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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Das Wachstum Berlins und der Maurerstreik.

That eine Menge von Leute", denen die Absicht, zu blenden oder über ihre
Verhältnisse zu leben, unendlich fernlag, sich gleichwohl gezwungen sahen,
viel "vornehmer" und natürlich auch teurer zu wohnen, als dies sonst für an¬
gemessen gehalten worden wäre" Dabei herrschte der drückendste Wohnungs¬
mangel; im Winter 1872/73 standen in Berlin nur noch 1500 Wohnungen
leer (für Kleinstädter, die schon verzweifeln zu müssen glauben, wenn einmal
drei Wohnungen unbesetzt sind, möge bemerkt werden, daß dies ein geradezu
furchtbares, unzählige in die absolute Unmöglichkeit unterzukommen versetzendes
Verhältnis ist), und die Polizei mußte eine Zeit lang ein Auge zudrücken, als
sich im Südosten vor den Thoren der Ne-chshauptstadt eine förmliche Baracken¬
stadt etablirte, mittels deren die Obdachlosen sich so gut es ging gegen die
Witterung zu schützen suchte". Nun kam (1873) der Krach. Bekanntlich dauerte
es einige Zeit, bis derselbe seine vollen Wirkungen entfaltete; für Berlin und
den weitaus größten Teil Deutschlands war es ja überhaupt kein akuter, sondern
ein "schleichender Krach." So fand denn auch eine Bevölkerungsabnahme Ber¬
lins eigentlich garnicht statt, höchstens kam es von 1874 an zu einer Stockung,
die aber auch uicht lange vorhielt. Aber dann leerten sich die Wohnungen.
Warum? weil die Ansprüche tiefer und tiefer herabgedrückt wurden. Wie viele
"herrschaftliche Wohnungen" wurden nicht damals in zwei oder drei Teile zer¬
legt, wie viel schon flügge gewesene junge Eheleute sind bescheidentlich wieder
zu den Eltern oder Schwiegereltern zurückgekehrt, wie viele Familienwohnungen
sind wieder gegen ein Gar^onzimmer vertauscht worden! Das waren die Gründe,
unter deren Eindruck die Zahl der leerstehenden Wohnungen höher und höher
anschwoll, bis sie im Jahre 1879 (trotz der damals schon wieder eingetretenen
bedeutenden Volksvermehrung) auf die schwindelnde Höhe von 23 000 gestiegen
war. Erst von da an nahm sie ab, und sofort regte sich auch wieder die Bau¬
thätigkeit. 1881 standen schon mir noch 19000, 1883 nur noch 13000 Wohnungen
leer, und schon im letztgenannten Jahre stellte sich die Zahl der Mietpreis-
stcigerungen ins Gleichgewicht mir der Zahl der Herabsetzungen. Die Bau¬
thätigkeit, anfangs eine zögernde und vorsichtige, nahm schnell genug von neuem
alle Formen der Banspekulation, um uicht zu sagen des Bauschwindels an;
schon von 1882 an datirt die rasend schnelle Entstehung ganzer Straßen -- man
vergleiche nur z. V. den Zustand der Ecke an der Potsdamer Bahn, zwischen
dem Dennewitzplatz und Schöneberg, 1881 und 1884! Aber auf das Bedürfnis
übten diese massenhaften Neubauten kaum einen Einfluß. Im Herbst 1884 war
die Zahl der leerstehenden Wohnungen schon auf 7000 gesunken, darunter er¬
schreckend wenig bessere. Wie groß oder vielmehr wie klein die Zahl jetzt noch
ist, erfährt mau nicht! Die leitenden Kreise scheinen in diese" Veröffentlichungen
ein Haar gehenden zu haben, und es ist ja jetzt, angesichts des Streiks, nicht
zu leugnen, daß die Berliner Baugewerkszeitung einen bessern Riecher hatte,
als sie noch während der letzten Jahre zur allgemeinen Verwunderung fort-


Das Wachstum Berlins und der Maurerstreik.

