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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Gustav Nachtigal in Tunis.

ist. Die Assoziativ" zur Brotverteilung ein die Armen, zu deren Komitee ich
gehöre, verteilt daneben noch täglich vierhundert Brote, sodaß man sagen kann,
daß trotz des hervorstechenden krassen Egoismus der europäischen Tunesier diesen
Winter recht viel geschehen ist.

Als sollte dem unglücklichen Lande keinerlei Heimsuchung erspart bleiben,
brach im folgenden Sommer eine verheerende Choleraepidemie ans. Nachtigal
fiel an Mühe und Gefahr wieder der Löwenanteil zu. Der Bey berief ihn
telegraphisch nach Gvletta, wo die Krankheit bedenkliche Dimensionen an¬
genommen hatte. Seitdem hatte er wenig Ruhe. Tag und Nacht hatte er
ausschließlich bei den Kranken zuzubringen, sodaß er bald äußerst abgespannt
war. Dennoch war ihm die ganze Thätigkeit eine höchst wohlthuende. Wenn
auch die Resultate seiner ärztlichen Anstrengungen keine glänzenden waren, da
die Epidemie sehr mörderisch auftrat, so hatte er doch das befriedigende Be¬
wußtsein, seine schwachen Kräfte auss möglichste zum Besten seiner Mitmenschen
ausgebeutet zu haben. Ja er wurde noch einmal zu einem Truppenkorps ge¬
sandt, das an der algerischen Grenze gegen Aufrührer im Felde stand und von
der Cholera arg mitgenommen wurde.

Inzwischen wuchs die finanzielle Kalamität rapide. Die gewissenlose Ver¬
waltung hatte dem Lande im Laufe weniger Jahre eine exorbitante Schulden¬
last aufgebürdet, und die Aufraffung des Staates nach der oben geschilderten
Revolution hatte, weit entfernt, eine bessere Epoche anzubahnen, den momentan
vermehrten Kredit nur noch unheilvoller ausgebeutet. Neue Aufstände folgten,
aber die Machthaber, glücklich in der Überwindung derselben, waren blind gegen
solche Mahnungen. Eine Intervention Frankreichs oder Italiens wurde damals
vielleicht nnr dnrch die Komplikation der römischen Frage zurückgehalten. In¬
folge des Stenerdruckes und mehrerer Mißernten herrschte chronische Hungersnot.
Auf eine aus der Heimat um ihn gerichtete Anfrage erwiederte Nachtigal, daß in
den Zeitungen nicht nur nichts übertrieben sei, sondern man sicherlich überall hinter
der Wahrheit zurückgeblieben sei. Man habe Menschenfleisch nicht nur gegessen,
sondern auch eingepökelt. Für ihn speziell erwuchs aus der allgemeinen Not
noch der Übelstand, daß sein Gehalt, der nominell jetzt nicht unbeträchtlich war,
fast nur auf dem Papiere stand. Die Kassen waren leer; höchstens erhielt er
minderwertiges Kupfergeld, wenn er sich nicht mit Schatzscheinen abfinden lassen
wollte, die zwcmzigprozentigen Wert hatten. Nur die Noblesse seines Charakters
hielt ihn ab, seine Forderungen mit Nachdruck geltend zu machen.

Seit vorigem Februar habe ich, schreibt er im November 1866, kein Gehalt
in Empfang genommen, d. h. seit fast Jahresfrist, ebensowenig Tabatieren oder ähn¬
liche Wertstücke. Um vernünftig mit dem Grvßvezir und Sidi Rustan zu sprechen,
möchte ich jedoch gern abwarten, bis die Regierung in ihrer Existenz und ihren
Geschäften wieder etwas konsolidirt sein wird. Es hat etwas uukouvenables, von
den kleinlichen Interessen des Einzelnen zu sprechen, wenn das Wohl von Millionen
den Großen im Kopfe liegt. Noch immer ist die Fiucmzkrisis nicht vorüber. Kein


Gustav Nachtigal in Tunis.

ist. Die Assoziativ« zur Brotverteilung ein die Armen, zu deren Komitee ich
gehöre, verteilt daneben noch täglich vierhundert Brote, sodaß man sagen kann,
daß trotz des hervorstechenden krassen Egoismus der europäischen Tunesier diesen
Winter recht viel geschehen ist.

