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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Hippolyte Adolphe Taine.
Mit Benutzung ungedruckter Mitteilungen.

Wn seinem geistvollen Buche "Frankreich und die Franzosen in der
zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts" (Berlin, Oppen¬
heim, 1874), in welchem die Gesellschaft, die Literatur und das
politische Leben Frankreichs einer scharfen und oft treffenden Be¬
urteilung unterzogen werden, sagt Karl Hillebrand -- unmittelbar
nachdem er festgestellt hat, daß "der letzte Funke der schöpferischen Kraft in der
Nation erloschen sei" --: "Vergessen darf es auch in einer Skizze des geistigen
Lebens der Nation nicht werden, daß die französische Kritik gerade jetzt auf¬
tritt, daß sie eigentlich erst in diesem Jahrhundert entstanden ist, daß sie, von
Villemcn'n begründet, durch Sainte-Beuvc zur Vollendung gebracht worden ist,
von ihm ihren speziellen Charakter, den psychologisch-biographischen, erhalten
hat; daß endlich die letzten zwanzig Jahre die feinsten und bedeutendsten Er¬
zeugnisse dieses in Frankreich noch so jungen Literatnrzweiges haben entstehen
sehen. Monteguts Tiefe, Renans Feinsinnigkeit und unübertroffene .Kunst,
Taines kühne Systematik und reiche Palette, Sarcehs Offenherzigkeit und Vor¬
urteilslosigkeit, Paul de Saint-Victors Wortplastik, Scherers Wissen und
Streben nach Objektivität sind neue und höchst bedeutende Erscheinungen des
geistigen Lebens, Erscheinungen, die man in Deutschland nicht genug studiren
kann."

Wir mochten im folgenden einen von diesen Schriftstellern herausgreife",
welche hier von einem, der auf der Grenzlinie der deutschen und französischen
Kultur gestanden und als Volksvermittler gedient hat, uns zur aufmerksamen
Veachtnng empfohlen werden.

Dieser Schriftsteller ist Hippvlyte Adolphe Taine. Die Leser der grünen
Hefte kennen ihn schon einigermaßen aus den Auszügen, welche im 44. Jahr¬
gange (I. Quartal, S. 11--22) aus seinem Werke über die französische Revo¬
lution mitgeteilt worden sind. Sie werden es sicherlich nicht ungern sehen,
wenn versucht wird, die Thätigkeit des Mannes noch etwas genauer zu be¬
leuchten. Weit entfernt freilich, erschöpfend sein zu können und zu wollen,
werden wir uns mit Umrissen begnügen müssen.

Taines Leben ist ziemlich einfach verlaufen; er ist im April 1828 zu
Vvuziers geboren, einer kleinen Stadt am Aisne, die im Departement der Ar-
dennen liegt und heute etwa 3500 Einwohner zählt, welche meist von feiner


Hippolyte Adolphe Taine.
Mit Benutzung ungedruckter Mitteilungen.

Wn seinem geistvollen Buche „Frankreich und die Franzosen in der
zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts" (Berlin, Oppen¬
heim, 1874), in welchem die Gesellschaft, die Literatur und das
politische Leben Frankreichs einer scharfen und oft treffenden Be¬
urteilung unterzogen werden, sagt Karl Hillebrand — unmittelbar
nachdem er festgestellt hat, daß „der letzte Funke der schöpferischen Kraft in der
Nation erloschen sei" —: „Vergessen darf es auch in einer Skizze des geistigen
Lebens der Nation nicht werden, daß die französische Kritik gerade jetzt auf¬
tritt, daß sie eigentlich erst in diesem Jahrhundert entstanden ist, daß sie, von
Villemcn'n begründet, durch Sainte-Beuvc zur Vollendung gebracht worden ist,
von ihm ihren speziellen Charakter, den psychologisch-biographischen, erhalten
hat; daß endlich die letzten zwanzig Jahre die feinsten und bedeutendsten Er¬
zeugnisse dieses in Frankreich noch so jungen Literatnrzweiges haben entstehen
sehen. Monteguts Tiefe, Renans Feinsinnigkeit und unübertroffene .Kunst,
Taines kühne Systematik und reiche Palette, Sarcehs Offenherzigkeit und Vor¬
urteilslosigkeit, Paul de Saint-Victors Wortplastik, Scherers Wissen und
Streben nach Objektivität sind neue und höchst bedeutende Erscheinungen des
geistigen Lebens, Erscheinungen, die man in Deutschland nicht genug studiren
kann."

