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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Der Liberalisinus und der prinzipielle Aonsorvatismus.

unsern "Liberalen." Daher kommt es auch, daß der heutige Liberalismus eine
so merkwürdige Neigung hat, der konservativen Seite vorzudozircn, welchen
Standpunkt allein er als einen "berechtigt konservativen" anerkennen könne,
und gewisse, von der gewaltigen konservativen Tagesströmung unberührt ge¬
bliebene altkonscrvative Philister als Musterknaben eines "wirklichen Konserva¬
tismus" auszugeben. Wie würde sich der Liberalismus ins Fäustchen lachen,
wenn es wirklich keine andern Konservativen mehr gäbe! Auf der andern Seite
werden aus demselben Grunde diejenigen Konservativen, welche in der politischen
Agitation einen prinzipiellen Gesichtspunkt hervorkehren, mit so ganz ausbün-
digen Hasse und so wütender Verfolgung beehrt.

Wir sprachen einmal mit einem Manne, welcher in der gegnerischen Presse
eine gewisse Rolle spielt und welcher sich persönlich eine leidliche Unbefangen¬
heit des Urteils gerettet hatte, über die Möglichkeit, dem politischen Partei¬
kämpfe eine weniger scharfe und bösartige Färbung zu geben. Es war dem
betreffenden Herrn ebenso auffallend wie unangenehm, daß wir als die erste
Forderung, die wir unsrerseits behufs einer etwaigen gegenseitigen Abmachung
an die Gegenpartei zu stellen hätten, folgendes bezeichneten: dieselbe müsse auf¬
hören, unsre Partei prinzipiell als eine minderberechtigte, als eine einesteils
nur von der Regierung aufrecht gehaltene, andernteils ans bloßen eigensüchtigen
Interessenten bestehende zu bezeichnen, und -- stillschweigend oder direkt -- so zu
thun, als könne doch ein gebildeter, sachkundiger, auf das öffentliche Wohl be¬
dachter Mann unmöglich anders als etwa unter dem Drucke zufälliger, äußer¬
licher Umstände unsrer Partei angehören; mit einem Worte, wir betonten, daß
unser Prinzip als ein, wenn auch -bekämpftes und für falsch gehaltenes, so doch
in seiner Art gleichfalls berechtigtes und in sich vollkommen mögliches aner¬
kannt werden müsse. Eine bestimmte Antwort gab unser Gegner nicht, aber
auf seinem Gesichte stand zu lesen, daß gerade diese Forderung für seine Partei
unerfüllbar sei. In der That, wie kann der heutige Liberalismus darauf ver¬
zichten, sich seinen Anhängern gegenüber wenigstens noch, nachdem alle praktischen
Gesichtspunkte sich gegen den Liberalisinus erklärt haben, als den Träger des
innerlich allein möglichen, allen "gebildeten Leuten" notwendigerweise gemein¬
samen Prinzips aufzuspielen! Das ist ja das Einzige, was ihn noch hält!
Wenn sonst nichts, so ist doch dieses Eine dem Liberalismus in den Jahren
seiner Herrschaft gelungen: dem Publikum, namentlich dem gesamten deutschen
Philistertum, die Überzeugung beizubringen, daß "gebildet" und "liberal" gleich¬
bedeutend seien oder sich doch gegenseitig ergänzten. Allen Schiffbruchs in
nationalen, sozialen, wirtschaftlichen, ethischen Fragen ungeachtet, vermag der
Liberalismus, dank allein dieser Überzeugung, seine Fahne noch immer hochzu¬
halten und Leute, die im Herzen längst so antiliberal wie nur möglich geworden
sind, massenhaft zu seinen Urnen zu führen. Und dn soll er den Ast, auf dem er
sitzt, durch das Zugeständnis absägen, daß die Konservativen auch ein Prinzip


Der Liberalisinus und der prinzipielle Aonsorvatismus.

unsern „Liberalen." Daher kommt es auch, daß der heutige Liberalismus eine
so merkwürdige Neigung hat, der konservativen Seite vorzudozircn, welchen
Standpunkt allein er als einen „berechtigt konservativen" anerkennen könne,
und gewisse, von der gewaltigen konservativen Tagesströmung unberührt ge¬
bliebene altkonscrvative Philister als Musterknaben eines „wirklichen Konserva¬
tismus" auszugeben. Wie würde sich der Liberalismus ins Fäustchen lachen,
wenn es wirklich keine andern Konservativen mehr gäbe! Auf der andern Seite
werden aus demselben Grunde diejenigen Konservativen, welche in der politischen
Agitation einen prinzipiellen Gesichtspunkt hervorkehren, mit so ganz ausbün-
digen Hasse und so wütender Verfolgung beehrt.

