Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Ministerwechsel in London.

gesteckt hat. Es giebt Leute, die ein nervöses Zittern überfällt, wenn sie sehen,
wie ein derartig gearteteter Politiker die indischen Angelegenheiten leiten soll,
und man muß ihre Befürchtung in gewissem Maße teilen. Indes ist andrer¬
seits zu hoffen, daß Lord Rcmdolph Churchill Sachkenntnis und Selbsterkenntnis
genug besitzen werde, um ermessen zu können, wie weit er seiner hitzigen und un¬
gestümen Natur in dieser Beziehung vertrauen und die Zügel schießen lassen darf.
Er hat Indien gesehen und muß wissen, daß es keine Nation, sondern ein Ge¬
misch sehr verschieden gearteter Völkerschaften, keine Insel, sondern ein Stück des
asiatischen Festlandes ist, welches mit so wenig ausschweifender Theorie und so
viel gesundem Menschenverstande als möglich regiert werden muß. Wenn er über
Gegenstände seines neuen Wirkungskreises im Unterhause sich zu kräftig geäußert
hat, so darf man ihm wohl das Bcncfizium der neuen, freilich nicht ungefährlichen
Regel zuteil werden lassen, welche Politikern für das, was sie "in Stellungen
von größerer Freiheit und geringerer Verantwortlichkeit" gesagt haben, Ablaß
zu erteilen erlaubt, wenn sie ins Amt gelangen. Ob Hicks Beach den Erwar¬
tungen entsprechen wird, die sich an seine Wahl zum Kanzler der Finanzknmmer
und Führer im Unterhause knüpfen, muß sich erst noch zeigen. Über die Be¬
fähigung des neuen Lordkanzlers, Sir Hardinge Giffard, der als Lord Halsbnry
fortan einen Wollsack im Oberhause einnimmt, herrscht keine Meinungsverschieden¬
heit. Der neue Kriegsminister, Smith, gilt als ein sachkundiger und energischer
Mann in Mariuesacheu, als welcher er sich in seiner frühern Stellung als erster
Lord der Admiralität bewährte, und man kann nur fragen, warum mau ihm
jene nicht wiedergegeben hat. Vielleicht beantwortet sich dies aber dadurch,
daß in der Admiralität die Arbeit durch ein Kollegium besorgt wird, wogegen
jetzt im Kriegsdepartemcnt rascher Erfolg bei der sehr notwendigen Reformi-
rung der Armee sehr von der Energie des obersten Administrators abhängt.

Ob sich Salisburhs Hoffnung auf ein lauges Leben des Kabinets erfüllen
wird, läßt sich jetzt noch, nicht sagen. Möglich, fast wahrscheinlich ist es, daß es
bei den Herbstwahleu fällt, möglich auch, daß es fein Schiff durch diese hiu-
durchstcuert und dann jahrelang gute Fahrt hat. Viel wird dabei auf die
Haltung der Liberalen ankommen, viel auch auf die Politik der Tories, die
infolge der liberalen, richtiger radikalen Strömung, welche seit Jahrzehnten schon
und ganz besonders in den letzten Jahren England immer weiter nach links
und tiefer in demokratische Zustände treiben ließ, sich wie Beaeoussield ge¬
zwungen sehen werden, gegen ihre eigentlichen Grundsätze und Absichten in
innern Angelegenheiten zu verfahren. Sie werden hier nicht sehr wesentlich von
Gladstones Wegen abweichen können, und die Freunde Englands werden zu¬
frieden sein müssen, wenn die neuen Minister es mit der einen und der andern
Maßregel für einige Zeit auf der abschüssigen Bahn, auf der es sich befindet,
aufzuhalten imstande sind. Vielleicht gewinnt ihnen Churchills Ruf die Ar¬
beiter, welche" das neue Wahlverfahren Stimme und Einfluß verleiht. Die


Der Ministerwechsel in London.

