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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Kurzsichtige Politiker.

den Staatsgesetzen ihre Anerkennung versagen und mit Fortschrittlern, Sozial¬
demokratin, und Polen kooperiren wollten! Das Kunststück ist so plump, und
scheint doch immer noch zu wirken. Auch sonst werde" deutsche Zustüude gern
benutzt, in dem Vertrauen, daß der Zeitungsleser von denselben nicht mehr wisse,
als was eben die Zeitung ihm zukommen läßt. Im deutschen Reichstage sitzen
weniger Antisemiten, als im nächsten Neichsrate ihren Platz finde" werden.
Das kommt aber nicht etwa daher, daß das Judentum in Deutschland noch
nicht zu jeuer gefährlichen Macht herangewachsen ist wie in Österreich, sondern
ist eine Folge -- man höre und staune! -- des allgemeinen Stimmrechts!
"Große Gefahren drohen von jenen Elemente" des Volkes, welche heute noch
nicht direkt teilnehmen an der politischen Arbeit, aber die Probleme, welche
diese gewaltige Menge bewegen, sind von einem erschütternden Er"sie und von
einer edel" Ehrlichkeit. In diese Gemüter ist keine Spur vou Nassenthevrie ge¬
drungen, sie wissen, daß der Hunger alle Menschen gleichmäßig schmerzt und
daß das Elend alle heimsucht, weß Glaubens sie auch seien. An dem Tage,
wo die ehernen Schritte der Arbeiterbataillone vernommen werden sollten, wo
das ganze Volk bei den Wahlen seine Stimme erheben wird, da beginnen die
ernstesten Probleme der Gesellschaft, aber da verschwindet auch der Antisemi¬
tismus, das häßliche Produkt wirtschaftlicher Reaktion, der traurigste Beweis
für die Macht der Lüge." Zu diesem unglaublichen Unsinn verstieg sich dieser
Tage das Hauptorgan des Manchestertums, unmittelbar nachdem der Brunner
Arbeiterstreik in den Fabriken der Juden ausgebrochen war und die Arbeiter
der christlichen Fabrikanten die Arbeit erst einstellten, als der Terrorismus der
Streitenden sie dazu zwang! In Hietzing wäre ein Antisemit beinahe gewählt
worden -- das ist ernster als die ernstesten Gefahren, welche die Gesellschaft
bedrohe"! Wie groß muß die Angst der Herren bereits sein, wenn sie schlecht¬
weg drucken lassen, der Antisemitismus greife in Österreich um sich, weil die
jetzige politische Generation noch ans der Konkordatsschule, der Schule der In¬
toleranz, hervorgegangen sei, und "nirgends sei ein größeres Elend zu finden
als in jenen Kreisen, welche ihr Leben durch den Gewinn aus der Vermittlung
zwischen de" Erzeugern und Verzehren: finden müssen." Der Passus ist zu schön,
als daß wir uns enthalten könnte", ihn wörtlich wiederzugeben. Auch werden
wieder die edelsten Juden hergezählt, diesmal nicht Moses Mendelssohn, sondern
Johann Jacobs und Laster, damals Feinde der "verknöcherten Bourgeoisie, "Lassalle
und Marx, und endlich die sozialdemokratischen Juden im deutschen Reichstage.
Die Zeitung hätte noch einen Schritt weiter gehen und geltend machen können,
welche Rolle Juden in den Hauptquartieren des Nihilismus und Anarchismus
spielen, in den Konvention, von welchen fanatisirte Christen mit Dolch und
Dynamik ausgesandt werden. Aber dann hätte doch einer oder der andre Leser
auf den Gedanken kommen können, daß es der Hang des Semiten zum Zer¬
setzen und Untergraben sei, was die heutige Bewegung ins Leben gerufen hat.


Kurzsichtige Politiker.

