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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Der Liberalismus und der prinzipielle Konservatismus.

außen möglichst im Rahmen des deutschen Staates festgehalten wissen; die
liberale Partei, hervorgegangen aus den Emanzipationsbestrebungen des vorigen
Jahrhunderts, wie sie ist, will die Stärke und Entwicklungsfähigkeit des Staates
in erster Linie immer nur als ein Mittel aufgefaßt wissen, recht viele Einzelne
zu fördern und den Einzelnen ein immer steigendes Maß von Wohlbefinden und
Unabhängigkeit zu verleihein Wer kann sagen, welches das Bessere sei? In der
That ist keines das Bessere -- jedes von beiden ist gleich notwendig, um Staat
und Volk vorwärts zu führen, und von den beiden Eimern muß notwendig der
eine ab-, der andre aussteigen, um die Aufgaben unsrer Kulturentwicklung zu er¬
fülle". Jeder Teil muß zu Zeiten seine speziellen Grundsätze zur Herrschaft
bringen, und findet, eben weil er jetzt zur Herrschaft gelangt ist, eine Menge
Punkte, in denen er mit vollem Rechte ändern und umgestalten kann. Dann
aber kommt die andre Partei und sagt mit gleichem Rechte: Hier bist du,
Gegenpartei, zu weit gegangen, hier hast du einen wichtigen Gesichtspunkt un¬
berücksichtigt gelassen, hier hast du ein Interesse gepflegt, welches dessen keineswegs
wert ist; jetzt tritt mir wieder die Leitung ab, damit ich deine Fehler gut machen
kann. Und so geht es in unaufhörlichem Spiel der Kräfte und der beiderseitigen
Gesichtspunkte, deren jeder einen Teil des Nichtigen in sich schließt, unausgesetzt
weiter. Gehört wirklich ein so gar nicht zu erschwingendes Maß von Un¬
befangenheit dazu, um auch auf liberaler Seite diese Anschauung zu hegen und
derselben gemäß auch dein Gegner seinen Anteil innerer Berechtigung einzu¬
räumen? Oder will man vielleicht die abgestandene Bastiatsche Redensart von
einer "Harmonie der Interessen" neu zu beleben suchen, um hierdurch den Aus¬
gangspunkt zu der Behauptung, in der Sorge für den Einzelnen sorge man
immer gleichzeitig für die Gesamtheit mit, zu gewinnen? Für so unvorsichtig
halten wir doch den modernen Liberalismus nicht!

Natürlich werden die prinzipiellen Liberalen sofort schreien: unsre Charak¬
teristik der Parteien sei haltlos, denn sie seien auch für Festigkeit und Leistungs¬
fähigkeit des Staates, nur dürfe die Fürsorge für diesen Punkt nicht über die
richtige Grenze hinausgehen. Ja wer nur diese "richtige Grenze" festzusetzen
vermöchte! Als ob der Gegensatz uicht gerade darin beruhte, daß die Menschen
über diese Grenze verschiedner Ansicht sind! Mit dem nämlichen Rechte, mit
dem die Liberalen auch sich die Eigenschaft von Staatsfreunden vindiziren und
sich gegen den Vorwurf staatsfeindlicher Gesinnung verwahren, können die
Konservativen versichern, es falle ihnen garnicht ein, das Recht des Einzelnen
und die Notwendigkeit möglichst freier Bewegung für denselben leugnen zu
wollen, nur müsse auch dies innerhalb der richtigen Grenzen gehalten werden.
Jede dieser beiden Anschauungen ist ja, wie alles Menschliche, immer nur
relativ; gewiß verlangt keiner von beiden Teilen, der von ihm bevorzugte
Gesichtspunkt solle der allein maßgebende sein, aber es ist eben keine Einigkeit
darüber zu erzielen, wie weit der Geltungsbereich des einen und der des andern


Der Liberalismus und der prinzipielle Konservatismus.

außen möglichst im Rahmen des deutschen Staates festgehalten wissen; die
liberale Partei, hervorgegangen aus den Emanzipationsbestrebungen des vorigen
Jahrhunderts, wie sie ist, will die Stärke und Entwicklungsfähigkeit des Staates
in erster Linie immer nur als ein Mittel aufgefaßt wissen, recht viele Einzelne
zu fördern und den Einzelnen ein immer steigendes Maß von Wohlbefinden und
Unabhängigkeit zu verleihein Wer kann sagen, welches das Bessere sei? In der
That ist keines das Bessere — jedes von beiden ist gleich notwendig, um Staat
und Volk vorwärts zu führen, und von den beiden Eimern muß notwendig der
eine ab-, der andre aussteigen, um die Aufgaben unsrer Kulturentwicklung zu er¬
fülle». Jeder Teil muß zu Zeiten seine speziellen Grundsätze zur Herrschaft
bringen, und findet, eben weil er jetzt zur Herrschaft gelangt ist, eine Menge
Punkte, in denen er mit vollem Rechte ändern und umgestalten kann. Dann
aber kommt die andre Partei und sagt mit gleichem Rechte: Hier bist du,
Gegenpartei, zu weit gegangen, hier hast du einen wichtigen Gesichtspunkt un¬
berücksichtigt gelassen, hier hast du ein Interesse gepflegt, welches dessen keineswegs
wert ist; jetzt tritt mir wieder die Leitung ab, damit ich deine Fehler gut machen
kann. Und so geht es in unaufhörlichem Spiel der Kräfte und der beiderseitigen
Gesichtspunkte, deren jeder einen Teil des Nichtigen in sich schließt, unausgesetzt
weiter. Gehört wirklich ein so gar nicht zu erschwingendes Maß von Un¬
befangenheit dazu, um auch auf liberaler Seite diese Anschauung zu hegen und
derselben gemäß auch dein Gegner seinen Anteil innerer Berechtigung einzu¬
räumen? Oder will man vielleicht die abgestandene Bastiatsche Redensart von
einer „Harmonie der Interessen" neu zu beleben suchen, um hierdurch den Aus¬
gangspunkt zu der Behauptung, in der Sorge für den Einzelnen sorge man
immer gleichzeitig für die Gesamtheit mit, zu gewinnen? Für so unvorsichtig
halten wir doch den modernen Liberalismus nicht!

