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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Der Liberalismus und der prinzipielle Konservatismus.

eignen und auf diese beschränkten Spezialzustände? Der müßte uns in der That
uicht verstanden haben, der dies sagen wollte. In nnserm Sinne ist alles, was
dem Gemeinwohl als solchem, was der Kontinuität und gesicherten Festigkeit
innerer Zustande, was dem Verantwortlichkcitsgefühle des Einzelnen gegenüber
der Gesamtheit dient, auf den Einfluß konservativer Ideen zurückzuführen, und
gewiß wird kein Liberaler sich finden, der sich diesen Dingen gegenüber gleich-
giltig verhalten wollte, während es doch leichte Mühe wäre, nach.^nweiseu, daß
sie nicht auf dem Boden des Liberalismus erwachsen sind, und daß Strömungen
innerhalb des letztern ihnen stets feindlich gegenübergestanden haben. So gut
man also sagen kann, der heutige Konservatismus stehe auf liberaler Grundlage
und seine berechtigten Bestrebungen ließen sich auf liberale Gesichtspunkte zurück¬
führen, so gut kann man umgekehrt sagen, der heutige Liberalismus stehe auf
konservativer Grundlage und seine berechtigten Bestrebungen ließen sich auf
konservative Gesichtspunkte zurückführen. Gewiß, uicht der strammste Konser¬
vative unsrer Zeit möchte die Einrichtungen aus der Zeit Friedrichs des
Großen wiederhergestellt sehen; gewiß, er würde denselben gegenüber als Li¬
beraler denken und empfinden. Aber möchte der prinzipiellste Liberale unsrer
Zeit in einem Staate leben, in dem Bakunins "negatives Recht" oder die
Grundsätze Max Stirners herrschten? Würde da nicht auch der eingefleischteste
Anhänger des Judividualprinzips auf einmal als Konservativer denken und
empfinden?

Wir unsrerseits beanspruchen, wie aus obigem hervorgeht, keinen Vorrang,
sondern bloß die Gleichberechtigung unsers prinzipiellen Standpunktes, während
der Liberalismus für den seinigen die Alleinberechtigung prätendirt. Gewiß
liegt hierin für uns ein Moment der Schwäche; wer von Haus aus weniger
fordert als der Gegner, der gesteht diesem einen gewissen Vorrang zu. Hierin liegt
offenbar der Grund, aus dem unser heutiger Konservatismus im allgemeinen
nicht die gleiche Energie, nicht die gleiche rücksichtslose Schärfe des Parteigeistes
entwickelt wie der Liberalismus, zumal der fortgeschrittene. Indessen das dürfte
sich mit der Zeit ausgleichen, und je gebieterischer einerseits die sozialen For¬
derungen des Tages, andrerseits die Schwächen und die Anzeichen fortschrei¬
tender Unterwühlung unsers Staats- und Gesellschaftsgebäudes an uns heran¬
treten, je größer wird die Zahl derjenigen Konservativen werden, welche mit
gleich tiefer Erbitterung den liberalen, wie die Liberalen den konservativen
Bestrebungen gegenüberstehen. Denn man verliere nicht aus den Augen, daß
auch die konservative Anschauung im Besitze ihrer besondern Vorteile ist. Schlie߬
lich haben alle besitzenden und regierenden Klassen eine natürliche Hinneigung
zu ihr, die insofern auch ganz legitim ist, als ja doch das Bestehende gegenüber
allen Faktoren, die es zu stürzen oder zu modifiziren suchen, und gegenüber
allen geistigen und materiellen Kräften, die hierbei mitwirken, mit Recht sagen
kann: "Ihr alle, die ihr mich bekämpft, existirt doch nur durch mich, seid


Der Liberalismus und der prinzipielle Konservatismus.

eignen und auf diese beschränkten Spezialzustände? Der müßte uns in der That
uicht verstanden haben, der dies sagen wollte. In nnserm Sinne ist alles, was
dem Gemeinwohl als solchem, was der Kontinuität und gesicherten Festigkeit
innerer Zustande, was dem Verantwortlichkcitsgefühle des Einzelnen gegenüber
der Gesamtheit dient, auf den Einfluß konservativer Ideen zurückzuführen, und
gewiß wird kein Liberaler sich finden, der sich diesen Dingen gegenüber gleich-
giltig verhalten wollte, während es doch leichte Mühe wäre, nach.^nweiseu, daß
sie nicht auf dem Boden des Liberalismus erwachsen sind, und daß Strömungen
innerhalb des letztern ihnen stets feindlich gegenübergestanden haben. So gut
man also sagen kann, der heutige Konservatismus stehe auf liberaler Grundlage
und seine berechtigten Bestrebungen ließen sich auf liberale Gesichtspunkte zurück¬
führen, so gut kann man umgekehrt sagen, der heutige Liberalismus stehe auf
konservativer Grundlage und seine berechtigten Bestrebungen ließen sich auf
konservative Gesichtspunkte zurückführen. Gewiß, uicht der strammste Konser¬
vative unsrer Zeit möchte die Einrichtungen aus der Zeit Friedrichs des
Großen wiederhergestellt sehen; gewiß, er würde denselben gegenüber als Li¬
beraler denken und empfinden. Aber möchte der prinzipiellste Liberale unsrer
Zeit in einem Staate leben, in dem Bakunins „negatives Recht" oder die
Grundsätze Max Stirners herrschten? Würde da nicht auch der eingefleischteste
Anhänger des Judividualprinzips auf einmal als Konservativer denken und
empfinden?

