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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Das Ivachstmn Berlins und der Ncalircrstreik.

nächster Nähe, Gewiß giebt es Leute, welche sorgenvoll den Gang des
WohnungsgeschäftcS verfolgen und zu den gleichen Schlußfolgerungen gelangen
wie wir; aber auch sie wissen sich nicht anders zu helfen, als indem sie gleichsam
Mitglieder einer stillschweigenden Verschwörung bilde", die den Gedanken einer
wiederkehrenden Wohnungsnot nach Kräften zurückdrängt und totschweigt oder
für unmöglich, für undenkbar, für unzulässig erklärt, und dadurch den Ausbruch
so lange als möglich hinauszuschieben sucht. Da nun in der That die Wohnungs-
not erst in dem Augenblicke da ist, wo sie den Leuten zum Bewußtsein kommt,
so ist es mit diesen schwache" Eiiifliisse" oder Mittelche" gelungen, bis heute
den Sturm zu beschwören. Daß er sich aber nicht mehr für dieses ganze Jahr
beschwören lassen wird, dafür hat der starke Anstoß gesorgt, den die streikenden
Maurer der ganzen Angelegenheit gegeben haben.

Wenn eine Erfahrung als eine feststehende und unter der Herrschaft des
Industrialismus allenthalben sich wiederholende bezeichnet werden kann, so ist
es die, daß die Annahme einer verhältnismäßig raschen Ausgleichung zwischen
Angebot und Nachfrage, zwischen flottem Geschäftsgange und entsprechender Lvhn-
steigernng, zwischen hervortretendem Bedürfnis und Befriedigung desselben --
eine irrige ist. DaS Bedürfnis mag noch so groß, die Nachfrage noch so
energisch sein -- ehe ein tüchtiger Anstoß gegeben ist, nützt alles nichts. Ebenso
gehen auch die Lohnsätze ihren gewohnten Gang, und es ist durchaus nicht
wahr, daß im Verhältnis zu steigenden Preisen nud steigender Nrbeitsnachfrcige
sie sich "ganz von selbst" bessern: wenn die Lohnfrage nicht von außen her
einen kräftigen "Stümper" bekommt, so rührt sie sich im wesentlichen nicht vom
Flecke. Wir lassen nun die Frage, inwieweit der vor dem Streik bezahlte Lohn ein
auskömmlicher und der Lohnhöhe in andern Städten entsprechender gewesen sei oder
nicht, zunächst auf sich beruhen; aber wir glauben sage" zu dürfen, daß die Frage,
ob die Maurer berechtigt waren, auch hinsichtlich ihres Lohnes eine Berücksich¬
tigung der gestiegenen Arbcitsnachfragc zu verlangen, von jedem Unbefangnen be¬
jaht werden muß. Damit ist nicht gesagt, daß der ganze von den Arbeitern er¬
hobene Anspruch deu Verhältnissen gemäß war, auch nicht, daß dieser ganze
Anspruch durchgesetzt werden kann. Aber möge der Streik nun siegreich durch¬
gekämpft werden oder nicht, so steht es doch fest, daß die Löhne steigen und,
unter Mithilfe der durch den Streik geschaffenen Umstände, auf längere Zeit
eine steigende Tendenz erhalten werden. Denn so lange es eine unerschütterliche
Thatsache bleibt, daß die Bauthätigkeit der letzten Jahre bei weitem nicht genügt
hat, um der Volksvermehrung zu entsprechen, so lange ist an einer wachsenden
Arbcitsnachfrage nicht vorbeizukommen, ein wochen- wie monatelanger Streik
kann mir dazu beitragen, dieselbe noch drängender zu machen, weil entweder
das Versäumte nachgeholt werden oder das unbefriedigte Wohnungsbedürfnis
umso rascher konstatirt werden muß. Würde einmal ein einziges Jahr hindurch
garnichts gebaut werden, so gäbe es ja thatsächlich keine leerstehenden Wohnungen


