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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Der Liberalismus und der prinzipielle Konservatismus.

gehen dürfe. Dies, und dies allein, ist am letzten Ende der Punkt, um den
die Parteien sich hcrnmzanken und ewig herumzanken werden.

Ja wenn es ein Absolutes gäbe! wenn es z. B. möglich wäre, in einer
Reihe unantastbarer Folgesätze darzuthun, daß die Grenze an dem und dem
Punkte gezogen werden müsse, und daß derjenige Mensch ein unzweifelhaftes
Unrecht, sei es gegen die Gesamtheit oder sei es gegen das Recht des Einzelnen,
ausübe, der diese Grenze nicht sorglich innehält! Dann hätten wir ja die viel¬
genannte und vielerschnte Partei der "ehrlichen Leute," der jeder wohlmeinende
und urteilsfähige Mensch beitreten müßte, und um die Dissentirenden brauchten
sich dann nur noch die Gerichte und die Schule zu bekümmern! Aber so ist
es ja doch nicht -- es ist und bleibt doch unleugbar, daß auch sehr wohl¬
meinende und sehr urteilsfähige Leute der einen Partei gewisse Sätze, welche
die andre Partei für ganz und gar feststehend und unerschütterlich hält, gleich¬
wohl verwerfen! Wie kommt das? Nun, einfach daher, weil in den mensch¬
lichen Dingen die Nückbeziehung auf ein logisch Notwendiges sich nun einmal
nicht herstellen läßt, sondern in letzter Instanz immer die Anschauung es ist,
welche entscheidet. Die Anschauung aber ist tausend- und millionenfach verschieden,
denn sie quillt eben ans dem tiefsten Innern des Menschen, ans den verborgnen
Schachten seines Gemütslebens und seiner Empfindungswelt; ja man kann sagen,
daß sie den eigentlichsten Ausdruck seiner Individualität bildet. Es giebt also
im gründe so viele Anschauungen wie Menschen, wenn dieselben sich auch
vielfach gruppiren und zum großen Teil unter eine Anzahl allgemeiner Gesichts¬
punkte bringen lassen. Wie kann man nun hoffen, gegenüber den praktischen
Fragen des Tages eine Einheit dieser Anschauungen zu gewinnen, da doch alle
diese Fragen sich auf Punkte beziehen, die schon je nach Geburt, Erziehung,
Lebensweise, Interessen, Gewöhnungen n. s. w. des Betrachtenden in eine unendlich
mannichfaltige Beleuchtung gerückt werden können, und umso gewisser in der
Anschauung des einen sich so, in der des andern sich gerade entgegengesetzt
ausnehmen? Da es aber so ist, so giebt es nichts innerlich Unwahreres, ja
nichts Unlogischeres als den geistigen Hochmut einer Partei, sie allein sei
Prinzipiell berechtigt und alle andern Parteien beruhten entweder auf Un¬
wissenheit oder auf Bosheit; denn nur die "Partei aller ehrlichen Leute" dürfte
so sprechen, und diese Partei wäre, wie wir gezeigt haben, nur dann möglich,
wenn alle wohlmeinenden und urteilsfähigen Menschen betreffs der großen
prinzipiellen Hauptfrage (deren Erledigung die aller Nebenfragen nach sich
ziehen würde) zu einem bestimmten Resultate kommen müßten.

Vielleicht tritt das, was wir meinen, noch deutlicher zutage, wenn wir
einen einzelnen Punkt aus den liberalen Prätensionen herausgreifen und den¬
selben praktisch beleuchten. Mit großem Empressement wird oft von liberalen
Schriftstellern und in liberalen Blättern darauf hingewiesen, daß auch die kon¬
servativen Bestrebungen sich heute vielfach in liberalen Bahnen bewegten, und


Der Liberalismus und der prinzipielle Konservatismus.

gehen dürfe. Dies, und dies allein, ist am letzten Ende der Punkt, um den
die Parteien sich hcrnmzanken und ewig herumzanken werden.

Ja wenn es ein Absolutes gäbe! wenn es z. B. möglich wäre, in einer
Reihe unantastbarer Folgesätze darzuthun, daß die Grenze an dem und dem
Punkte gezogen werden müsse, und daß derjenige Mensch ein unzweifelhaftes
Unrecht, sei es gegen die Gesamtheit oder sei es gegen das Recht des Einzelnen,
ausübe, der diese Grenze nicht sorglich innehält! Dann hätten wir ja die viel¬
genannte und vielerschnte Partei der „ehrlichen Leute," der jeder wohlmeinende
und urteilsfähige Mensch beitreten müßte, und um die Dissentirenden brauchten
sich dann nur noch die Gerichte und die Schule zu bekümmern! Aber so ist
es ja doch nicht — es ist und bleibt doch unleugbar, daß auch sehr wohl¬
meinende und sehr urteilsfähige Leute der einen Partei gewisse Sätze, welche
die andre Partei für ganz und gar feststehend und unerschütterlich hält, gleich¬
wohl verwerfen! Wie kommt das? Nun, einfach daher, weil in den mensch¬
lichen Dingen die Nückbeziehung auf ein logisch Notwendiges sich nun einmal
nicht herstellen läßt, sondern in letzter Instanz immer die Anschauung es ist,
welche entscheidet. Die Anschauung aber ist tausend- und millionenfach verschieden,
denn sie quillt eben ans dem tiefsten Innern des Menschen, ans den verborgnen
Schachten seines Gemütslebens und seiner Empfindungswelt; ja man kann sagen,
daß sie den eigentlichsten Ausdruck seiner Individualität bildet. Es giebt also
im gründe so viele Anschauungen wie Menschen, wenn dieselben sich auch
vielfach gruppiren und zum großen Teil unter eine Anzahl allgemeiner Gesichts¬
punkte bringen lassen. Wie kann man nun hoffen, gegenüber den praktischen
Fragen des Tages eine Einheit dieser Anschauungen zu gewinnen, da doch alle
diese Fragen sich auf Punkte beziehen, die schon je nach Geburt, Erziehung,
Lebensweise, Interessen, Gewöhnungen n. s. w. des Betrachtenden in eine unendlich
mannichfaltige Beleuchtung gerückt werden können, und umso gewisser in der
Anschauung des einen sich so, in der des andern sich gerade entgegengesetzt
ausnehmen? Da es aber so ist, so giebt es nichts innerlich Unwahreres, ja
nichts Unlogischeres als den geistigen Hochmut einer Partei, sie allein sei
Prinzipiell berechtigt und alle andern Parteien beruhten entweder auf Un¬
wissenheit oder auf Bosheit; denn nur die „Partei aller ehrlichen Leute" dürfte
so sprechen, und diese Partei wäre, wie wir gezeigt haben, nur dann möglich,
wenn alle wohlmeinenden und urteilsfähigen Menschen betreffs der großen
prinzipiellen Hauptfrage (deren Erledigung die aller Nebenfragen nach sich
ziehen würde) zu einem bestimmten Resultate kommen müßten.