Wir mochten im folgenden einen von diesen Schriftstellern herausgreife»,
welche hier von einem, der auf der Grenzlinie der deutschen und französischen
Kultur gestanden und als Volksvermittler gedient hat, uns zur aufmerksamen
Veachtnng empfohlen werden.

Dieser Schriftsteller ist Hippvlyte Adolphe Taine. Die Leser der grünen
Hefte kennen ihn schon einigermaßen aus den Auszügen, welche im 44. Jahr¬
gange (I. Quartal, S. 11—22) aus seinem Werke über die französische Revo¬
lution mitgeteilt worden sind. Sie werden es sicherlich nicht ungern sehen,
wenn versucht wird, die Thätigkeit des Mannes noch etwas genauer zu be¬
leuchten. Weit entfernt freilich, erschöpfend sein zu können und zu wollen,
werden wir uns mit Umrissen begnügen müssen.

Taines Leben ist ziemlich einfach verlaufen; er ist im April 1828 zu
Vvuziers geboren, einer kleinen Stadt am Aisne, die im Departement der Ar-
dennen liegt und heute etwa 3500 Einwohner zählt, welche meist von feiner


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[0176] Hippolyte Adolphe Taine. Mit Benutzung ungedruckter Mitteilungen. Wn seinem geistvollen Buche „Frankreich und die Franzosen in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts" (Berlin, Oppen¬ heim, 1874), in welchem die Gesellschaft, die Literatur und das politische Leben Frankreichs einer scharfen und oft treffenden Be¬ urteilung unterzogen werden, sagt Karl Hillebrand — unmittelbar nachdem er festgestellt hat, daß „der letzte Funke der schöpferischen Kraft in der Nation erloschen sei" —: „Vergessen darf es auch in einer Skizze des geistigen Lebens der Nation nicht werden, daß die französische Kritik gerade jetzt auf¬ tritt, daß sie eigentlich erst in diesem Jahrhundert entstanden ist, daß sie, von Villemcn'n begründet, durch Sainte-Beuvc zur Vollendung gebracht worden ist, von ihm ihren speziellen Charakter, den psychologisch-biographischen, erhalten hat; daß endlich die letzten zwanzig Jahre die feinsten und bedeutendsten Er¬ zeugnisse dieses in Frankreich noch so jungen Literatnrzweiges haben entstehen sehen. Monteguts Tiefe, Renans Feinsinnigkeit und unübertroffene .Kunst, Taines kühne Systematik und reiche Palette, Sarcehs Offenherzigkeit und Vor¬ urteilslosigkeit, Paul de Saint-Victors Wortplastik, Scherers Wissen und Streben nach Objektivität sind neue und höchst bedeutende Erscheinungen des geistigen Lebens, Erscheinungen, die man in Deutschland nicht genug studiren kann." Wir mochten im folgenden einen von diesen Schriftstellern herausgreife», welche hier von einem, der auf der Grenzlinie der deutschen und französischen Kultur gestanden und als Volksvermittler gedient hat, uns zur aufmerksamen Veachtnng empfohlen werden. Dieser Schriftsteller ist Hippvlyte Adolphe Taine. Die Leser der grünen Hefte kennen ihn schon einigermaßen aus den Auszügen, welche im 44. Jahr¬ gange (I. Quartal, S. 11—22) aus seinem Werke über die französische Revo¬ lution mitgeteilt worden sind. Sie werden es sicherlich nicht ungern sehen, wenn versucht wird, die Thätigkeit des Mannes noch etwas genauer zu be¬ leuchten. Weit entfernt freilich, erschöpfend sein zu können und zu wollen, werden wir uns mit Umrissen begnügen müssen. Taines Leben ist ziemlich einfach verlaufen; er ist im April 1828 zu Vvuziers geboren, einer kleinen Stadt am Aisne, die im Departement der Ar- dennen liegt und heute etwa 3500 Einwohner zählt, welche meist von feiner

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/176>, abgerufen am 28.11.2024.