Das Ivachstmn Berlins und der Ncalircrstreik.

nächster Nähe, Gewiß giebt es Leute, welche sorgenvoll den Gang des
WohnungsgeschäftcS verfolgen und zu den gleichen Schlußfolgerungen gelangen
wie wir; aber auch sie wissen sich nicht anders zu helfen, als indem sie gleichsam
Mitglieder einer stillschweigenden Verschwörung bilde», die den Gedanken einer
wiederkehrenden Wohnungsnot nach Kräften zurückdrängt und totschweigt oder
für unmöglich, für undenkbar, für unzulässig erklärt, und dadurch den Ausbruch
so lange als möglich hinauszuschieben sucht. Da nun in der That die Wohnungs-
not erst in dem Augenblicke da ist, wo sie den Leuten zum Bewußtsein kommt,
so ist es mit diesen schwache» Eiiifliisse» oder Mittelche» gelungen, bis heute
den Sturm zu beschwören. Daß er sich aber nicht mehr für dieses ganze Jahr
beschwören lassen wird, dafür hat der starke Anstoß gesorgt, den die streikenden
Maurer der ganzen Angelegenheit gegeben haben.

Wenn eine Erfahrung als eine feststehende und unter der Herrschaft des
Industrialismus allenthalben sich wiederholende bezeichnet werden kann, so ist
es die, daß die Annahme einer verhältnismäßig raschen Ausgleichung zwischen
Angebot und Nachfrage, zwischen flottem Geschäftsgange und entsprechender Lvhn-
steigernng, zwischen hervortretendem Bedürfnis und Befriedigung desselben —
eine irrige ist. DaS Bedürfnis mag noch so groß, die Nachfrage noch so
energisch sein — ehe ein tüchtiger Anstoß gegeben ist, nützt alles nichts. Ebenso
gehen auch die Lohnsätze ihren gewohnten Gang, und es ist durchaus nicht
wahr, daß im Verhältnis zu steigenden Preisen nud steigender Nrbeitsnachfrcige
sie sich „ganz von selbst" bessern: wenn die Lohnfrage nicht von außen her
einen kräftigen „Stümper" bekommt, so rührt sie sich im wesentlichen nicht vom
Flecke. Wir lassen nun die Frage, inwieweit der vor dem Streik bezahlte Lohn ein
auskömmlicher und der Lohnhöhe in andern Städten entsprechender gewesen sei oder
nicht, zunächst auf sich beruhen; aber wir glauben sage» zu dürfen, daß die Frage,
ob die Maurer berechtigt waren, auch hinsichtlich ihres Lohnes eine Berücksich¬
tigung der gestiegenen Arbcitsnachfragc zu verlangen, von jedem Unbefangnen be¬
jaht werden muß. Damit ist nicht gesagt, daß der ganze von den Arbeitern er¬
hobene Anspruch deu Verhältnissen gemäß war, auch nicht, daß dieser ganze
Anspruch durchgesetzt werden kann. Aber möge der Streik nun siegreich durch¬
gekämpft werden oder nicht, so steht es doch fest, daß die Löhne steigen und,
unter Mithilfe der durch den Streik geschaffenen Umstände, auf längere Zeit
eine steigende Tendenz erhalten werden. Denn so lange es eine unerschütterliche
Thatsache bleibt, daß die Bauthätigkeit der letzten Jahre bei weitem nicht genügt
hat, um der Volksvermehrung zu entsprechen, so lange ist an einer wachsenden
Arbcitsnachfrage nicht vorbeizukommen, ein wochen- wie monatelanger Streik
kann mir dazu beitragen, dieselbe noch drängender zu machen, weil entweder
das Versäumte nachgeholt werden oder das unbefriedigte Wohnungsbedürfnis
umso rascher konstatirt werden muß. Würde einmal ein einziges Jahr hindurch
garnichts gebaut werden, so gäbe es ja thatsächlich keine leerstehenden Wohnungen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/216>, abgerufen am 01.09.2024.