Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.Rechtspolitische Streifziigo. feste Regeln entscheiden, sondern freie Erwägung, die bei einem Richter anders Alle die beregten Übelstände sind in der Lüneburger Haide oder in Lemgo Man darf etwa nicht glauben, daß heutzutage in der Öffentlichkeit schon Rechtspolitische Streifziigo. feste Regeln entscheiden, sondern freie Erwägung, die bei einem Richter anders Alle die beregten Übelstände sind in der Lüneburger Haide oder in Lemgo Man darf etwa nicht glauben, daß heutzutage in der Öffentlichkeit schon <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0255" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196355"/> <fw type="header" place="top"> Rechtspolitische Streifziigo.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1023" prev="#ID_1022"> feste Regeln entscheiden, sondern freie Erwägung, die bei einem Richter anders<lb/> als bei dem andern ausfallen kann. Die Krönung dieses Gebäudes ist durch<lb/> die Straf- und Zivilprozeßordnung erfolgt, und hier umso bedauerlicher, als<lb/> insonderheit dem Einzelrichter eine Stellung eingeräumt worden ist, die mir in<lb/> der des türkischen Kadi ein Gleichnis findet. Namentlich hat der Wegfall der<lb/> Berufung das richterliche Urteil der wirksamsten Kontrole beraubt. Wir haben<lb/> auch hier nicht die Absicht, alle diese Gedanken bis ins einzelne auszuführen,<lb/> uns genügt es, auf diese Übelstände hinzuweisen und eine Erklärung dafür zu<lb/> geben, warum heutzutage ein Angeklagter sagen kann: „Mein Ermessen und das<lb/> richterliche sind gleichwertig." Und man wird zugeben müssen, daß die Berufung<lb/> auf das „Ermessen" noch billiger ist, als die auf Gründe.</p><lb/> <p xml:id="ID_1024"> Alle die beregten Übelstände sind in der Lüneburger Haide oder in Lemgo<lb/> natürlich viel weniger fühlbar als in den großen Verkehrszentren, in den<lb/> Städten, wo sich die politischen Gegensätze viel schärfer zuspitzen. Wenn dort<lb/> der Amtsrichter als Patriarch lebt und die Zwistigkeiten seiner Eingesessenen<lb/> im Frieden schlichtet, so wird er seiner Aufgabe viel näher kommen, als wenn<lb/> er hundert schöne Urteile fällt und die Gründe mit Gesetzesparagraphen spickt.<lb/> Aber der Prüfstein guter Gesetze und guter Einrichtungen besteht nicht in ihrer<lb/> Wirksamkeit für kleine und stille Verhältnisse, sondern hauptsächlich darin, daß<lb/> sie anch bei verwickelten Zuständen und in kritischer Zeit ausreichen. Von den<lb/> Millionen richterlicher Urteile, welche ohne Anstoß gesprochen werden, ist nie<lb/> die Rede, wohl aber ist schon ein einziges in einer e-ass ovMro entstandne<lb/> geeignet, eine ganze Generation in Bewegung zu setzen. Eben deshalb sollten<lb/> die Gesetzgeber ihre Vorschriften so treffen, daß sie nicht in Zeiten der Stürme<lb/> Schiffbruch leiden, sondern sich als fester Anker erweisen, den auch anarchische<lb/> Fluten nicht loszureißen vermögen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1025" next="#ID_1026"> Man darf etwa nicht glauben, daß heutzutage in der Öffentlichkeit schon<lb/> eine genügende Kontrole liege, vielmehr birgt letztere anch die große Gefahr in<lb/> sich, übertrieben zu werden und durch ihre unberufene und unverständige Ein¬<lb/> mischung mehr noch die Gemüter zu verwirren als aufzuklären. Ein besondrer<lb/> Übelstand aber ist es, daß auch nicht mehr das Privatleben vor der vorlauten<lb/> Indiskretion der Presse sicher ist, und daß, wer irgendwie eine Stellung im<lb/> Politischen Leben einnimmt, seine Privatverhältnisse der Öffentlichkeit durch die<lb/> Tagespresse preisgegeben sieht. Wir haben sehr ernste Strafbestimmungen gegen<lb/> Verletzung des Hausrechts, und sogar Verdächtigen gegenüber wird oft zum<lb/> Schaden der Rechtssicherheit der Polizei verwehrt, in das Innere des Hanfes<lb/> einzudringen. Aber wenn es sich um das Privatleben handelt, um die ehelichen<lb/> Verhältnisse, um Kinder und Verwandte — Güter, die tausendmal teurer dem<lb/> Einzelnen sind, als sein Haus —, dann läßt man es zu, daß ein Journalist, ohne<lb/> Auftrag, ohne Ermächtigung, ohne Recht, bloß weil er Journalist oder Re¬<lb/> porter ist, die Schwelle unsers häuslichen Herdes überschreite, das intimste</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0255]
Rechtspolitische Streifziigo.
