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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Hippolyte Adolphe Taine.

Samuel"; jede von ihnen entspringt aus einer natürlichen Neigung des herr¬
schenden Modells; es ist überall derselbe Geist, dasselbe Herz, welches gedacht,
gebetet, die Einbildungskraft in Bewegung gesetzt und gehandelt hat. Das ist
die eine Seite der Methode, nachzuweisen, daß die moralische Welt sogut ihre
"Abhängigkeiten" (äexönclMoss) hat wie die physische. Man muß aber auch
zweitens nachweisen, daß sie ihre Bedingungen (oonäiticms) hat. Bei dem ersten
Punkte werden gleichzeitige Dinge untersucht; der zweite bezieht sich auf Dinge,
die aufeinander folgen. Die Bedingung ist in der moralischen Welt so aus¬
reichend und so notwendig wie in der physischen; wenn sie vorhanden ist, so
kann das Werk nicht scheitern; ist sie nicht vorhanden, so kann es nicht zustande
kommen. "Aus dem englischen Charakter einerseits und dem Despotismus, welchen
die Tudors den Stuarts vermacht haben, andrerseits ist die englische Revolution
hervorgegangen. Aus dem französischen Charakter und der Adelsanarchie, welche
durch die Bürgerkriege den Bourbons vermacht wurde, ist die Monarchie Lud¬
wigs XIV. erwachsen."

Man sieht aus diesen Sätzen, daß Taine Determinist ist. Abhängigkeiten
und Bedingungen sind die treibenden Kräfte, welche die Geschichte machen; für
die menschliche Willensfreiheit bleibt nicht viel Spielraum. Deshalb macht auch
Charpentier in seiner Geschichte der französischen Literatur im neunzehnten Jahr¬
hundert (Paris, Garnier, 1875, S. 273--274) Taine den Vorwurf, daß er die
großen Geister wie eine Art von Maschine ansehe, bei denen es genüge, die
große Triebfeder und das Hauptrad zu kennen, um die Bewegung und das
Ergebnis voraus zu ahnen. "Ja, aber in einem Winkel der Maschine verbirgt
sich eine Feder, deren Kraft und Thätigkeit man nicht voraussehen kann. Das
ist die Freiheit." Wir vermeiden es, in eine Diskussion über die ganze Art
Taines einzutreten. Wer Determinist ist, wird ihm ohnehin beipflichten. Wer
es nicht ist, kann doch nicht umhin, der kühnen Sicherheit, mit welcher Taine
verfährt, seine volle Bewunderung zu zollen. Mau billigt es nicht, aber man
muß sagen: hier ist Methode, ist Logik, Es ist eine konsequente, fast schonungs¬
lose Art, den Menschen zu zergliedern, ihn geistig zu sezireu; aber sie führt in
ihrer Art zum Ziele.

Taine ist Franzose, damit ist schon gesagt, daß er geistreich ist. Aber es
ist nicht das Brilliren mit hohlen Thecitcreffekten, was man bei ihm findet; er
ist ein Mann von hervorragendem Fleiße, der außerordeutlich viel gearbeitet
und studirt hat und dessen schimmernde Perioden und Sentenzen, so leicht sie
seinem Munde zu entströmen scheinen, doch alle an der nächtlichen Lampe des
Demosthenes gewogen und wieder gewogen worden sind. Daß man es ihnen
nicht anmerkt, ist nur ein Ruhm mehr für den Autor; aber die Thatsache des
eisernsten von ihm aufgewandten Fleißes tritt einem entgegen, sobald man in
seinen Hauptwerken, dem philosophischen Zur I'intMiAsnc-L und dem historischen
über die französische Revolution, auch nur zu lesen anfängt. Se.-Beuve hat


Hippolyte Adolphe Taine.

Samuel»; jede von ihnen entspringt aus einer natürlichen Neigung des herr¬
schenden Modells; es ist überall derselbe Geist, dasselbe Herz, welches gedacht,
gebetet, die Einbildungskraft in Bewegung gesetzt und gehandelt hat. Das ist
die eine Seite der Methode, nachzuweisen, daß die moralische Welt sogut ihre
„Abhängigkeiten" (äexönclMoss) hat wie die physische. Man muß aber auch
zweitens nachweisen, daß sie ihre Bedingungen (oonäiticms) hat. Bei dem ersten
Punkte werden gleichzeitige Dinge untersucht; der zweite bezieht sich auf Dinge,
die aufeinander folgen. Die Bedingung ist in der moralischen Welt so aus¬
reichend und so notwendig wie in der physischen; wenn sie vorhanden ist, so
kann das Werk nicht scheitern; ist sie nicht vorhanden, so kann es nicht zustande
kommen. „Aus dem englischen Charakter einerseits und dem Despotismus, welchen
die Tudors den Stuarts vermacht haben, andrerseits ist die englische Revolution
hervorgegangen. Aus dem französischen Charakter und der Adelsanarchie, welche
durch die Bürgerkriege den Bourbons vermacht wurde, ist die Monarchie Lud¬
wigs XIV. erwachsen."