Natürlich werden die prinzipiellen Liberalen sofort schreien: unsre Charak¬
teristik der Parteien sei haltlos, denn sie seien auch für Festigkeit und Leistungs¬
fähigkeit des Staates, nur dürfe die Fürsorge für diesen Punkt nicht über die
richtige Grenze hinausgehen. Ja wer nur diese „richtige Grenze" festzusetzen
vermöchte! Als ob der Gegensatz uicht gerade darin beruhte, daß die Menschen
über diese Grenze verschiedner Ansicht sind! Mit dem nämlichen Rechte, mit
dem die Liberalen auch sich die Eigenschaft von Staatsfreunden vindiziren und
sich gegen den Vorwurf staatsfeindlicher Gesinnung verwahren, können die
Konservativen versichern, es falle ihnen garnicht ein, das Recht des Einzelnen
und die Notwendigkeit möglichst freier Bewegung für denselben leugnen zu
wollen, nur müsse auch dies innerhalb der richtigen Grenzen gehalten werden.
Jede dieser beiden Anschauungen ist ja, wie alles Menschliche, immer nur
relativ; gewiß verlangt keiner von beiden Teilen, der von ihm bevorzugte
Gesichtspunkt solle der allein maßgebende sein, aber es ist eben keine Einigkeit
darüber zu erzielen, wie weit der Geltungsbereich des einen und der des andern


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[0162] Der Liberalismus und der prinzipielle Konservatismus. außen möglichst im Rahmen des deutschen Staates festgehalten wissen; die liberale Partei, hervorgegangen aus den Emanzipationsbestrebungen des vorigen Jahrhunderts, wie sie ist, will die Stärke und Entwicklungsfähigkeit des Staates in erster Linie immer nur als ein Mittel aufgefaßt wissen, recht viele Einzelne zu fördern und den Einzelnen ein immer steigendes Maß von Wohlbefinden und Unabhängigkeit zu verleihein Wer kann sagen, welches das Bessere sei? In der That ist keines das Bessere — jedes von beiden ist gleich notwendig, um Staat und Volk vorwärts zu führen, und von den beiden Eimern muß notwendig der eine ab-, der andre aussteigen, um die Aufgaben unsrer Kulturentwicklung zu er¬ fülle». Jeder Teil muß zu Zeiten seine speziellen Grundsätze zur Herrschaft bringen, und findet, eben weil er jetzt zur Herrschaft gelangt ist, eine Menge Punkte, in denen er mit vollem Rechte ändern und umgestalten kann. Dann aber kommt die andre Partei und sagt mit gleichem Rechte: Hier bist du, Gegenpartei, zu weit gegangen, hier hast du einen wichtigen Gesichtspunkt un¬ berücksichtigt gelassen, hier hast du ein Interesse gepflegt, welches dessen keineswegs wert ist; jetzt tritt mir wieder die Leitung ab, damit ich deine Fehler gut machen kann. Und so geht es in unaufhörlichem Spiel der Kräfte und der beiderseitigen Gesichtspunkte, deren jeder einen Teil des Nichtigen in sich schließt, unausgesetzt weiter. Gehört wirklich ein so gar nicht zu erschwingendes Maß von Un¬ befangenheit dazu, um auch auf liberaler Seite diese Anschauung zu hegen und derselben gemäß auch dein Gegner seinen Anteil innerer Berechtigung einzu¬ räumen? Oder will man vielleicht die abgestandene Bastiatsche Redensart von einer „Harmonie der Interessen" neu zu beleben suchen, um hierdurch den Aus¬ gangspunkt zu der Behauptung, in der Sorge für den Einzelnen sorge man immer gleichzeitig für die Gesamtheit mit, zu gewinnen? Für so unvorsichtig halten wir doch den modernen Liberalismus nicht! Natürlich werden die prinzipiellen Liberalen sofort schreien: unsre Charak¬ teristik der Parteien sei haltlos, denn sie seien auch für Festigkeit und Leistungs¬ fähigkeit des Staates, nur dürfe die Fürsorge für diesen Punkt nicht über die richtige Grenze hinausgehen. Ja wer nur diese „richtige Grenze" festzusetzen vermöchte! Als ob der Gegensatz uicht gerade darin beruhte, daß die Menschen über diese Grenze verschiedner Ansicht sind! Mit dem nämlichen Rechte, mit dem die Liberalen auch sich die Eigenschaft von Staatsfreunden vindiziren und sich gegen den Vorwurf staatsfeindlicher Gesinnung verwahren, können die Konservativen versichern, es falle ihnen garnicht ein, das Recht des Einzelnen und die Notwendigkeit möglichst freier Bewegung für denselben leugnen zu wollen, nur müsse auch dies innerhalb der richtigen Grenzen gehalten werden. Jede dieser beiden Anschauungen ist ja, wie alles Menschliche, immer nur relativ; gewiß verlangt keiner von beiden Teilen, der von ihm bevorzugte Gesichtspunkt solle der allein maßgebende sein, aber es ist eben keine Einigkeit darüber zu erzielen, wie weit der Geltungsbereich des einen und der des andern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/162>, abgerufen am 25.11.2024.