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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Gin politischer Dichter und Zeitungsschreiber des achtzehnten Jahrhunderts.

gessen, daß ihm eine naturgemäße Entwicklung versagt war. Seine Jugendbildung
erscheint mangelhaft; während seiner Schnlmeisterzeit in Geislingen sehen wir,
wie er als Autodidakt sich abmüht, einen klaren Einblick in die dichterische und
wissenschaftliche Bewegung Norddeutschlands zu gewinnen. Es macht einen
rührenden Eindruck, mit welchem naiven Eifer er das eben Gelernte wieder zu
lehren sucht, ohne daß er selbst einen festen Standpunkt für seine Beurteilung
gewinnen kaun. Seine Bewunderung für den Dichter des "Agathem" gerät
mit seiner theologischen Gesinnung in Widerstreit. Ein Freigeist, wofür er
sich später in Selbstanklagen ausgab, ist er überhaupt niemals gewesen; er
schwankte nur zwischen einer freiern und einer strengern theologischen Auffassung.
Aber seine angeborne Sinnlichkeit brachte, als in Ludwigsburg das böse Beispiel
und die unmittelbare Verführung der lüderlicher Hvfkreise an ihn herantrat,
seine Handlungen in Widerstreit mit seiner religiösen Überzeugung; dies ver¬
anlaßte ihn dann, die Ausschweifungen, zu denen er von Natur aus neigte, ganz
ungcrechtfcrtigterweise statt seiner moralischen Schwäche einer freiern Geistes-
richtung zur Last zu legen. Nach mannichfachen Irrungen hatte sich Schubart
endlich um die Mitte der siebziger Jahre als Mensch und Schriftsteller empor¬
gearbeitet. Erst in Ulm entfaltete sich sein Geist freier, und alle Anzeichen
sprechen dafür, daß nun Bedeutenderes von ihm zu erwarten sei. Da griff die
frevelnde Despotenhand zerstörend in sein Leben ein. Nach zehnjähriger Kerkerhaft
war Schubarts Geist gebrochen. Was Schubart trotz dieser Ungunst der Ver¬
hältnisse geleistet hat, ist nicht unbedeutend. Den volkstümlichen Liederton hat
er bereits vor Goethes Straßburger Aufenthalt angeschlagen. Die im neun¬
zehnten Jahrhundert anerkannte Bedeutung des Dialekts für die Poesie und
seine liebevolle Pflege geht von Schubart aus. Man hat später den Ausgaben
seiner Werke die Aufschrift gegeben: "Schubarts des Patrioten gesammelte
Schriften." Der Wert der sogenannten politischen Poesie ist oft ein recht
zweifelhafter; Schubart aber ist nicht nur der Zeit nach der erste unsrer
Politischen Dichter. Ästhetisch wie historisch betrachtet haben seine politischen
Poesien ihren vollen Wert. Die Erzählung des Kammerdieners in der zweiten
Szene des zweiten Aktes von "Kabale und Liebe" wirkt nun seit mehr als
hundert Jahren von der Bühne herab auf das deutsche Publikum; Schubarts
Kaplied ist mit deutschen Auswandrern über den Erdkreis gewandert; sein Eindruck
war kein geringerer, wenn es auch die in Schillers Drama scharf hervorstechende
Spitze verhüllen mußte. Die "Fürstengruft" ist ein politisches Gedicht, wie
vielleicht keines von gleicher Großartigkeit seit Schubart von einem deutschen
Dichter geschrieben worden ist.