den Staatsgesetzen ihre Anerkennung versagen und mit Fortschrittlern, Sozial¬
demokratin, und Polen kooperiren wollten! Das Kunststück ist so plump, und
scheint doch immer noch zu wirken. Auch sonst werde» deutsche Zustüude gern
benutzt, in dem Vertrauen, daß der Zeitungsleser von denselben nicht mehr wisse,
als was eben die Zeitung ihm zukommen läßt. Im deutschen Reichstage sitzen
weniger Antisemiten, als im nächsten Neichsrate ihren Platz finde» werden.
Das kommt aber nicht etwa daher, daß das Judentum in Deutschland noch
nicht zu jeuer gefährlichen Macht herangewachsen ist wie in Österreich, sondern
ist eine Folge — man höre und staune! — des allgemeinen Stimmrechts!
„Große Gefahren drohen von jenen Elemente» des Volkes, welche heute noch
nicht direkt teilnehmen an der politischen Arbeit, aber die Probleme, welche
diese gewaltige Menge bewegen, sind von einem erschütternden Er»sie und von
einer edel» Ehrlichkeit. In diese Gemüter ist keine Spur vou Nassenthevrie ge¬
drungen, sie wissen, daß der Hunger alle Menschen gleichmäßig schmerzt und
daß das Elend alle heimsucht, weß Glaubens sie auch seien. An dem Tage,
wo die ehernen Schritte der Arbeiterbataillone vernommen werden sollten, wo
das ganze Volk bei den Wahlen seine Stimme erheben wird, da beginnen die
ernstesten Probleme der Gesellschaft, aber da verschwindet auch der Antisemi¬
tismus, das häßliche Produkt wirtschaftlicher Reaktion, der traurigste Beweis
für die Macht der Lüge." Zu diesem unglaublichen Unsinn verstieg sich dieser
Tage das Hauptorgan des Manchestertums, unmittelbar nachdem der Brunner
Arbeiterstreik in den Fabriken der Juden ausgebrochen war und die Arbeiter
der christlichen Fabrikanten die Arbeit erst einstellten, als der Terrorismus der
Streitenden sie dazu zwang! In Hietzing wäre ein Antisemit beinahe gewählt
worden — das ist ernster als die ernstesten Gefahren, welche die Gesellschaft
bedrohe»! Wie groß muß die Angst der Herren bereits sein, wenn sie schlecht¬
weg drucken lassen, der Antisemitismus greife in Österreich um sich, weil die
jetzige politische Generation noch ans der Konkordatsschule, der Schule der In¬
toleranz, hervorgegangen sei, und „nirgends sei ein größeres Elend zu finden
als in jenen Kreisen, welche ihr Leben durch den Gewinn aus der Vermittlung
zwischen de» Erzeugern und Verzehren: finden müssen." Der Passus ist zu schön,
als daß wir uns enthalten könnte», ihn wörtlich wiederzugeben. Auch werden
wieder die edelsten Juden hergezählt, diesmal nicht Moses Mendelssohn, sondern
Johann Jacobs und Laster, damals Feinde der „verknöcherten Bourgeoisie, "Lassalle
und Marx, und endlich die sozialdemokratischen Juden im deutschen Reichstage.
Die Zeitung hätte noch einen Schritt weiter gehen und geltend machen können,
welche Rolle Juden in den Hauptquartieren des Nihilismus und Anarchismus
spielen, in den Konvention, von welchen fanatisirte Christen mit Dolch und
Dynamik ausgesandt werden. Aber dann hätte doch einer oder der andre Leser
auf den Gedanken kommen können, daß es der Hang des Semiten zum Zer¬
setzen und Untergraben sei, was die heutige Bewegung ins Leben gerufen hat.


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[0157] Kurzsichtige Politiker. den Staatsgesetzen ihre Anerkennung versagen und mit Fortschrittlern, Sozial¬ demokratin, und Polen kooperiren wollten! Das Kunststück ist so plump, und scheint doch immer noch zu wirken. Auch sonst werde» deutsche Zustüude gern benutzt, in dem Vertrauen, daß der Zeitungsleser von denselben nicht mehr wisse, als was eben die Zeitung ihm zukommen läßt. Im deutschen Reichstage sitzen weniger Antisemiten, als im nächsten Neichsrate ihren Platz finde» werden. Das kommt aber nicht etwa daher, daß das Judentum in Deutschland noch nicht zu jeuer gefährlichen Macht herangewachsen ist wie in Österreich, sondern ist eine Folge — man höre und staune! — des allgemeinen Stimmrechts! „Große Gefahren drohen von jenen Elemente» des Volkes, welche heute noch nicht direkt teilnehmen an der politischen Arbeit, aber die Probleme, welche diese gewaltige Menge bewegen, sind von einem erschütternden Er»sie und von einer edel» Ehrlichkeit. In diese Gemüter ist keine Spur vou Nassenthevrie ge¬ drungen, sie wissen, daß der Hunger alle Menschen gleichmäßig schmerzt und daß das Elend alle heimsucht, weß Glaubens sie auch seien. An dem Tage, wo die ehernen Schritte der Arbeiterbataillone vernommen werden sollten, wo das ganze Volk bei den Wahlen seine Stimme erheben wird, da beginnen die ernstesten Probleme der Gesellschaft, aber da verschwindet auch der Antisemi¬ tismus, das häßliche Produkt wirtschaftlicher Reaktion, der traurigste Beweis für die Macht der Lüge." Zu diesem unglaublichen Unsinn verstieg sich dieser Tage das Hauptorgan des Manchestertums, unmittelbar nachdem der Brunner Arbeiterstreik in den Fabriken der Juden ausgebrochen war und die Arbeiter der christlichen Fabrikanten die Arbeit erst einstellten, als der Terrorismus der Streitenden sie dazu zwang! In Hietzing wäre ein Antisemit beinahe gewählt worden — das ist ernster als die ernstesten Gefahren, welche die Gesellschaft bedrohe»! Wie groß muß die Angst der Herren bereits sein, wenn sie schlecht¬ weg drucken lassen, der Antisemitismus greife in Österreich um sich, weil die jetzige politische Generation noch ans der Konkordatsschule, der Schule der In¬ toleranz, hervorgegangen sei, und „nirgends sei ein größeres Elend zu finden als in jenen Kreisen, welche ihr Leben durch den Gewinn aus der Vermittlung zwischen de» Erzeugern und Verzehren: finden müssen." Der Passus ist zu schön, als daß wir uns enthalten könnte», ihn wörtlich wiederzugeben. Auch werden wieder die edelsten Juden hergezählt, diesmal nicht Moses Mendelssohn, sondern Johann Jacobs und Laster, damals Feinde der „verknöcherten Bourgeoisie, "Lassalle und Marx, und endlich die sozialdemokratischen Juden im deutschen Reichstage. Die Zeitung hätte noch einen Schritt weiter gehen und geltend machen können, welche Rolle Juden in den Hauptquartieren des Nihilismus und Anarchismus spielen, in den Konvention, von welchen fanatisirte Christen mit Dolch und Dynamik ausgesandt werden. Aber dann hätte doch einer oder der andre Leser auf den Gedanken kommen können, daß es der Hang des Semiten zum Zer¬ setzen und Untergraben sei, was die heutige Bewegung ins Leben gerufen hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/157>, abgerufen am 22.11.2024.