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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Rechtspolitische Stceifziige.

würdiger, als wir bereits seit vielen Jahren unter derselben Rechtsanschauung
leben --, daß diese Gesetze in sich nicht so fest bestimmt seien, sondern daß noch
eine große Freiheit für das subjektive Ermessen des Richters in der Beurteilung
der Thatsachen übrigbleibe. Nun ist es das Eigentümliche eines jeden gericht¬
lichen Verfahrens -- auch im Strafprozesse --, daß er beide streitenden Teile
nie befriedigt, und so kam es, daß, als man die Entdeckung zu machen glaubte,
wie das Urteil in den Stöckerprozcssen hauptsächlich auf dein freien richterlichen
Ermessen beruhe, man von Willkür der Entscheidung zu reden anfing und für
das eigne Ermessen dieselbe Wertschätzung forderte wie für dasjenige des Richters.
Auch in den vorliegenden Prozessen haben die beteiligten politischen Parteien
das Urteil des Gerichts als solches nicht anerkannt. Die Gegner Stöckers
haben aus demselben Folgerungen gezogen, welche das Gericht nicht ausge¬
sprochen hat, und die Anhänger haben das Urteil einer Kritik unterzogen, die
sich nicht bloß an die juristische Seite wendete,*) sondern die Unparteilichkeit des
Spruches selbst in Zweifel zog. Wein: in einem großen politischen Tagesblatte
n. a. dem einen christlichen Richter die Frage vorgelegt wird, ob er als Sohn
eines Juden die Mitwirkung in dem Prozesse nicht lieber Hütte ablehnen sollen,
so heißt dies nichts andres, als daß dieser Richter wegen seiner Abstammung
in der öffentlichen Meinung als nicht unbefangen bezeichnet wird.

Ein solcher Übergriff der Kritik ist zu beklagen, ja von dem besonnenen
konservativen Standpunkte aus, den der Verfasser dieser Zeilen, außerhalb der
politischen Parteien stehend, vertritt, energisch zu bekämpfen. Denn mögen auch
die Gesetze selbst anfechtbar sein -- und wie weit dies der Fall ist, soll noch
Gegenstand dieser Erörterung werden --, so beruht doch unsre ganze Rechts¬
ordnung, soweit nicht die formell vorhandnen Voraussetzungen vorliegen,
darauf, in dem Richtersprüche die Äußerung eines unparteiischen Staatsorgaus
zu sehen, der sich der Einzelne wie die Partei ohne Murren auch dann zu
fügen hat, wenn die Sentenz dem eignen Interesse schroff widerspricht.

Das Urteil begründet Recht, und wie jedermann auch dem Gesetze gehorsam
sein muß, welches er für schlecht erachtet, so muß er auch der ihm gesetzten
Obrigkeit dann sich fügen, wenn dieselbe innerhalb ihrer verfassungsmäßigen
Grenzen über ihn ein Übel verhängt. Man kann ein Urteil mit wissenschaft¬
lichen Gründen bekämpfen, man kann gegen dasselbe die gegebnen Rechtsmittel
ergreifen -- und nach beiden Richtungen geht man in unserm Vaterlande viel¬
fach zu weit --, aber man darf ohne die gesetzlich gegebnen Grundlagen den



*) Dies ist allein in dem Aufsätze der "Grenzboten" Ur. 27, "Das richterliche Urteil
und die Phrase" geschehen. Diesen Ausführungen, denen jeder schon beim ersten Blick die
Sachkunde und Objektivität anmerkt, stimmen wir aus voller llberzeuguug zu, ja wir glauben
und hoffen, daß unsre Erörterungen eine Ergänzung jenes Aussatzes bilden. Denn wie dieser
sich an die formelle Seite jenes Urteils wendet, so haben wir unsre Betrachtungen auf das
Materielle der Frage gerichtet.
Rechtspolitische Stceifziige.

würdiger, als wir bereits seit vielen Jahren unter derselben Rechtsanschauung
leben —, daß diese Gesetze in sich nicht so fest bestimmt seien, sondern daß noch
eine große Freiheit für das subjektive Ermessen des Richters in der Beurteilung
der Thatsachen übrigbleibe. Nun ist es das Eigentümliche eines jeden gericht¬
lichen Verfahrens — auch im Strafprozesse —, daß er beide streitenden Teile
nie befriedigt, und so kam es, daß, als man die Entdeckung zu machen glaubte,
wie das Urteil in den Stöckerprozcssen hauptsächlich auf dein freien richterlichen
Ermessen beruhe, man von Willkür der Entscheidung zu reden anfing und für
das eigne Ermessen dieselbe Wertschätzung forderte wie für dasjenige des Richters.
Auch in den vorliegenden Prozessen haben die beteiligten politischen Parteien
das Urteil des Gerichts als solches nicht anerkannt. Die Gegner Stöckers
haben aus demselben Folgerungen gezogen, welche das Gericht nicht ausge¬
sprochen hat, und die Anhänger haben das Urteil einer Kritik unterzogen, die
sich nicht bloß an die juristische Seite wendete,*) sondern die Unparteilichkeit des
Spruches selbst in Zweifel zog. Wein: in einem großen politischen Tagesblatte
n. a. dem einen christlichen Richter die Frage vorgelegt wird, ob er als Sohn
eines Juden die Mitwirkung in dem Prozesse nicht lieber Hütte ablehnen sollen,
so heißt dies nichts andres, als daß dieser Richter wegen seiner Abstammung
in der öffentlichen Meinung als nicht unbefangen bezeichnet wird.

Ein solcher Übergriff der Kritik ist zu beklagen, ja von dem besonnenen
konservativen Standpunkte aus, den der Verfasser dieser Zeilen, außerhalb der
politischen Parteien stehend, vertritt, energisch zu bekämpfen. Denn mögen auch
die Gesetze selbst anfechtbar sein — und wie weit dies der Fall ist, soll noch
Gegenstand dieser Erörterung werden —, so beruht doch unsre ganze Rechts¬
ordnung, soweit nicht die formell vorhandnen Voraussetzungen vorliegen,
darauf, in dem Richtersprüche die Äußerung eines unparteiischen Staatsorgaus
zu sehen, der sich der Einzelne wie die Partei ohne Murren auch dann zu
fügen hat, wenn die Sentenz dem eignen Interesse schroff widerspricht.

Das Urteil begründet Recht, und wie jedermann auch dem Gesetze gehorsam
sein muß, welches er für schlecht erachtet, so muß er auch der ihm gesetzten
Obrigkeit dann sich fügen, wenn dieselbe innerhalb ihrer verfassungsmäßigen
Grenzen über ihn ein Übel verhängt. Man kann ein Urteil mit wissenschaft¬
lichen Gründen bekämpfen, man kann gegen dasselbe die gegebnen Rechtsmittel
ergreifen — und nach beiden Richtungen geht man in unserm Vaterlande viel¬
fach zu weit —, aber man darf ohne die gesetzlich gegebnen Grundlagen den



*) Dies ist allein in dem Aufsätze der „Grenzboten" Ur. 27, „Das richterliche Urteil
und die Phrase" geschehen. Diesen Ausführungen, denen jeder schon beim ersten Blick die
Sachkunde und Objektivität anmerkt, stimmen wir aus voller llberzeuguug zu, ja wir glauben
und hoffen, daß unsre Erörterungen eine Ergänzung jenes Aussatzes bilden. Denn wie dieser
sich an die formelle Seite jenes Urteils wendet, so haben wir unsre Betrachtungen auf das
Materielle der Frage gerichtet.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/250>, abgerufen am 01.09.2024.