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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Heinrich Leuthold.

heitsgehalt wurden die Klagen des mit Gott und der Welt zerfallenen Dichters
über Teilnahmlosigkeit der Zeit, Vernachlässigung und Mißachtung vonseiten
seines engern schweizerischen Vaterlandes wiederholt und bekräftigt. Die Gedichte
hatten großen Erfolg, woran Wohl auch ein pathologisches Interesse für den so
unglücklich endenden Lyriker einen gewissen Anteil hatte. Bald wurde eine
neue Auflage nötig, und vor einigen Monaten erschien eine dritte.^) Nun er¬
achtete es der Herausgeber der Leutholdischen Gedichte, Professor Jakob Baechthold
in Zürich, an der Zeit, zuucichst all den Vorwürfen, welche Leuthold selbst und
die ihm kritiklos Nachsprechenden gegen sein Vaterland erhoben hatten, in ernster
Weise entgegenzutreten, und man kann es billig einem patriotischen Manne
nicht verübeln, wenn er an der Hand der Wahrheit eine solche Rechtfertigung
unternimmt.

"Eines muß noch gesagt werden, heißt es in dem Lebensabriß, und der
gute Freund darf es umso eher aussprechen, als er glücklicherweise nicht zu
warm werden muß, um die Wage gegen kalte Beurteiler zu halten. Aus der
mehrfach angeführten Selbstbiographie tönt die Klage über Verkennung, Undank,
Ungunst des Schicksals, das allen großen Plänen Lentholds grausam entgegenge¬
treten sei, ihn z. B. auch verhindert hätte, nach der sogenannten obersten Gattung,
dem Drama größern Stils u. s. w. zu greisen. Man kennt diesen pathologischen
Zug aus den Gedichten. Was wird hier nicht alles angeklagt! Gott, Schicksal,
Vaterland, Menschheit. Wahr ists, das Leben legte ihm manche Entbehrung
auf. Wann aber war Leuthold je über die bloßen Anstalten zu ernsthafter
Arbeit hinausgekommen? Warum hielt er seine Gedichte zurück? Zweimal hat
er -- wie der Nachlaß zeigt -- eine Sammlung gesichtet, beide male unterblieb
zu seinem Vorteil alles weitere. Als durch und durch skeptische Natur legte er
an alles einen unerbittlich strengen Maßstab. Bei aller Selbstbespiegelung,
welche oft zu grell auf die eigne Persönlichkeit gerichtet ist (ein Merkmal der
meisten formalen Dichter), wartete er von Tag zu Tag auf seine große Stunde.
Einmal, als er "Penthesileia" bei sich trug, hielt er jene für gekommen. Auch
hier sah er fest und klar die Täuschung ein. Unterdessen zerrannen ihm die
Jahre -- einzu ?<ZLtum<z, l'ostnine! -- und es wurde zu spät. Wieviel eigne
Schuld dazu beigetragen, dieses Leben vor der Zeit zu untergraben, das ab¬
zuwägen ist nicht meine Sache."

Auch der ästhetischen Überschätzung Lentholds tritt Baechthold in seinem
Wahrheitsstreben mit ernsten, überzeugender Gründen entgegen. Lentholds Zu¬
sammenstellung mit den oben genannten wirklichen Originalgenies lehnt er kurz
ab; eher, meint er treffend, hätte man ihn mit Waiblinger in Parallele stellen
können. Er druckt ferner die in ihrer erschöpfenden Kürze und Wahrheit be-



*) Gedichte von Heinrich Leuthold. Dritte vermehrte Auflage. Mit Pvrtriit und
Lebensabrisz des Dichters. Frauenfeld, I. Huber, 1384.
Heinrich Leuthold.

heitsgehalt wurden die Klagen des mit Gott und der Welt zerfallenen Dichters
über Teilnahmlosigkeit der Zeit, Vernachlässigung und Mißachtung vonseiten
seines engern schweizerischen Vaterlandes wiederholt und bekräftigt. Die Gedichte
hatten großen Erfolg, woran Wohl auch ein pathologisches Interesse für den so
unglücklich endenden Lyriker einen gewissen Anteil hatte. Bald wurde eine
neue Auflage nötig, und vor einigen Monaten erschien eine dritte.^) Nun er¬
achtete es der Herausgeber der Leutholdischen Gedichte, Professor Jakob Baechthold
in Zürich, an der Zeit, zuucichst all den Vorwürfen, welche Leuthold selbst und
die ihm kritiklos Nachsprechenden gegen sein Vaterland erhoben hatten, in ernster
Weise entgegenzutreten, und man kann es billig einem patriotischen Manne
nicht verübeln, wenn er an der Hand der Wahrheit eine solche Rechtfertigung
unternimmt.

