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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Wahlen, mehr oder minder den Charakter des Provisorischen und Halben tragen.
Die Negierung, welche vom Parlament abhängt und hier uur die Minorität
für sich hat, wird nicht Wohl imstande sein, vollständig nach ihrer Überzeugung
zu handeln, und man wird stets zu befürchten haben, daß die Wähler das, was
mit ihr ausgemacht ist, durch Gegner ihrer Politik umstoßen lassen. Endlich
muß die deutsche Staatsleitung zwar nicht notwendig eine antienglische sein,
Wohl aber weist sie das Interesse des Reiches mehr auf Berücksichtigung der
Bedürfnisse, Stimmungen und Wünsche der benachbarten Kontinentalinächte hin,
die unter keinen Umständen von einer Annäherung zwischen uns und England
gefährdet und geschädigt werden dürfen. Mit diesen Mächten in gutem Ein¬
vernehmen zu bleiben, ihr Vertrauen weiter zu genießen, ist die Hauptsache; will
England mit uns zu einem bessern Einverständnisse gelangen, se> ist das will¬
kommen zu heißen, da es den Frieden befestigen würde, nur wird dann Eng¬
land Opfer bringen müssen, nicht aber an uns das Ansinnen stellen dürfen,
dieser Freundschaft alte und neue Freundschaften im Osten und Westen zu opfern
oder irgendwie zu lockern.

Darnach ist auch das zu beurteilen, was jene "Eingeweihten" über die
afghanische und die ägyptische Frage sagen. Wir werden uns als Freunde und
Förderer des Weltfriedens freuen, wenn es dem neuen englischen Kabinet ge¬
lingen sollte, hier wie dort eine Losung zu finden, welche alle Teile befriedigt
und die Verlegenheiten beseitigt, die Gladstones Ungeschick heraufbeschworen hat.
Aber uns zu irgendwelchen Diensten hier gegen Frankreich, dort gegen Rußland
bereit zu erklären, darf man uns nicht zumuten, England wird sich in beiden
Beziehungen am besten selbst dienen, wenn es der Billigkeit Gehör giebt. Was
wir darunter verstehen, wollen wir nicht formuliren. Wie die "Eingeweihten" sich
die Schutzmauer zwischen Rußland und Indien vorstellen, welche nach ihren Be¬
richt Salisbury und Churchill zu erbauen vorhaben, können wir uns nicht rechi
klar machen, und ob das, was sie über die Absichten der Toryminister in betreff
Ägyptens sagen, der rechte Hebel sein wird, der den Engländer aus der dortigen
Verlegenheit heraushilft und sie namentlich wieder an Frankreichs Seite stellt,
ist uns sehr zweifelhaft.

Wir erwarten also bis auf weiteres keine großen Erfolge für das neue
Kabinet, es müßte sich denn unerwartet ein ungewöhnliches politisches Element,
ein Genie aus dessen Mitte erheben. Bis dahin wollen wir hoffen, daß es sich
wenigstens besser zeigen werde als Gladstone und Genossen. Es gehört nicht
allzuviel dazu, und die Hoffnung ist begründet. Man wird bei ihm keinen
Launen und unpraktischen Theorien, keinen schwächlichen Vorsätzen und keinem
ewigen Schwanken zwischen Dreistigkeit und Verzagtheit, keinem zu starken Ge¬
brauch der Notlüge begegnen. Man wird es ein verständliches Spiel beginnen
sehen und geneigt sein, seinen Versicherungen, soviel an ihm ist, zu vertrauen. Man
wird in Berlin endlich einmal gehörig erfahren, was England eigentlich wünscht


Wahlen, mehr oder minder den Charakter des Provisorischen und Halben tragen.
Die Negierung, welche vom Parlament abhängt und hier uur die Minorität
für sich hat, wird nicht Wohl imstande sein, vollständig nach ihrer Überzeugung
zu handeln, und man wird stets zu befürchten haben, daß die Wähler das, was
mit ihr ausgemacht ist, durch Gegner ihrer Politik umstoßen lassen. Endlich
muß die deutsche Staatsleitung zwar nicht notwendig eine antienglische sein,
Wohl aber weist sie das Interesse des Reiches mehr auf Berücksichtigung der
Bedürfnisse, Stimmungen und Wünsche der benachbarten Kontinentalinächte hin,
die unter keinen Umständen von einer Annäherung zwischen uns und England
gefährdet und geschädigt werden dürfen. Mit diesen Mächten in gutem Ein¬
vernehmen zu bleiben, ihr Vertrauen weiter zu genießen, ist die Hauptsache; will
England mit uns zu einem bessern Einverständnisse gelangen, se> ist das will¬
kommen zu heißen, da es den Frieden befestigen würde, nur wird dann Eng¬
land Opfer bringen müssen, nicht aber an uns das Ansinnen stellen dürfen,
dieser Freundschaft alte und neue Freundschaften im Osten und Westen zu opfern
oder irgendwie zu lockern.

Darnach ist auch das zu beurteilen, was jene „Eingeweihten" über die
afghanische und die ägyptische Frage sagen. Wir werden uns als Freunde und
Förderer des Weltfriedens freuen, wenn es dem neuen englischen Kabinet ge¬
lingen sollte, hier wie dort eine Losung zu finden, welche alle Teile befriedigt
und die Verlegenheiten beseitigt, die Gladstones Ungeschick heraufbeschworen hat.
Aber uns zu irgendwelchen Diensten hier gegen Frankreich, dort gegen Rußland
bereit zu erklären, darf man uns nicht zumuten, England wird sich in beiden
Beziehungen am besten selbst dienen, wenn es der Billigkeit Gehör giebt. Was
wir darunter verstehen, wollen wir nicht formuliren. Wie die „Eingeweihten" sich
die Schutzmauer zwischen Rußland und Indien vorstellen, welche nach ihren Be¬
richt Salisbury und Churchill zu erbauen vorhaben, können wir uns nicht rechi
klar machen, und ob das, was sie über die Absichten der Toryminister in betreff
Ägyptens sagen, der rechte Hebel sein wird, der den Engländer aus der dortigen
Verlegenheit heraushilft und sie namentlich wieder an Frankreichs Seite stellt,
ist uns sehr zweifelhaft.

Wir erwarten also bis auf weiteres keine großen Erfolge für das neue
Kabinet, es müßte sich denn unerwartet ein ungewöhnliches politisches Element,
ein Genie aus dessen Mitte erheben. Bis dahin wollen wir hoffen, daß es sich
wenigstens besser zeigen werde als Gladstone und Genossen. Es gehört nicht
allzuviel dazu, und die Hoffnung ist begründet. Man wird bei ihm keinen
Launen und unpraktischen Theorien, keinen schwächlichen Vorsätzen und keinem
ewigen Schwanken zwischen Dreistigkeit und Verzagtheit, keinem zu starken Ge¬
brauch der Notlüge begegnen. Man wird es ein verständliches Spiel beginnen
sehen und geneigt sein, seinen Versicherungen, soviel an ihm ist, zu vertrauen. Man
wird in Berlin endlich einmal gehörig erfahren, was England eigentlich wünscht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/14>, abgerufen am 01.09.2024.