feste Regeln entscheiden, sondern freie Erwägung, die bei einem Richter anders
als bei dem andern ausfallen kann. Die Krönung dieses Gebäudes ist durch
die Straf- und Zivilprozeßordnung erfolgt, und hier umso bedauerlicher, als
insonderheit dem Einzelrichter eine Stellung eingeräumt worden ist, die mir in
der des türkischen Kadi ein Gleichnis findet. Namentlich hat der Wegfall der
Berufung das richterliche Urteil der wirksamsten Kontrole beraubt. Wir haben
auch hier nicht die Absicht, alle diese Gedanken bis ins einzelne auszuführen,
uns genügt es, auf diese Übelstände hinzuweisen und eine Erklärung dafür zu
geben, warum heutzutage ein Angeklagter sagen kann: „Mein Ermessen und das
richterliche sind gleichwertig." Und man wird zugeben müssen, daß die Berufung
auf das „Ermessen" noch billiger ist, als die auf Gründe.
Alle die beregten Übelstände sind in der Lüneburger Haide oder in Lemgo
natürlich viel weniger fühlbar als in den großen Verkehrszentren, in den
Städten, wo sich die politischen Gegensätze viel schärfer zuspitzen. Wenn dort
der Amtsrichter als Patriarch lebt und die Zwistigkeiten seiner Eingesessenen
im Frieden schlichtet, so wird er seiner Aufgabe viel näher kommen, als wenn
er hundert schöne Urteile fällt und die Gründe mit Gesetzesparagraphen spickt.
Aber der Prüfstein guter Gesetze und guter Einrichtungen besteht nicht in ihrer
Wirksamkeit für kleine und stille Verhältnisse, sondern hauptsächlich darin, daß
sie anch bei verwickelten Zuständen und in kritischer Zeit ausreichen. Von den
Millionen richterlicher Urteile, welche ohne Anstoß gesprochen werden, ist nie
die Rede, wohl aber ist schon ein einziges in einer e-ass ovMro entstandne
geeignet, eine ganze Generation in Bewegung zu setzen. Eben deshalb sollten
die Gesetzgeber ihre Vorschriften so treffen, daß sie nicht in Zeiten der Stürme
Schiffbruch leiden, sondern sich als fester Anker erweisen, den auch anarchische
Fluten nicht loszureißen vermögen.
Man darf etwa nicht glauben, daß heutzutage in der Öffentlichkeit schon
eine genügende Kontrole liege, vielmehr birgt letztere anch die große Gefahr in
sich, übertrieben zu werden und durch ihre unberufene und unverständige Ein¬
mischung mehr noch die Gemüter zu verwirren als aufzuklären. Ein besondrer
Übelstand aber ist es, daß auch nicht mehr das Privatleben vor der vorlauten
Indiskretion der Presse sicher ist, und daß, wer irgendwie eine Stellung im
Politischen Leben einnimmt, seine Privatverhältnisse der Öffentlichkeit durch die
Tagespresse preisgegeben sieht. Wir haben sehr ernste Strafbestimmungen gegen
Verletzung des Hausrechts, und sogar Verdächtigen gegenüber wird oft zum
Schaden der Rechtssicherheit der Polizei verwehrt, in das Innere des Hanfes
einzudringen. Aber wenn es sich um das Privatleben handelt, um die ehelichen
Verhältnisse, um Kinder und Verwandte — Güter, die tausendmal teurer dem
Einzelnen sind, als sein Haus —, dann läßt man es zu, daß ein Journalist, ohne
Auftrag, ohne Ermächtigung, ohne Recht, bloß weil er Journalist oder Re¬
porter ist, die Schwelle unsers häuslichen Herdes überschreite, das intimste
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