„Eines muß noch gesagt werden, heißt es in dem Lebensabriß, und der
gute Freund darf es umso eher aussprechen, als er glücklicherweise nicht zu
warm werden muß, um die Wage gegen kalte Beurteiler zu halten. Aus der
mehrfach angeführten Selbstbiographie tönt die Klage über Verkennung, Undank,
Ungunst des Schicksals, das allen großen Plänen Lentholds grausam entgegenge¬
treten sei, ihn z. B. auch verhindert hätte, nach der sogenannten obersten Gattung,
dem Drama größern Stils u. s. w. zu greisen. Man kennt diesen pathologischen
Zug aus den Gedichten. Was wird hier nicht alles angeklagt! Gott, Schicksal,
Vaterland, Menschheit. Wahr ists, das Leben legte ihm manche Entbehrung
auf. Wann aber war Leuthold je über die bloßen Anstalten zu ernsthafter
Arbeit hinausgekommen? Warum hielt er seine Gedichte zurück? Zweimal hat
er — wie der Nachlaß zeigt — eine Sammlung gesichtet, beide male unterblieb
zu seinem Vorteil alles weitere. Als durch und durch skeptische Natur legte er
an alles einen unerbittlich strengen Maßstab. Bei aller Selbstbespiegelung,
welche oft zu grell auf die eigne Persönlichkeit gerichtet ist (ein Merkmal der
meisten formalen Dichter), wartete er von Tag zu Tag auf seine große Stunde.
Einmal, als er „Penthesileia" bei sich trug, hielt er jene für gekommen. Auch
hier sah er fest und klar die Täuschung ein. Unterdessen zerrannen ihm die
Jahre — einzu ?<ZLtum<z, l'ostnine! — und es wurde zu spät. Wieviel eigne
Schuld dazu beigetragen, dieses Leben vor der Zeit zu untergraben, das ab¬
zuwägen ist nicht meine Sache."

Auch der ästhetischen Überschätzung Lentholds tritt Baechthold in seinem
Wahrheitsstreben mit ernsten, überzeugender Gründen entgegen. Lentholds Zu¬
sammenstellung mit den oben genannten wirklichen Originalgenies lehnt er kurz
ab; eher, meint er treffend, hätte man ihn mit Waiblinger in Parallele stellen
können. Er druckt ferner die in ihrer erschöpfenden Kürze und Wahrheit be-



*) Gedichte von Heinrich Leuthold. Dritte vermehrte Auflage. Mit Pvrtriit und
Lebensabrisz des Dichters. Frauenfeld, I. Huber, 1384.
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[0223] Heinrich Leuthold. heitsgehalt wurden die Klagen des mit Gott und der Welt zerfallenen Dichters über Teilnahmlosigkeit der Zeit, Vernachlässigung und Mißachtung vonseiten seines engern schweizerischen Vaterlandes wiederholt und bekräftigt. Die Gedichte hatten großen Erfolg, woran Wohl auch ein pathologisches Interesse für den so unglücklich endenden Lyriker einen gewissen Anteil hatte. Bald wurde eine neue Auflage nötig, und vor einigen Monaten erschien eine dritte.^) Nun er¬ achtete es der Herausgeber der Leutholdischen Gedichte, Professor Jakob Baechthold in Zürich, an der Zeit, zuucichst all den Vorwürfen, welche Leuthold selbst und die ihm kritiklos Nachsprechenden gegen sein Vaterland erhoben hatten, in ernster Weise entgegenzutreten, und man kann es billig einem patriotischen Manne nicht verübeln, wenn er an der Hand der Wahrheit eine solche Rechtfertigung unternimmt. „Eines muß noch gesagt werden, heißt es in dem Lebensabriß, und der gute Freund darf es umso eher aussprechen, als er glücklicherweise nicht zu warm werden muß, um die Wage gegen kalte Beurteiler zu halten. Aus der mehrfach angeführten Selbstbiographie tönt die Klage über Verkennung, Undank, Ungunst des Schicksals, das allen großen Plänen Lentholds grausam entgegenge¬ treten sei, ihn z. B. auch verhindert hätte, nach der sogenannten obersten Gattung, dem Drama größern Stils u. s. w. zu greisen. Man kennt diesen pathologischen Zug aus den Gedichten. Was wird hier nicht alles angeklagt! Gott, Schicksal, Vaterland, Menschheit. Wahr ists, das Leben legte ihm manche Entbehrung auf. Wann aber war Leuthold je über die bloßen Anstalten zu ernsthafter Arbeit hinausgekommen? Warum hielt er seine Gedichte zurück? Zweimal hat er — wie der Nachlaß zeigt — eine Sammlung gesichtet, beide male unterblieb zu seinem Vorteil alles weitere. Als durch und durch skeptische Natur legte er an alles einen unerbittlich strengen Maßstab. Bei aller Selbstbespiegelung, welche oft zu grell auf die eigne Persönlichkeit gerichtet ist (ein Merkmal der meisten formalen Dichter), wartete er von Tag zu Tag auf seine große Stunde. Einmal, als er „Penthesileia" bei sich trug, hielt er jene für gekommen. Auch hier sah er fest und klar die Täuschung ein. Unterdessen zerrannen ihm die Jahre — einzu ?<ZLtum<z, l'ostnine! — und es wurde zu spät. Wieviel eigne Schuld dazu beigetragen, dieses Leben vor der Zeit zu untergraben, das ab¬ zuwägen ist nicht meine Sache." Auch der ästhetischen Überschätzung Lentholds tritt Baechthold in seinem Wahrheitsstreben mit ernsten, überzeugender Gründen entgegen. Lentholds Zu¬ sammenstellung mit den oben genannten wirklichen Originalgenies lehnt er kurz ab; eher, meint er treffend, hätte man ihn mit Waiblinger in Parallele stellen können. Er druckt ferner die in ihrer erschöpfenden Kürze und Wahrheit be- *) Gedichte von Heinrich Leuthold. Dritte vermehrte Auflage. Mit Pvrtriit und Lebensabrisz des Dichters. Frauenfeld, I. Huber, 1384.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/223>, abgerufen am 01.09.2024.