Wir sprachen einmal mit einem Manne, welcher in der gegnerischen Presse
eine gewisse Rolle spielt und welcher sich persönlich eine leidliche Unbefangen¬
heit des Urteils gerettet hatte, über die Möglichkeit, dem politischen Partei¬
kämpfe eine weniger scharfe und bösartige Färbung zu geben. Es war dem
betreffenden Herrn ebenso auffallend wie unangenehm, daß wir als die erste
Forderung, die wir unsrerseits behufs einer etwaigen gegenseitigen Abmachung
an die Gegenpartei zu stellen hätten, folgendes bezeichneten: dieselbe müsse auf¬
hören, unsre Partei prinzipiell als eine minderberechtigte, als eine einesteils
nur von der Regierung aufrecht gehaltene, andernteils ans bloßen eigensüchtigen
Interessenten bestehende zu bezeichnen, und — stillschweigend oder direkt — so zu
thun, als könne doch ein gebildeter, sachkundiger, auf das öffentliche Wohl be¬
dachter Mann unmöglich anders als etwa unter dem Drucke zufälliger, äußer¬
licher Umstände unsrer Partei angehören; mit einem Worte, wir betonten, daß
unser Prinzip als ein, wenn auch -bekämpftes und für falsch gehaltenes, so doch
in seiner Art gleichfalls berechtigtes und in sich vollkommen mögliches aner¬
kannt werden müsse. Eine bestimmte Antwort gab unser Gegner nicht, aber
auf seinem Gesichte stand zu lesen, daß gerade diese Forderung für seine Partei
unerfüllbar sei. In der That, wie kann der heutige Liberalismus darauf ver¬
zichten, sich seinen Anhängern gegenüber wenigstens noch, nachdem alle praktischen
Gesichtspunkte sich gegen den Liberalisinus erklärt haben, als den Träger des
innerlich allein möglichen, allen „gebildeten Leuten" notwendigerweise gemein¬
samen Prinzips aufzuspielen! Das ist ja das Einzige, was ihn noch hält!
Wenn sonst nichts, so ist doch dieses Eine dem Liberalismus in den Jahren
seiner Herrschaft gelungen: dem Publikum, namentlich dem gesamten deutschen
Philistertum, die Überzeugung beizubringen, daß „gebildet" und „liberal" gleich¬
bedeutend seien oder sich doch gegenseitig ergänzten. Allen Schiffbruchs in
nationalen, sozialen, wirtschaftlichen, ethischen Fragen ungeachtet, vermag der
Liberalismus, dank allein dieser Überzeugung, seine Fahne noch immer hochzu¬
halten und Leute, die im Herzen längst so antiliberal wie nur möglich geworden
sind, massenhaft zu seinen Urnen zu führen. Und dn soll er den Ast, auf dem er
sitzt, durch das Zugeständnis absägen, daß die Konservativen auch ein Prinzip


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[0160] Der Liberalisinus und der prinzipielle Aonsorvatismus. unsern „Liberalen." Daher kommt es auch, daß der heutige Liberalismus eine so merkwürdige Neigung hat, der konservativen Seite vorzudozircn, welchen Standpunkt allein er als einen „berechtigt konservativen" anerkennen könne, und gewisse, von der gewaltigen konservativen Tagesströmung unberührt ge¬ bliebene altkonscrvative Philister als Musterknaben eines „wirklichen Konserva¬ tismus" auszugeben. Wie würde sich der Liberalismus ins Fäustchen lachen, wenn es wirklich keine andern Konservativen mehr gäbe! Auf der andern Seite werden aus demselben Grunde diejenigen Konservativen, welche in der politischen Agitation einen prinzipiellen Gesichtspunkt hervorkehren, mit so ganz ausbün- digen Hasse und so wütender Verfolgung beehrt. Wir sprachen einmal mit einem Manne, welcher in der gegnerischen Presse eine gewisse Rolle spielt und welcher sich persönlich eine leidliche Unbefangen¬ heit des Urteils gerettet hatte, über die Möglichkeit, dem politischen Partei¬ kämpfe eine weniger scharfe und bösartige Färbung zu geben. Es war dem betreffenden Herrn ebenso auffallend wie unangenehm, daß wir als die erste Forderung, die wir unsrerseits behufs einer etwaigen gegenseitigen Abmachung an die Gegenpartei zu stellen hätten, folgendes bezeichneten: dieselbe müsse auf¬ hören, unsre Partei prinzipiell als eine minderberechtigte, als eine einesteils nur von der Regierung aufrecht gehaltene, andernteils ans bloßen eigensüchtigen Interessenten bestehende zu bezeichnen, und — stillschweigend oder direkt — so zu thun, als könne doch ein gebildeter, sachkundiger, auf das öffentliche Wohl be¬ dachter Mann unmöglich anders als etwa unter dem Drucke zufälliger, äußer¬ licher Umstände unsrer Partei angehören; mit einem Worte, wir betonten, daß unser Prinzip als ein, wenn auch -bekämpftes und für falsch gehaltenes, so doch in seiner Art gleichfalls berechtigtes und in sich vollkommen mögliches aner¬ kannt werden müsse. Eine bestimmte Antwort gab unser Gegner nicht, aber auf seinem Gesichte stand zu lesen, daß gerade diese Forderung für seine Partei unerfüllbar sei. In der That, wie kann der heutige Liberalismus darauf ver¬ zichten, sich seinen Anhängern gegenüber wenigstens noch, nachdem alle praktischen Gesichtspunkte sich gegen den Liberalisinus erklärt haben, als den Träger des innerlich allein möglichen, allen „gebildeten Leuten" notwendigerweise gemein¬ samen Prinzips aufzuspielen! Das ist ja das Einzige, was ihn noch hält! Wenn sonst nichts, so ist doch dieses Eine dem Liberalismus in den Jahren seiner Herrschaft gelungen: dem Publikum, namentlich dem gesamten deutschen Philistertum, die Überzeugung beizubringen, daß „gebildet" und „liberal" gleich¬ bedeutend seien oder sich doch gegenseitig ergänzten. Allen Schiffbruchs in nationalen, sozialen, wirtschaftlichen, ethischen Fragen ungeachtet, vermag der Liberalismus, dank allein dieser Überzeugung, seine Fahne noch immer hochzu¬ halten und Leute, die im Herzen längst so antiliberal wie nur möglich geworden sind, massenhaft zu seinen Urnen zu führen. Und dn soll er den Ast, auf dem er sitzt, durch das Zugeständnis absägen, daß die Konservativen auch ein Prinzip

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/160>, abgerufen am 25.11.2024.