Wir unsrerseits beanspruchen, wie aus obigem hervorgeht, keinen Vorrang,
sondern bloß die Gleichberechtigung unsers prinzipiellen Standpunktes, während
der Liberalismus für den seinigen die Alleinberechtigung prätendirt. Gewiß
liegt hierin für uns ein Moment der Schwäche; wer von Haus aus weniger
fordert als der Gegner, der gesteht diesem einen gewissen Vorrang zu. Hierin liegt
offenbar der Grund, aus dem unser heutiger Konservatismus im allgemeinen
nicht die gleiche Energie, nicht die gleiche rücksichtslose Schärfe des Parteigeistes
entwickelt wie der Liberalismus, zumal der fortgeschrittene. Indessen das dürfte
sich mit der Zeit ausgleichen, und je gebieterischer einerseits die sozialen For¬
derungen des Tages, andrerseits die Schwächen und die Anzeichen fortschrei¬
tender Unterwühlung unsers Staats- und Gesellschaftsgebäudes an uns heran¬
treten, je größer wird die Zahl derjenigen Konservativen werden, welche mit
gleich tiefer Erbitterung den liberalen, wie die Liberalen den konservativen
Bestrebungen gegenüberstehen. Denn man verliere nicht aus den Augen, daß
auch die konservative Anschauung im Besitze ihrer besondern Vorteile ist. Schlie߬
lich haben alle besitzenden und regierenden Klassen eine natürliche Hinneigung
zu ihr, die insofern auch ganz legitim ist, als ja doch das Bestehende gegenüber
allen Faktoren, die es zu stürzen oder zu modifiziren suchen, und gegenüber
allen geistigen und materiellen Kräften, die hierbei mitwirken, mit Recht sagen
kann: „Ihr alle, die ihr mich bekämpft, existirt doch nur durch mich, seid


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[0165] Der Liberalismus und der prinzipielle Konservatismus. eignen und auf diese beschränkten Spezialzustände? Der müßte uns in der That uicht verstanden haben, der dies sagen wollte. In nnserm Sinne ist alles, was dem Gemeinwohl als solchem, was der Kontinuität und gesicherten Festigkeit innerer Zustande, was dem Verantwortlichkcitsgefühle des Einzelnen gegenüber der Gesamtheit dient, auf den Einfluß konservativer Ideen zurückzuführen, und gewiß wird kein Liberaler sich finden, der sich diesen Dingen gegenüber gleich- giltig verhalten wollte, während es doch leichte Mühe wäre, nach.^nweiseu, daß sie nicht auf dem Boden des Liberalismus erwachsen sind, und daß Strömungen innerhalb des letztern ihnen stets feindlich gegenübergestanden haben. So gut man also sagen kann, der heutige Konservatismus stehe auf liberaler Grundlage und seine berechtigten Bestrebungen ließen sich auf liberale Gesichtspunkte zurück¬ führen, so gut kann man umgekehrt sagen, der heutige Liberalismus stehe auf konservativer Grundlage und seine berechtigten Bestrebungen ließen sich auf konservative Gesichtspunkte zurückführen. Gewiß, uicht der strammste Konser¬ vative unsrer Zeit möchte die Einrichtungen aus der Zeit Friedrichs des Großen wiederhergestellt sehen; gewiß, er würde denselben gegenüber als Li¬ beraler denken und empfinden. Aber möchte der prinzipiellste Liberale unsrer Zeit in einem Staate leben, in dem Bakunins „negatives Recht" oder die Grundsätze Max Stirners herrschten? Würde da nicht auch der eingefleischteste Anhänger des Judividualprinzips auf einmal als Konservativer denken und empfinden? Wir unsrerseits beanspruchen, wie aus obigem hervorgeht, keinen Vorrang, sondern bloß die Gleichberechtigung unsers prinzipiellen Standpunktes, während der Liberalismus für den seinigen die Alleinberechtigung prätendirt. Gewiß liegt hierin für uns ein Moment der Schwäche; wer von Haus aus weniger fordert als der Gegner, der gesteht diesem einen gewissen Vorrang zu. Hierin liegt offenbar der Grund, aus dem unser heutiger Konservatismus im allgemeinen nicht die gleiche Energie, nicht die gleiche rücksichtslose Schärfe des Parteigeistes entwickelt wie der Liberalismus, zumal der fortgeschrittene. Indessen das dürfte sich mit der Zeit ausgleichen, und je gebieterischer einerseits die sozialen For¬ derungen des Tages, andrerseits die Schwächen und die Anzeichen fortschrei¬ tender Unterwühlung unsers Staats- und Gesellschaftsgebäudes an uns heran¬ treten, je größer wird die Zahl derjenigen Konservativen werden, welche mit gleich tiefer Erbitterung den liberalen, wie die Liberalen den konservativen Bestrebungen gegenüberstehen. Denn man verliere nicht aus den Augen, daß auch die konservative Anschauung im Besitze ihrer besondern Vorteile ist. Schlie߬ lich haben alle besitzenden und regierenden Klassen eine natürliche Hinneigung zu ihr, die insofern auch ganz legitim ist, als ja doch das Bestehende gegenüber allen Faktoren, die es zu stürzen oder zu modifiziren suchen, und gegenüber allen geistigen und materiellen Kräften, die hierbei mitwirken, mit Recht sagen kann: „Ihr alle, die ihr mich bekämpft, existirt doch nur durch mich, seid

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/165>, abgerufen am 28.11.2024.