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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Der deutsche Zivilprozeß in praktischer Bethätigung.

Abgesehen von einzelnen kleiner" Bundesstaaten, in denen noch der alte
gemeinrechtliche Prozeß mit seiner ganzen Weitschweifigkeit und Dauer als Überrest
des alten Reiches in Blüte stand, war man in Deutschland mit dem frühern
Zivilprozeß zufrieden. Die reichern Provinzen am Rhein und Elsaß-Lothringen
kannten es nicht besser, für sie war ein Prozeß ein Luxus, den sich mir der
Vermögendere gönnen konnte. In Altpreußen aber konnte sich das Volk über
nichts beklagen. Jedermann hatte Zutritt zu seinem Richter, kein Anwaltszwang
versperrte dem Minderbegüterten den Weg; der Richter behielt die ganze Leitung
des Prozesses in seinen Händen, kein Gerichtsvollzieher war nötig, um den
Verkehr unter den Parteien zu vermitteln und um das Urteil zu vollstrecken.
Jeder konnte sicher sein, daß alles, was er dem Richter vorbrachte, auch Gegenstand
des richterlichen Urteils war. Die Mängel, welche der altpreußische Prozeß
hatte, waren mit einigen Federstrichen zu beseitigen. Sie bestanden vom wirt¬
schaftlichen Standpunkte eigentlich nur darin, daß es keine sofortige Voll¬
streckbarkeit und kein Teilnrteil gab, sodaß also ein böswilliger Schuldner in der
Lage war, sich seiner Verpflichtung recht lange zu entziehen. Es hätte kaum
zweier Paragraphen bedurft, um diese Übelstände zu beseitigen, und bei allem
Vorurteil gegen altpreußische Einrichtungen würde auch das übrige Deutschland
bald ihren Wert eingesehen und sich ihrer Segnungen erfreut haben.

Der Wunsch nach einer einheitlichen Regelung des Zivilprozesses war schon
vor der Entstehung des neuen Reiches in der Bevölkerung rege, und es war
deshalb nur allzunatürlich, daß diese Bestrebungen nach der erfolgten Einigung
zur Verwirklichung gelangten. Es ist auch zu erklären, wenn, um eine" ein¬
heitlichen Prozeß zu erlangen, einzelne Opfer gebracht wurden, und wenn sich der
einzelne Bundesstaat damit tröstete, daß er manches Sondergut aufgeben mußte,
in der Hoffnung, eine minder gute Einheitlichkeit zu erlangen. Aber diese
Hoffnung ist völlig zusehenden geworden. Es ist das große Verdienst von
Bähr, in seiner Schrift ans das schlagendste nachgewiesen zu haben, daß trotz
der einheitlichen Zivilprozeßordnung wir dasselbe vielgestaltete Verfahren wie
vorher haben. Ja diese Mannichfaltigkeit ist noch viel größer geworden; denn
während sich früher die Gestaltung nur nach den einzelnen Rechtsgebieten schied,
ist sie jetzt nicht nnr innerhalb desselben Gebietes, sondern oft auch an dem¬
selben Gericht verschieden. Die grundlegenden Vorschriften der Zivilproze߬
ordnung sind so dehnbar, daß sich jedes Gericht und jede Kammer ihr eignes
Verfahren nach Gutdünken einrichten tonnen. Bähr hat in dieser Beziehung
eine Enquete angestellt, die, so wenig erschöpfend auch ein Privatmann eine
hoche veranstalten kann, bis zur völligen Überzeugung klarmacht, daß wir in
Deutschland einen einheitlichen Zivilprozeß weniger als je besitzen.

Alle Opfer, die Preuße" gebracht hat, sind demnach völlig umsonst ge¬
wesen; wir haben unsre altbewährten guten Einrichtungen aufgegeben, ohne die
erstrebte Einheit erreicht zu haben.


Grenzboten III. 1885. L8
Der deutsche Zivilprozeß in praktischer Bethätigung.

Abgesehen von einzelnen kleiner» Bundesstaaten, in denen noch der alte
gemeinrechtliche Prozeß mit seiner ganzen Weitschweifigkeit und Dauer als Überrest
des alten Reiches in Blüte stand, war man in Deutschland mit dem frühern
Zivilprozeß zufrieden. Die reichern Provinzen am Rhein und Elsaß-Lothringen
kannten es nicht besser, für sie war ein Prozeß ein Luxus, den sich mir der
Vermögendere gönnen konnte. In Altpreußen aber konnte sich das Volk über
nichts beklagen. Jedermann hatte Zutritt zu seinem Richter, kein Anwaltszwang
versperrte dem Minderbegüterten den Weg; der Richter behielt die ganze Leitung
des Prozesses in seinen Händen, kein Gerichtsvollzieher war nötig, um den
Verkehr unter den Parteien zu vermitteln und um das Urteil zu vollstrecken.
Jeder konnte sicher sein, daß alles, was er dem Richter vorbrachte, auch Gegenstand
des richterlichen Urteils war. Die Mängel, welche der altpreußische Prozeß
hatte, waren mit einigen Federstrichen zu beseitigen. Sie bestanden vom wirt¬
schaftlichen Standpunkte eigentlich nur darin, daß es keine sofortige Voll¬
streckbarkeit und kein Teilnrteil gab, sodaß also ein böswilliger Schuldner in der
Lage war, sich seiner Verpflichtung recht lange zu entziehen. Es hätte kaum
zweier Paragraphen bedurft, um diese Übelstände zu beseitigen, und bei allem
Vorurteil gegen altpreußische Einrichtungen würde auch das übrige Deutschland
bald ihren Wert eingesehen und sich ihrer Segnungen erfreut haben.