Vielleicht tritt das, was wir meinen, noch deutlicher zutage, wenn wir
einen einzelnen Punkt aus den liberalen Prätensionen herausgreifen und den¬
selben praktisch beleuchten. Mit großem Empressement wird oft von liberalen
Schriftstellern und in liberalen Blättern darauf hingewiesen, daß auch die kon¬
servativen Bestrebungen sich heute vielfach in liberalen Bahnen bewegten, und


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[0163] Der Liberalismus und der prinzipielle Konservatismus. gehen dürfe. Dies, und dies allein, ist am letzten Ende der Punkt, um den die Parteien sich hcrnmzanken und ewig herumzanken werden. Ja wenn es ein Absolutes gäbe! wenn es z. B. möglich wäre, in einer Reihe unantastbarer Folgesätze darzuthun, daß die Grenze an dem und dem Punkte gezogen werden müsse, und daß derjenige Mensch ein unzweifelhaftes Unrecht, sei es gegen die Gesamtheit oder sei es gegen das Recht des Einzelnen, ausübe, der diese Grenze nicht sorglich innehält! Dann hätten wir ja die viel¬ genannte und vielerschnte Partei der „ehrlichen Leute," der jeder wohlmeinende und urteilsfähige Mensch beitreten müßte, und um die Dissentirenden brauchten sich dann nur noch die Gerichte und die Schule zu bekümmern! Aber so ist es ja doch nicht — es ist und bleibt doch unleugbar, daß auch sehr wohl¬ meinende und sehr urteilsfähige Leute der einen Partei gewisse Sätze, welche die andre Partei für ganz und gar feststehend und unerschütterlich hält, gleich¬ wohl verwerfen! Wie kommt das? Nun, einfach daher, weil in den mensch¬ lichen Dingen die Nückbeziehung auf ein logisch Notwendiges sich nun einmal nicht herstellen läßt, sondern in letzter Instanz immer die Anschauung es ist, welche entscheidet. Die Anschauung aber ist tausend- und millionenfach verschieden, denn sie quillt eben ans dem tiefsten Innern des Menschen, ans den verborgnen Schachten seines Gemütslebens und seiner Empfindungswelt; ja man kann sagen, daß sie den eigentlichsten Ausdruck seiner Individualität bildet. Es giebt also im gründe so viele Anschauungen wie Menschen, wenn dieselben sich auch vielfach gruppiren und zum großen Teil unter eine Anzahl allgemeiner Gesichts¬ punkte bringen lassen. Wie kann man nun hoffen, gegenüber den praktischen Fragen des Tages eine Einheit dieser Anschauungen zu gewinnen, da doch alle diese Fragen sich auf Punkte beziehen, die schon je nach Geburt, Erziehung, Lebensweise, Interessen, Gewöhnungen n. s. w. des Betrachtenden in eine unendlich mannichfaltige Beleuchtung gerückt werden können, und umso gewisser in der Anschauung des einen sich so, in der des andern sich gerade entgegengesetzt ausnehmen? Da es aber so ist, so giebt es nichts innerlich Unwahreres, ja nichts Unlogischeres als den geistigen Hochmut einer Partei, sie allein sei Prinzipiell berechtigt und alle andern Parteien beruhten entweder auf Un¬ wissenheit oder auf Bosheit; denn nur die „Partei aller ehrlichen Leute" dürfte so sprechen, und diese Partei wäre, wie wir gezeigt haben, nur dann möglich, wenn alle wohlmeinenden und urteilsfähigen Menschen betreffs der großen prinzipiellen Hauptfrage (deren Erledigung die aller Nebenfragen nach sich ziehen würde) zu einem bestimmten Resultate kommen müßten. Vielleicht tritt das, was wir meinen, noch deutlicher zutage, wenn wir einen einzelnen Punkt aus den liberalen Prätensionen herausgreifen und den¬ selben praktisch beleuchten. Mit großem Empressement wird oft von liberalen Schriftstellern und in liberalen Blättern darauf hingewiesen, daß auch die kon¬ servativen Bestrebungen sich heute vielfach in liberalen Bahnen bewegten, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/163>, abgerufen am 25.11.2024.