Als sollte dem unglücklichen Lande keinerlei Heimsuchung erspart bleiben,
brach im folgenden Sommer eine verheerende Choleraepidemie ans. Nachtigal
fiel an Mühe und Gefahr wieder der Löwenanteil zu. Der Bey berief ihn
telegraphisch nach Gvletta, wo die Krankheit bedenkliche Dimensionen an¬
genommen hatte. Seitdem hatte er wenig Ruhe. Tag und Nacht hatte er
ausschließlich bei den Kranken zuzubringen, sodaß er bald äußerst abgespannt
war. Dennoch war ihm die ganze Thätigkeit eine höchst wohlthuende. Wenn
auch die Resultate seiner ärztlichen Anstrengungen keine glänzenden waren, da
die Epidemie sehr mörderisch auftrat, so hatte er doch das befriedigende Be¬
wußtsein, seine schwachen Kräfte auss möglichste zum Besten seiner Mitmenschen
ausgebeutet zu haben. Ja er wurde noch einmal zu einem Truppenkorps ge¬
sandt, das an der algerischen Grenze gegen Aufrührer im Felde stand und von
der Cholera arg mitgenommen wurde.

Inzwischen wuchs die finanzielle Kalamität rapide. Die gewissenlose Ver¬
waltung hatte dem Lande im Laufe weniger Jahre eine exorbitante Schulden¬
last aufgebürdet, und die Aufraffung des Staates nach der oben geschilderten
Revolution hatte, weit entfernt, eine bessere Epoche anzubahnen, den momentan
vermehrten Kredit nur noch unheilvoller ausgebeutet. Neue Aufstände folgten,
aber die Machthaber, glücklich in der Überwindung derselben, waren blind gegen
solche Mahnungen. Eine Intervention Frankreichs oder Italiens wurde damals
vielleicht nnr dnrch die Komplikation der römischen Frage zurückgehalten. In¬
folge des Stenerdruckes und mehrerer Mißernten herrschte chronische Hungersnot.
Auf eine aus der Heimat um ihn gerichtete Anfrage erwiederte Nachtigal, daß in
den Zeitungen nicht nur nichts übertrieben sei, sondern man sicherlich überall hinter
der Wahrheit zurückgeblieben sei. Man habe Menschenfleisch nicht nur gegessen,
sondern auch eingepökelt. Für ihn speziell erwuchs aus der allgemeinen Not
noch der Übelstand, daß sein Gehalt, der nominell jetzt nicht unbeträchtlich war,
fast nur auf dem Papiere stand. Die Kassen waren leer; höchstens erhielt er
minderwertiges Kupfergeld, wenn er sich nicht mit Schatzscheinen abfinden lassen
wollte, die zwcmzigprozentigen Wert hatten. Nur die Noblesse seines Charakters
hielt ihn ab, seine Forderungen mit Nachdruck geltend zu machen.

Seit vorigem Februar habe ich, schreibt er im November 1866, kein Gehalt
in Empfang genommen, d. h. seit fast Jahresfrist, ebensowenig Tabatieren oder ähn¬
liche Wertstücke. Um vernünftig mit dem Grvßvezir und Sidi Rustan zu sprechen,
möchte ich jedoch gern abwarten, bis die Regierung in ihrer Existenz und ihren
Geschäften wieder etwas konsolidirt sein wird. Es hat etwas uukouvenables, von
den kleinlichen Interessen des Einzelnen zu sprechen, wenn das Wohl von Millionen
den Großen im Kopfe liegt. Noch immer ist die Fiucmzkrisis nicht vorüber. Kein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/170>, abgerufen am 25.11.2024.