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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Zum Weimarer Jubilate.

christlich in unsrer Literatur? Dagegen befand sich zu Goethes Zeit der
Schriftsteller zum Christentum ungefähr in der gleichen Lage wie der Ketzer in
stockkatholischem Lande: "Hut ab! und auf die Knie! mach wenigstens ein
Gaukelspiel, Hallunk, wenn dir nicht Schlimmes widerfahren soll." Freilich
wenn der Geist gegenwärtig freier ist, so sind wir dafür umso ängstlicher in
der Form; für Form aber hat der Staatsanwalt den Blick des vierfach destil-
lirten Obcrzeremonienmeisters, Und Goethe kann schauderhaft unanständig sein.
Die Zeit wird aber doch wohl einmal eintreten müssen, wo, was für die alten
Klassiker und für die der Franzosen recht, für die unsern billig ist. Einen
Staatsanwalt, der sich an Goethe wagte, giebt es überhaupt schwerlich mehr;
und um die freiwilligen Tugeudwächter, die immer noch beschränkt genug sind,
zu glauben, Goethe sei der Mann, müde Junggesellen zu kitzeln -- um die
brauchen wir uns nicht zu kümmern.

Einen äußern Punkt schließlich, der auch noch mitzählt, sollte doch keine
Erwägung übergehen. Der letzte Goethe-Enkel hat den Schatz des Nachlasses
einer hohen Frau übertragen. Sie hat die Pflicht, die sie damit auf sich
nahm, hochherzig aufgefaßt, und bis jetzt ist alles so schön gelungen. Vergessen
wir aber nicht, daß eine Verantwortung auf ihr ruhen bleibt, anch nachdem sie
das teure Vermächtnis rein in reine Hände gelegt hat. Sie darf doch nicht
bösartigen Bemerkungen ausgesetzt werden! Man sollte sich sehr hüten, zu
schlechten Witzen -- etwa über "Textkritik im Unterrocke" oder über den "Goethe
für höhere Töchter" Gelegenheit zu geben.

Wer sich großer Dinge unterfängt, der setzt sich in ein Glashaus. So lasse
er wenigstens von seiner Arbeit nicht selber die Brocken fallen, womit ihm Buben
die Scheiben einwerfen könnten.

Was werden denn jene Verse überhaupt so Schlimmes enthalten, daß
Sitte und Kirche dadurch gefährdet werden sollten? Mau wird schwerlich jemanden
davon überzeugen, daß nicht vor Goethe und nach Goethe weit gewagtere Ge¬
danken gedruckt worden wären. Und was die Gesellschaftsfähigkeit der Form
anlangt, so bewegen sich doch schon die Paralipomena der landläufigen Aus¬
gaben mindestens in Hemdsärmeln. Hat man jemanden aber erst den Nock ab¬
legen lassen, so ist alles weitere doch nur noch ein Unterschied des Grades.
Haben wir das Durchbrechen der Schranke einmal geduldet, so haben wir ehr¬
licherweise kein Recht mehr über fernere Ausschreitungen zu zetern. Ärgernis
giebt jenes wie dieses. Denn "das Nacktgöttliche ist ihnen fatal, und ein Satyr
hat immer seine guten Gründe, wenn er Hosen anzieht und darauf bringt, daß
auch Apollo Hosen anziehe" -- man findet manchmal auch bei Heine Stellen,
die für ewige Zeiten geschrieben sind.

Betrachten wir doch einmal den Erfolg, den man sich von dieser Ge¬
heimniskrämerei versprechen darf. Glaubt man wirklich, daß jene Zeilen
fernerhin unbekannt bleiben werden? Bisher war das denkbar, solange sie noch


Zum Weimarer Jubilate.

christlich in unsrer Literatur? Dagegen befand sich zu Goethes Zeit der
Schriftsteller zum Christentum ungefähr in der gleichen Lage wie der Ketzer in
stockkatholischem Lande: „Hut ab! und auf die Knie! mach wenigstens ein
Gaukelspiel, Hallunk, wenn dir nicht Schlimmes widerfahren soll." Freilich
wenn der Geist gegenwärtig freier ist, so sind wir dafür umso ängstlicher in
der Form; für Form aber hat der Staatsanwalt den Blick des vierfach destil-
lirten Obcrzeremonienmeisters, Und Goethe kann schauderhaft unanständig sein.
Die Zeit wird aber doch wohl einmal eintreten müssen, wo, was für die alten
Klassiker und für die der Franzosen recht, für die unsern billig ist. Einen
Staatsanwalt, der sich an Goethe wagte, giebt es überhaupt schwerlich mehr;
und um die freiwilligen Tugeudwächter, die immer noch beschränkt genug sind,
zu glauben, Goethe sei der Mann, müde Junggesellen zu kitzeln — um die
brauchen wir uns nicht zu kümmern.

Einen äußern Punkt schließlich, der auch noch mitzählt, sollte doch keine
Erwägung übergehen. Der letzte Goethe-Enkel hat den Schatz des Nachlasses
einer hohen Frau übertragen. Sie hat die Pflicht, die sie damit auf sich
nahm, hochherzig aufgefaßt, und bis jetzt ist alles so schön gelungen. Vergessen
wir aber nicht, daß eine Verantwortung auf ihr ruhen bleibt, anch nachdem sie
das teure Vermächtnis rein in reine Hände gelegt hat. Sie darf doch nicht
bösartigen Bemerkungen ausgesetzt werden! Man sollte sich sehr hüten, zu
schlechten Witzen — etwa über „Textkritik im Unterrocke" oder über den „Goethe
für höhere Töchter" Gelegenheit zu geben.