Der Wunsch nach einer einheitlichen Regelung des Zivilprozesses war schon
vor der Entstehung des neuen Reiches in der Bevölkerung rege, und es war
deshalb nur allzunatürlich, daß diese Bestrebungen nach der erfolgten Einigung
zur Verwirklichung gelangten. Es ist auch zu erklären, wenn, um eine» ein¬
heitlichen Prozeß zu erlangen, einzelne Opfer gebracht wurden, und wenn sich der
einzelne Bundesstaat damit tröstete, daß er manches Sondergut aufgeben mußte,
in der Hoffnung, eine minder gute Einheitlichkeit zu erlangen. Aber diese
Hoffnung ist völlig zusehenden geworden. Es ist das große Verdienst von
Bähr, in seiner Schrift ans das schlagendste nachgewiesen zu haben, daß trotz
der einheitlichen Zivilprozeßordnung wir dasselbe vielgestaltete Verfahren wie
vorher haben. Ja diese Mannichfaltigkeit ist noch viel größer geworden; denn
während sich früher die Gestaltung nur nach den einzelnen Rechtsgebieten schied,
ist sie jetzt nicht nnr innerhalb desselben Gebietes, sondern oft auch an dem¬
selben Gericht verschieden. Die grundlegenden Vorschriften der Zivilproze߬
ordnung sind so dehnbar, daß sich jedes Gericht und jede Kammer ihr eignes
Verfahren nach Gutdünken einrichten tonnen. Bähr hat in dieser Beziehung
eine Enquete angestellt, die, so wenig erschöpfend auch ein Privatmann eine
hoche veranstalten kann, bis zur völligen Überzeugung klarmacht, daß wir in
Deutschland einen einheitlichen Zivilprozeß weniger als je besitzen.

Alle Opfer, die Preuße» gebracht hat, sind demnach völlig umsonst ge¬
wesen; wir haben unsre altbewährten guten Einrichtungen aufgegeben, ohne die
erstrebte Einheit erreicht zu haben.


Grenzboten III. 1885. L8
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[0305] Der deutsche Zivilprozeß in praktischer Bethätigung. Abgesehen von einzelnen kleiner» Bundesstaaten, in denen noch der alte gemeinrechtliche Prozeß mit seiner ganzen Weitschweifigkeit und Dauer als Überrest des alten Reiches in Blüte stand, war man in Deutschland mit dem frühern Zivilprozeß zufrieden. Die reichern Provinzen am Rhein und Elsaß-Lothringen kannten es nicht besser, für sie war ein Prozeß ein Luxus, den sich mir der Vermögendere gönnen konnte. In Altpreußen aber konnte sich das Volk über nichts beklagen. Jedermann hatte Zutritt zu seinem Richter, kein Anwaltszwang versperrte dem Minderbegüterten den Weg; der Richter behielt die ganze Leitung des Prozesses in seinen Händen, kein Gerichtsvollzieher war nötig, um den Verkehr unter den Parteien zu vermitteln und um das Urteil zu vollstrecken. Jeder konnte sicher sein, daß alles, was er dem Richter vorbrachte, auch Gegenstand des richterlichen Urteils war. Die Mängel, welche der altpreußische Prozeß hatte, waren mit einigen Federstrichen zu beseitigen. Sie bestanden vom wirt¬ schaftlichen Standpunkte eigentlich nur darin, daß es keine sofortige Voll¬ streckbarkeit und kein Teilnrteil gab, sodaß also ein böswilliger Schuldner in der Lage war, sich seiner Verpflichtung recht lange zu entziehen. Es hätte kaum zweier Paragraphen bedurft, um diese Übelstände zu beseitigen, und bei allem Vorurteil gegen altpreußische Einrichtungen würde auch das übrige Deutschland bald ihren Wert eingesehen und sich ihrer Segnungen erfreut haben. Der Wunsch nach einer einheitlichen Regelung des Zivilprozesses war schon vor der Entstehung des neuen Reiches in der Bevölkerung rege, und es war deshalb nur allzunatürlich, daß diese Bestrebungen nach der erfolgten Einigung zur Verwirklichung gelangten. Es ist auch zu erklären, wenn, um eine» ein¬ heitlichen Prozeß zu erlangen, einzelne Opfer gebracht wurden, und wenn sich der einzelne Bundesstaat damit tröstete, daß er manches Sondergut aufgeben mußte, in der Hoffnung, eine minder gute Einheitlichkeit zu erlangen. Aber diese Hoffnung ist völlig zusehenden geworden. Es ist das große Verdienst von Bähr, in seiner Schrift ans das schlagendste nachgewiesen zu haben, daß trotz der einheitlichen Zivilprozeßordnung wir dasselbe vielgestaltete Verfahren wie vorher haben. Ja diese Mannichfaltigkeit ist noch viel größer geworden; denn während sich früher die Gestaltung nur nach den einzelnen Rechtsgebieten schied, ist sie jetzt nicht nnr innerhalb desselben Gebietes, sondern oft auch an dem¬ selben Gericht verschieden. Die grundlegenden Vorschriften der Zivilproze߬ ordnung sind so dehnbar, daß sich jedes Gericht und jede Kammer ihr eignes Verfahren nach Gutdünken einrichten tonnen. Bähr hat in dieser Beziehung eine Enquete angestellt, die, so wenig erschöpfend auch ein Privatmann eine hoche veranstalten kann, bis zur völligen Überzeugung klarmacht, daß wir in Deutschland einen einheitlichen Zivilprozeß weniger als je besitzen. Alle Opfer, die Preuße» gebracht hat, sind demnach völlig umsonst ge¬ wesen; wir haben unsre altbewährten guten Einrichtungen aufgegeben, ohne die erstrebte Einheit erreicht zu haben. Grenzboten III. 1885. L8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/305>, abgerufen am 25.11.2024.