Man sieht aus diesen Sätzen, daß Taine Determinist ist. Abhängigkeiten
und Bedingungen sind die treibenden Kräfte, welche die Geschichte machen; für
die menschliche Willensfreiheit bleibt nicht viel Spielraum. Deshalb macht auch
Charpentier in seiner Geschichte der französischen Literatur im neunzehnten Jahr¬
hundert (Paris, Garnier, 1875, S. 273—274) Taine den Vorwurf, daß er die
großen Geister wie eine Art von Maschine ansehe, bei denen es genüge, die
große Triebfeder und das Hauptrad zu kennen, um die Bewegung und das
Ergebnis voraus zu ahnen. „Ja, aber in einem Winkel der Maschine verbirgt
sich eine Feder, deren Kraft und Thätigkeit man nicht voraussehen kann. Das
ist die Freiheit." Wir vermeiden es, in eine Diskussion über die ganze Art
Taines einzutreten. Wer Determinist ist, wird ihm ohnehin beipflichten. Wer
es nicht ist, kann doch nicht umhin, der kühnen Sicherheit, mit welcher Taine
verfährt, seine volle Bewunderung zu zollen. Mau billigt es nicht, aber man
muß sagen: hier ist Methode, ist Logik, Es ist eine konsequente, fast schonungs¬
lose Art, den Menschen zu zergliedern, ihn geistig zu sezireu; aber sie führt in
ihrer Art zum Ziele.

Taine ist Franzose, damit ist schon gesagt, daß er geistreich ist. Aber es
ist nicht das Brilliren mit hohlen Thecitcreffekten, was man bei ihm findet; er
ist ein Mann von hervorragendem Fleiße, der außerordeutlich viel gearbeitet
und studirt hat und dessen schimmernde Perioden und Sentenzen, so leicht sie
seinem Munde zu entströmen scheinen, doch alle an der nächtlichen Lampe des
Demosthenes gewogen und wieder gewogen worden sind. Daß man es ihnen
nicht anmerkt, ist nur ein Ruhm mehr für den Autor; aber die Thatsache des
eisernsten von ihm aufgewandten Fleißes tritt einem entgegen, sobald man in
seinen Hauptwerken, dem philosophischen Zur I'intMiAsnc-L und dem historischen
über die französische Revolution, auch nur zu lesen anfängt. Se.-Beuve hat


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[0180] Hippolyte Adolphe Taine. Samuel»; jede von ihnen entspringt aus einer natürlichen Neigung des herr¬ schenden Modells; es ist überall derselbe Geist, dasselbe Herz, welches gedacht, gebetet, die Einbildungskraft in Bewegung gesetzt und gehandelt hat. Das ist die eine Seite der Methode, nachzuweisen, daß die moralische Welt sogut ihre „Abhängigkeiten" (äexönclMoss) hat wie die physische. Man muß aber auch zweitens nachweisen, daß sie ihre Bedingungen (oonäiticms) hat. Bei dem ersten Punkte werden gleichzeitige Dinge untersucht; der zweite bezieht sich auf Dinge, die aufeinander folgen. Die Bedingung ist in der moralischen Welt so aus¬ reichend und so notwendig wie in der physischen; wenn sie vorhanden ist, so kann das Werk nicht scheitern; ist sie nicht vorhanden, so kann es nicht zustande kommen. „Aus dem englischen Charakter einerseits und dem Despotismus, welchen die Tudors den Stuarts vermacht haben, andrerseits ist die englische Revolution hervorgegangen. Aus dem französischen Charakter und der Adelsanarchie, welche durch die Bürgerkriege den Bourbons vermacht wurde, ist die Monarchie Lud¬ wigs XIV. erwachsen." Man sieht aus diesen Sätzen, daß Taine Determinist ist. Abhängigkeiten und Bedingungen sind die treibenden Kräfte, welche die Geschichte machen; für die menschliche Willensfreiheit bleibt nicht viel Spielraum. Deshalb macht auch Charpentier in seiner Geschichte der französischen Literatur im neunzehnten Jahr¬ hundert (Paris, Garnier, 1875, S. 273—274) Taine den Vorwurf, daß er die großen Geister wie eine Art von Maschine ansehe, bei denen es genüge, die große Triebfeder und das Hauptrad zu kennen, um die Bewegung und das Ergebnis voraus zu ahnen. „Ja, aber in einem Winkel der Maschine verbirgt sich eine Feder, deren Kraft und Thätigkeit man nicht voraussehen kann. Das ist die Freiheit." Wir vermeiden es, in eine Diskussion über die ganze Art Taines einzutreten. Wer Determinist ist, wird ihm ohnehin beipflichten. Wer es nicht ist, kann doch nicht umhin, der kühnen Sicherheit, mit welcher Taine verfährt, seine volle Bewunderung zu zollen. Mau billigt es nicht, aber man muß sagen: hier ist Methode, ist Logik, Es ist eine konsequente, fast schonungs¬ lose Art, den Menschen zu zergliedern, ihn geistig zu sezireu; aber sie führt in ihrer Art zum Ziele. Taine ist Franzose, damit ist schon gesagt, daß er geistreich ist. Aber es ist nicht das Brilliren mit hohlen Thecitcreffekten, was man bei ihm findet; er ist ein Mann von hervorragendem Fleiße, der außerordeutlich viel gearbeitet und studirt hat und dessen schimmernde Perioden und Sentenzen, so leicht sie seinem Munde zu entströmen scheinen, doch alle an der nächtlichen Lampe des Demosthenes gewogen und wieder gewogen worden sind. Daß man es ihnen nicht anmerkt, ist nur ein Ruhm mehr für den Autor; aber die Thatsache des eisernsten von ihm aufgewandten Fleißes tritt einem entgegen, sobald man in seinen Hauptwerken, dem philosophischen Zur I'intMiAsnc-L und dem historischen über die französische Revolution, auch nur zu lesen anfängt. Se.-Beuve hat

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/180>, abgerufen am 25.11.2024.