Wer sich großer Dinge unterfängt, der setzt sich in ein Glashaus. So lasse
er wenigstens von seiner Arbeit nicht selber die Brocken fallen, womit ihm Buben
die Scheiben einwerfen könnten.

Was werden denn jene Verse überhaupt so Schlimmes enthalten, daß
Sitte und Kirche dadurch gefährdet werden sollten? Mau wird schwerlich jemanden
davon überzeugen, daß nicht vor Goethe und nach Goethe weit gewagtere Ge¬
danken gedruckt worden wären. Und was die Gesellschaftsfähigkeit der Form
anlangt, so bewegen sich doch schon die Paralipomena der landläufigen Aus¬
gaben mindestens in Hemdsärmeln. Hat man jemanden aber erst den Nock ab¬
legen lassen, so ist alles weitere doch nur noch ein Unterschied des Grades.
Haben wir das Durchbrechen der Schranke einmal geduldet, so haben wir ehr¬
licherweise kein Recht mehr über fernere Ausschreitungen zu zetern. Ärgernis
giebt jenes wie dieses. Denn „das Nacktgöttliche ist ihnen fatal, und ein Satyr
hat immer seine guten Gründe, wenn er Hosen anzieht und darauf bringt, daß
auch Apollo Hosen anziehe" — man findet manchmal auch bei Heine Stellen,
die für ewige Zeiten geschrieben sind.

Betrachten wir doch einmal den Erfolg, den man sich von dieser Ge¬
heimniskrämerei versprechen darf. Glaubt man wirklich, daß jene Zeilen
fernerhin unbekannt bleiben werden? Bisher war das denkbar, solange sie noch


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[0184] Zum Weimarer Jubilate. christlich in unsrer Literatur? Dagegen befand sich zu Goethes Zeit der Schriftsteller zum Christentum ungefähr in der gleichen Lage wie der Ketzer in stockkatholischem Lande: „Hut ab! und auf die Knie! mach wenigstens ein Gaukelspiel, Hallunk, wenn dir nicht Schlimmes widerfahren soll." Freilich wenn der Geist gegenwärtig freier ist, so sind wir dafür umso ängstlicher in der Form; für Form aber hat der Staatsanwalt den Blick des vierfach destil- lirten Obcrzeremonienmeisters, Und Goethe kann schauderhaft unanständig sein. Die Zeit wird aber doch wohl einmal eintreten müssen, wo, was für die alten Klassiker und für die der Franzosen recht, für die unsern billig ist. Einen Staatsanwalt, der sich an Goethe wagte, giebt es überhaupt schwerlich mehr; und um die freiwilligen Tugeudwächter, die immer noch beschränkt genug sind, zu glauben, Goethe sei der Mann, müde Junggesellen zu kitzeln — um die brauchen wir uns nicht zu kümmern. Einen äußern Punkt schließlich, der auch noch mitzählt, sollte doch keine Erwägung übergehen. Der letzte Goethe-Enkel hat den Schatz des Nachlasses einer hohen Frau übertragen. Sie hat die Pflicht, die sie damit auf sich nahm, hochherzig aufgefaßt, und bis jetzt ist alles so schön gelungen. Vergessen wir aber nicht, daß eine Verantwortung auf ihr ruhen bleibt, anch nachdem sie das teure Vermächtnis rein in reine Hände gelegt hat. Sie darf doch nicht bösartigen Bemerkungen ausgesetzt werden! Man sollte sich sehr hüten, zu schlechten Witzen — etwa über „Textkritik im Unterrocke" oder über den „Goethe für höhere Töchter" Gelegenheit zu geben. Wer sich großer Dinge unterfängt, der setzt sich in ein Glashaus. So lasse er wenigstens von seiner Arbeit nicht selber die Brocken fallen, womit ihm Buben die Scheiben einwerfen könnten. Was werden denn jene Verse überhaupt so Schlimmes enthalten, daß Sitte und Kirche dadurch gefährdet werden sollten? Mau wird schwerlich jemanden davon überzeugen, daß nicht vor Goethe und nach Goethe weit gewagtere Ge¬ danken gedruckt worden wären. Und was die Gesellschaftsfähigkeit der Form anlangt, so bewegen sich doch schon die Paralipomena der landläufigen Aus¬ gaben mindestens in Hemdsärmeln. Hat man jemanden aber erst den Nock ab¬ legen lassen, so ist alles weitere doch nur noch ein Unterschied des Grades. Haben wir das Durchbrechen der Schranke einmal geduldet, so haben wir ehr¬ licherweise kein Recht mehr über fernere Ausschreitungen zu zetern. Ärgernis giebt jenes wie dieses. Denn „das Nacktgöttliche ist ihnen fatal, und ein Satyr hat immer seine guten Gründe, wenn er Hosen anzieht und darauf bringt, daß auch Apollo Hosen anziehe" — man findet manchmal auch bei Heine Stellen, die für ewige Zeiten geschrieben sind. Betrachten wir doch einmal den Erfolg, den man sich von dieser Ge¬ heimniskrämerei versprechen darf. Glaubt man wirklich, daß jene Zeilen fernerhin unbekannt bleiben werden? Bisher war das denkbar, solange sie noch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/184>, abgerufen am 25.11.2024.