Die Teilnahme Schubarts an den politischen Verhältnissen war eine tief¬
gehende und nachhaltige. Von 1774 bis 1777 und von 1787 bis 1791 gab
er die "Deutsche Chronik" heraus. Mehr als manche andre neu hervorgezogene
Schrift des vorigen Jahrhunderts verdiente sie den von Seuffert in Aussicht


Grenzboten III. 188S. 34
Gin politischer Dichter und Zeitungsschreiber des achtzehnten Jahrhunderts.

gessen, daß ihm eine naturgemäße Entwicklung versagt war. Seine Jugendbildung
erscheint mangelhaft; während seiner Schnlmeisterzeit in Geislingen sehen wir,
wie er als Autodidakt sich abmüht, einen klaren Einblick in die dichterische und
wissenschaftliche Bewegung Norddeutschlands zu gewinnen. Es macht einen
rührenden Eindruck, mit welchem naiven Eifer er das eben Gelernte wieder zu
lehren sucht, ohne daß er selbst einen festen Standpunkt für seine Beurteilung
gewinnen kaun. Seine Bewunderung für den Dichter des „Agathem" gerät
mit seiner theologischen Gesinnung in Widerstreit. Ein Freigeist, wofür er
sich später in Selbstanklagen ausgab, ist er überhaupt niemals gewesen; er
schwankte nur zwischen einer freiern und einer strengern theologischen Auffassung.
Aber seine angeborne Sinnlichkeit brachte, als in Ludwigsburg das böse Beispiel
und die unmittelbare Verführung der lüderlicher Hvfkreise an ihn herantrat,
seine Handlungen in Widerstreit mit seiner religiösen Überzeugung; dies ver¬
anlaßte ihn dann, die Ausschweifungen, zu denen er von Natur aus neigte, ganz
ungcrechtfcrtigterweise statt seiner moralischen Schwäche einer freiern Geistes-
richtung zur Last zu legen. Nach mannichfachen Irrungen hatte sich Schubart
endlich um die Mitte der siebziger Jahre als Mensch und Schriftsteller empor¬
gearbeitet. Erst in Ulm entfaltete sich sein Geist freier, und alle Anzeichen
sprechen dafür, daß nun Bedeutenderes von ihm zu erwarten sei. Da griff die
frevelnde Despotenhand zerstörend in sein Leben ein. Nach zehnjähriger Kerkerhaft
war Schubarts Geist gebrochen. Was Schubart trotz dieser Ungunst der Ver¬
hältnisse geleistet hat, ist nicht unbedeutend. Den volkstümlichen Liederton hat
er bereits vor Goethes Straßburger Aufenthalt angeschlagen. Die im neun¬
zehnten Jahrhundert anerkannte Bedeutung des Dialekts für die Poesie und
seine liebevolle Pflege geht von Schubart aus. Man hat später den Ausgaben
seiner Werke die Aufschrift gegeben: „Schubarts des Patrioten gesammelte
Schriften." Der Wert der sogenannten politischen Poesie ist oft ein recht
zweifelhafter; Schubart aber ist nicht nur der Zeit nach der erste unsrer
Politischen Dichter. Ästhetisch wie historisch betrachtet haben seine politischen
Poesien ihren vollen Wert. Die Erzählung des Kammerdieners in der zweiten
Szene des zweiten Aktes von „Kabale und Liebe" wirkt nun seit mehr als
hundert Jahren von der Bühne herab auf das deutsche Publikum; Schubarts
Kaplied ist mit deutschen Auswandrern über den Erdkreis gewandert; sein Eindruck
war kein geringerer, wenn es auch die in Schillers Drama scharf hervorstechende
Spitze verhüllen mußte. Die „Fürstengruft" ist ein politisches Gedicht, wie
vielleicht keines von gleicher Großartigkeit seit Schubart von einem deutschen
Dichter geschrieben worden ist.

Die Teilnahme Schubarts an den politischen Verhältnissen war eine tief¬
gehende und nachhaltige. Von 1774 bis 1777 und von 1787 bis 1791 gab
er die „Deutsche Chronik" heraus. Mehr als manche andre neu hervorgezogene
Schrift des vorigen Jahrhunderts verdiente sie den von Seuffert in Aussicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/273>, abgerufen am 25.11.2024.