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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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stehenden Thatsachen sich in Widerspruch gesetzt habe, paßt also nicht und steht
zum Teil mit den eignen Entscheidnngsgründen des Gerichtes nicht im Einklange.
Nur in diesen Verhältnissen, allenfalls in Verbindung mit der "Erregtheit"
Stöckers, kann aber der eigentliche Grund gefunden werden, welcher den Vor¬
wurf die Lüge ausschloß. Statt dieses klar auszusprechen, gebraucht das Urteil
die ungeeignete Form, erst einen entschiednen Widerspruch mit den Thatsachen
zu konstatiren und dann einen unzureichenden Entschuldigungsgrund dafür auf¬
zustellen -- eine Form, die der Agitation gegen Stöcker nicht wenig zu statten
kam. Auch die Bemerkung in dein Urteile, daß bei der Antisemitenpetition
Stöcker "umsomehr" mit den Thatsachen sich in Widerspruch gesetzt habe, weil
er nicht freiwillig, sondern auf Drängen Försters, seine Unterschrift zurück¬
gezogen habe, ist ganz unverständlich.

Nachdem nun das Urteil sich für Annahme eines "Irrtums" bei Stöcker
ausgesprochen, erklärt es gleich darauf weiter, daß es doch dem Angeklagten
"nicht verargen könne," wenn er an der Hand der gedachten Widersprüche ?e.
zu der Annahme gelangt sei, daß Stöcker sich bewußt mit der Wahrheit in
Konflikt gesetzt habe. Es ist Regel, daß diejenige Beurteilung, die das Gericht
der Sache angedeihen läßt, auch der Angeklagte gegen sich gelten lassen muß;
und wenn dieser Grundsatz angewendet wurde, so mußte das Gericht allerdings
dem Angeklagten jene Annahme verargen. Oder lag etwa für den Angeklagten die
Beurteilung der Frage anders als für das Gericht? Ohne Zweifel wollte man nnr
sagen, es gereiche dem Angeklagten einigermaßen zur Entschuldigung, daß Fälle vor¬
liegen, die sich auf dem Grenzgebiet relativer Wahrheit und Unwahrheit bewegen.

Noch an vielen andern Stellen hat das Urteil Aussprüche gegeben, die
offenbar ihre Spitze gegen Stöcker kehren, ohne daß diese Aussprüche durch die
Sachlage veranlaßt waren. Wenn, wie das Gericht annahm, die Beschäftigung
des :c. Aschenbrenner als Redakteur rechtlich nicht in betracht kam, so war auch
die Bemerkung im Urteile überflüssig: "Mag es auch noch so unangemessen er¬
scheinen, einen Portier mit der Zeichnung von Artikeln zu befassen." Der Vor¬
gang mit dem Pfarrer Witte stand den äußern Thatsachen nach völlig fest.
Wollte aber das Gericht -- worauf es doch vor allem ankam -- annehmen,
daß dabei Stöcker aus "Ehrgeiz" und aus "Rache" (welche der Vorsitzende in
"Revanche" übersetzte) gehandelt habe, so hätte dies doch noch einer besondern
Begründung bedurft. Diese fehlt aber in dem Urteil. Nahm das Gericht an,
daß der Vorgang mit Ewald, weil er erst nach Erscheinen der beleidigenden
Artikel stattgefunden habe, nicht in betracht komme (was sich mit wenigen
Worten hätte sagen lassen), so hatte es auch keinen Beruf auszusprechen: "Mag
man über diesen Eid (Stöckers) denken, wie man will, mag man ihn als einen
vorsichtigen oder, was wohl näher liegt, unvorsichtigen ansehen." Hatte Stöcker
die Bezeichnung jemandes als Juden mit der Bemerkung zurückgenommen:
"Nun, dann ist er noch schlimmer als ein Jude!" so war doch das Gericht nicht


stehenden Thatsachen sich in Widerspruch gesetzt habe, paßt also nicht und steht
zum Teil mit den eignen Entscheidnngsgründen des Gerichtes nicht im Einklange.
Nur in diesen Verhältnissen, allenfalls in Verbindung mit der „Erregtheit"
Stöckers, kann aber der eigentliche Grund gefunden werden, welcher den Vor¬
wurf die Lüge ausschloß. Statt dieses klar auszusprechen, gebraucht das Urteil
die ungeeignete Form, erst einen entschiednen Widerspruch mit den Thatsachen
zu konstatiren und dann einen unzureichenden Entschuldigungsgrund dafür auf¬
zustellen — eine Form, die der Agitation gegen Stöcker nicht wenig zu statten
kam. Auch die Bemerkung in dein Urteile, daß bei der Antisemitenpetition
Stöcker „umsomehr" mit den Thatsachen sich in Widerspruch gesetzt habe, weil
er nicht freiwillig, sondern auf Drängen Försters, seine Unterschrift zurück¬
gezogen habe, ist ganz unverständlich.

Nachdem nun das Urteil sich für Annahme eines „Irrtums" bei Stöcker
ausgesprochen, erklärt es gleich darauf weiter, daß es doch dem Angeklagten
„nicht verargen könne," wenn er an der Hand der gedachten Widersprüche ?e.
zu der Annahme gelangt sei, daß Stöcker sich bewußt mit der Wahrheit in
Konflikt gesetzt habe. Es ist Regel, daß diejenige Beurteilung, die das Gericht
der Sache angedeihen läßt, auch der Angeklagte gegen sich gelten lassen muß;
und wenn dieser Grundsatz angewendet wurde, so mußte das Gericht allerdings
dem Angeklagten jene Annahme verargen. Oder lag etwa für den Angeklagten die
Beurteilung der Frage anders als für das Gericht? Ohne Zweifel wollte man nnr
sagen, es gereiche dem Angeklagten einigermaßen zur Entschuldigung, daß Fälle vor¬
liegen, die sich auf dem Grenzgebiet relativer Wahrheit und Unwahrheit bewegen.

Noch an vielen andern Stellen hat das Urteil Aussprüche gegeben, die
offenbar ihre Spitze gegen Stöcker kehren, ohne daß diese Aussprüche durch die
Sachlage veranlaßt waren. Wenn, wie das Gericht annahm, die Beschäftigung
des :c. Aschenbrenner als Redakteur rechtlich nicht in betracht kam, so war auch
die Bemerkung im Urteile überflüssig: „Mag es auch noch so unangemessen er¬
scheinen, einen Portier mit der Zeichnung von Artikeln zu befassen." Der Vor¬
gang mit dem Pfarrer Witte stand den äußern Thatsachen nach völlig fest.
Wollte aber das Gericht — worauf es doch vor allem ankam — annehmen,
daß dabei Stöcker aus „Ehrgeiz" und aus „Rache" (welche der Vorsitzende in
„Revanche" übersetzte) gehandelt habe, so hätte dies doch noch einer besondern
Begründung bedurft. Diese fehlt aber in dem Urteil. Nahm das Gericht an,
daß der Vorgang mit Ewald, weil er erst nach Erscheinen der beleidigenden
Artikel stattgefunden habe, nicht in betracht komme (was sich mit wenigen
Worten hätte sagen lassen), so hatte es auch keinen Beruf auszusprechen: „Mag
man über diesen Eid (Stöckers) denken, wie man will, mag man ihn als einen
vorsichtigen oder, was wohl näher liegt, unvorsichtigen ansehen." Hatte Stöcker
die Bezeichnung jemandes als Juden mit der Bemerkung zurückgenommen:
„Nun, dann ist er noch schlimmer als ein Jude!" so war doch das Gericht nicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/20>, abgerufen am 22.11.2024.