That eine Menge von Leute», denen die Absicht, zu blenden oder über ihre
Verhältnisse zu leben, unendlich fernlag, sich gleichwohl gezwungen sahen,
viel „vornehmer" und natürlich auch teurer zu wohnen, als dies sonst für an¬
gemessen gehalten worden wäre» Dabei herrschte der drückendste Wohnungs¬
mangel; im Winter 1872/73 standen in Berlin nur noch 1500 Wohnungen
leer (für Kleinstädter, die schon verzweifeln zu müssen glauben, wenn einmal
drei Wohnungen unbesetzt sind, möge bemerkt werden, daß dies ein geradezu
furchtbares, unzählige in die absolute Unmöglichkeit unterzukommen versetzendes
Verhältnis ist), und die Polizei mußte eine Zeit lang ein Auge zudrücken, als
sich im Südosten vor den Thoren der Ne-chshauptstadt eine förmliche Baracken¬
stadt etablirte, mittels deren die Obdachlosen sich so gut es ging gegen die
Witterung zu schützen suchte». Nun kam (1873) der Krach. Bekanntlich dauerte
es einige Zeit, bis derselbe seine vollen Wirkungen entfaltete; für Berlin und
den weitaus größten Teil Deutschlands war es ja überhaupt kein akuter, sondern
ein „schleichender Krach." So fand denn auch eine Bevölkerungsabnahme Ber¬
lins eigentlich garnicht statt, höchstens kam es von 1874 an zu einer Stockung,
die aber auch uicht lange vorhielt. Aber dann leerten sich die Wohnungen.
Warum? weil die Ansprüche tiefer und tiefer herabgedrückt wurden. Wie viele
„herrschaftliche Wohnungen" wurden nicht damals in zwei oder drei Teile zer¬
legt, wie viel schon flügge gewesene junge Eheleute sind bescheidentlich wieder
zu den Eltern oder Schwiegereltern zurückgekehrt, wie viele Familienwohnungen
sind wieder gegen ein Gar^onzimmer vertauscht worden! Das waren die Gründe,
unter deren Eindruck die Zahl der leerstehenden Wohnungen höher und höher
anschwoll, bis sie im Jahre 1879 (trotz der damals schon wieder eingetretenen
bedeutenden Volksvermehrung) auf die schwindelnde Höhe von 23 000 gestiegen
war. Erst von da an nahm sie ab, und sofort regte sich auch wieder die Bau¬
thätigkeit. 1881 standen schon mir noch 19000, 1883 nur noch 13000 Wohnungen
leer, und schon im letztgenannten Jahre stellte sich die Zahl der Mietpreis-
stcigerungen ins Gleichgewicht mir der Zahl der Herabsetzungen. Die Bau¬
thätigkeit, anfangs eine zögernde und vorsichtige, nahm schnell genug von neuem
alle Formen der Banspekulation, um uicht zu sagen des Bauschwindels an;
schon von 1882 an datirt die rasend schnelle Entstehung ganzer Straßen — man
vergleiche nur z. V. den Zustand der Ecke an der Potsdamer Bahn, zwischen
dem Dennewitzplatz und Schöneberg, 1881 und 1884! Aber auf das Bedürfnis
übten diese massenhaften Neubauten kaum einen Einfluß. Im Herbst 1884 war
die Zahl der leerstehenden Wohnungen schon auf 7000 gesunken, darunter er¬
schreckend wenig bessere. Wie groß oder vielmehr wie klein die Zahl jetzt noch
ist, erfährt mau nicht! Die leitenden Kreise scheinen in diese» Veröffentlichungen
ein Haar gehenden zu haben, und es ist ja jetzt, angesichts des Streiks, nicht
zu leugnen, daß die Berliner Baugewerkszeitung einen bessern Riecher hatte,
als sie noch während der letzten Jahre zur allgemeinen Verwunderung fort-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/214>, abgerufen am 01.09.2024.