter dieses Versehen gutmachen würde.<lb/> Jetzt sind die Schriftsätze völlig Nebensache; der Thatbestand, die Grundlage<lb/> der richterlichen Entscheidung, ist dem Einflüsse der Parteien entzogen. Der<lb/> Richter macht ihn auf Grund seiner Notizen in der mündlichen Verhandlung,<lb/> und es bedarf keiner Ausführung, daß ein solcher Thatbestand nur mangelhaft<lb/> das wiedergiebt, was die Partei wirklich gewollt hat. Die Schrift ist nicht um¬<lb/> sonst ein kostbares Gut menschlicher Bildung; jedermann weiß, welchen Wert<lb/> es hat, seine Gedanken zu fixiren. Bei allen wichtigen Verhandlungen im<lb/> öffentlichen und privaten Leben bedienen wir uns der Schriftform, um uns<lb/> eine sichere Grundlage zu verschaffen. Nur der Zivilprozeß ist in Deutschland<lb/> so gestaltet wordeu, als ob die Bevölkerung aus lauter Analphabeten bestünde und<lb/> die Schriftkunde wie bei den alten Ägyptern nur das Geheimnis weniger sei.<lb/> Nach dem frühern altpreußischen Prozesse mußte in jeder Verhandlung ein<lb/> Mitglied als Referent und der Vorsitzende die Sache gründlich studiren, der<lb/> erste sogar eine schriftliche Darstellung der Parteivvrträge und seine Rechts¬<lb/> auffassung ausarbeiten. Die Parteien hörten den Vortrag des Thatbestandes<lb/> in der mündlichen Verhandlung und konnten sofort Unrichtigkeiten berichtigen.<lb/> Das dritte Mitglied konnte sich in der Verhandlung ebensogut informiren, wie<lb/> jetzt aus den Vorträgen der Anwälte; gegenüber den beiden gut vorbereiteten<lb/> Kollegen gab seine Stimme nur den Ausschlag bei Differenzen. Jetzt dagegen<lb/> braucht kein Mitglied vorbereitet zu sein, und ist es auch in der Regel bei<lb/> vielen Gerichten nicht; alle sollen ihre Weisheit aus den Vortrügen der Rcchts-<lb/> anwültc schöpfen, und jedermann weiß, wieviel schwieriger es ist, aus einem<lb/> nur mündlichen Vortrage — der noch dazu parteiisch gefärbt sein muß — sich<lb/> seine Rechtsauffassung zu bilden. Die Folge davon ist, daß an Stelle der<lb/> frühern Sicherheit eine schrankenlose Willkür eingetreten und jeder Prozeß mehr<lb/> oder weniger zu einem Würfelspiel herabgesunken ist. Zu dieser Willkür in<lb/> der Gestaltung des Prvzeßstvfses tritt dann noch das freie Ermessen, d. h. eine<lb/> Willkür zweiten Grades, bei der Beurteilung des Beweises, und nach beiden<lb/> Richtungen ist eine Remedur durch die ober» Instanzen unmöglich. Selbst wenn<lb/> Schriftsätze gewechselt worden sind und der obere Richter sieht, daß dieselben den<lb/> Thatbestand ganz anders darstellen, als es der erste Richter gethan, er darf<lb/> auf die erstern keine Rücksicht nehmen. Bei den Amtsgerichten endlich muß</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0306]
Der deutsche Zivilprozeß in praktischer Bethätigung.
Daß aber eine solche Vielgestaltung gerade in den Hauptgrundlagen der
Rechtsanwendung möglich ist, liegt in den Vorschriften, mit welchen die Zivil¬
prozeßordnung Mündlichkeit und Schriftlichkeit nebeneinander setzte, ohne sie
organisch miteinander zu verschmelzen. Es würde zu weit führen, dies im
einzelnen auseinanderzusetzen — wer dies verfolgen will, mag Bahrs Aus¬
führungen nachlesen. Heute liegt die Sache so, daß niemand sicher ist, ob seine
Darstellung auch wirklich vom Richter geprüft wird. Früher mußte der Richter
auf die Schriftsätze der Parteien eingehen, und wenn er es nicht that, so war
die Partei doch sicher, daß der höhere Richter dieses Versehen gutmachen würde.
Jetzt sind die Schriftsätze völlig Nebensache; der Thatbestand, die Grundlage
der richterlichen Entscheidung, ist dem Einflüsse der Parteien entzogen. Der
Richter macht ihn auf Grund seiner Notizen in der mündlichen Verhandlung,
und es bedarf keiner Ausführung, daß ein solcher Thatbestand nur mangelhaft
das wiedergiebt, was die Partei wirklich gewollt hat. Die Schrift ist nicht um¬
sonst ein kostbares Gut menschlicher Bildung; jedermann weiß, welchen Wert
es hat, seine Gedanken zu fixiren. Bei allen wichtigen Verhandlungen im
öffentlichen und privaten Leben bedienen wir uns der Schriftform, um uns
eine sichere Grundlage zu verschaffen. Nur der Zivilprozeß ist in Deutschland
so gestaltet wordeu, als ob die Bevölkerung aus lauter Analphabeten bestünde und
die Schriftkunde wie bei den alten Ägyptern nur das Geheimnis weniger sei.
Nach dem frühern altpreußischen Prozesse mußte in jeder Verhandlung ein
Mitglied als Referent und der Vorsitzende die Sache gründlich studiren, der
erste sogar eine schriftliche Darstellung der Parteivvrträge und seine Rechts¬
auffassung ausarbeiten. Die Parteien hörten den Vortrag des Thatbestandes
in der mündlichen Verhandlung und konnten sofort Unrichtigkeiten berichtigen.
Das dritte Mitglied konnte sich in der Verhandlung ebensogut informiren, wie
jetzt aus den Vorträgen der Anwälte; gegenüber den beiden gut vorbereiteten
Kollegen gab seine Stimme nur den Ausschlag bei Differenzen. Jetzt dagegen
braucht kein Mitglied vorbereitet zu sein, und ist es auch in der Regel bei
vielen Gerichten nicht; alle sollen ihre Weisheit aus den Vortrügen der Rcchts-
anwültc schöpfen, und jedermann weiß, wieviel schwieriger es ist, aus einem
nur mündlichen Vortrage — der noch dazu parteiisch gefärbt sein muß — sich
seine Rechtsauffassung zu bilden. Die Folge davon ist, daß an Stelle der
frühern Sicherheit eine schrankenlose Willkür eingetreten und jeder Prozeß mehr
oder weniger zu einem Würfelspiel herabgesunken ist. Zu dieser Willkür in
der Gestaltung des Prvzeßstvfses tritt dann noch das freie Ermessen, d. h. eine
Willkür zweiten Grades, bei der Beurteilung des Beweises, und nach beiden
Richtungen ist eine Remedur durch die ober» Instanzen unmöglich. Selbst wenn
Schriftsätze gewechselt worden sind und der obere Richter sieht, daß dieselben den
Thatbestand ganz anders darstellen, als es der erste Richter gethan, er darf
auf die erstern keine Rücksicht nehmen. Bei den Amtsgerichten endlich muß
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