gesteckt hat. Es giebt Leute, die ein nervöses Zittern überfällt, wenn sie sehen,
wie ein derartig gearteteter Politiker die indischen Angelegenheiten leiten soll,
und man muß ihre Befürchtung in gewissem Maße teilen. Indes ist andrer¬
seits zu hoffen, daß Lord Rcmdolph Churchill Sachkenntnis und Selbsterkenntnis
genug besitzen werde, um ermessen zu können, wie weit er seiner hitzigen und un¬
gestümen Natur in dieser Beziehung vertrauen und die Zügel schießen lassen darf.
Er hat Indien gesehen und muß wissen, daß es keine Nation, sondern ein Ge¬
misch sehr verschieden gearteter Völkerschaften, keine Insel, sondern ein Stück des
asiatischen Festlandes ist, welches mit so wenig ausschweifender Theorie und so
viel gesundem Menschenverstande als möglich regiert werden muß. Wenn er über
Gegenstände seines neuen Wirkungskreises im Unterhause sich zu kräftig geäußert
hat, so darf man ihm wohl das Bcncfizium der neuen, freilich nicht ungefährlichen
Regel zuteil werden lassen, welche Politikern für das, was sie „in Stellungen
von größerer Freiheit und geringerer Verantwortlichkeit" gesagt haben, Ablaß
zu erteilen erlaubt, wenn sie ins Amt gelangen. Ob Hicks Beach den Erwar¬
tungen entsprechen wird, die sich an seine Wahl zum Kanzler der Finanzknmmer
und Führer im Unterhause knüpfen, muß sich erst noch zeigen. Über die Be¬
fähigung des neuen Lordkanzlers, Sir Hardinge Giffard, der als Lord Halsbnry
fortan einen Wollsack im Oberhause einnimmt, herrscht keine Meinungsverschieden¬
heit. Der neue Kriegsminister, Smith, gilt als ein sachkundiger und energischer
Mann in Mariuesacheu, als welcher er sich in seiner frühern Stellung als erster
Lord der Admiralität bewährte, und man kann nur fragen, warum mau ihm
jene nicht wiedergegeben hat. Vielleicht beantwortet sich dies aber dadurch,
daß in der Admiralität die Arbeit durch ein Kollegium besorgt wird, wogegen
jetzt im Kriegsdepartemcnt rascher Erfolg bei der sehr notwendigen Reformi-
rung der Armee sehr von der Energie des obersten Administrators abhängt.

Ob sich Salisburhs Hoffnung auf ein lauges Leben des Kabinets erfüllen
wird, läßt sich jetzt noch, nicht sagen. Möglich, fast wahrscheinlich ist es, daß es
bei den Herbstwahleu fällt, möglich auch, daß es fein Schiff durch diese hiu-
durchstcuert und dann jahrelang gute Fahrt hat. Viel wird dabei auf die
Haltung der Liberalen ankommen, viel auch auf die Politik der Tories, die
infolge der liberalen, richtiger radikalen Strömung, welche seit Jahrzehnten schon
und ganz besonders in den letzten Jahren England immer weiter nach links
und tiefer in demokratische Zustände treiben ließ, sich wie Beaeoussield ge¬
zwungen sehen werden, gegen ihre eigentlichen Grundsätze und Absichten in
innern Angelegenheiten zu verfahren. Sie werden hier nicht sehr wesentlich von
Gladstones Wegen abweichen können, und die Freunde Englands werden zu¬
frieden sein müssen, wenn die neuen Minister es mit der einen und der andern
Maßregel für einige Zeit auf der abschüssigen Bahn, auf der es sich befindet,
aufzuhalten imstande sind. Vielleicht gewinnt ihnen Churchills Ruf die Ar¬
beiter, welche» das neue Wahlverfahren Stimme und Einfluß verleiht. Die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0012" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196112"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Ministerwechsel in London.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_19" prev="#ID_18"> gesteckt hat. Es giebt Leute, die ein nervöses Zittern überfällt, wenn sie sehen,<lb/>
wie ein derartig gearteteter Politiker die indischen Angelegenheiten leiten soll,<lb/>
und man muß ihre Befürchtung in gewissem Maße teilen. Indes ist andrer¬<lb/>
seits zu hoffen, daß Lord Rcmdolph Churchill Sachkenntnis und Selbsterkenntnis<lb/>
genug besitzen werde, um ermessen zu können, wie weit er seiner hitzigen und un¬<lb/>
gestümen Natur in dieser Beziehung vertrauen und die Zügel schießen lassen darf.<lb/>
Er hat Indien gesehen und muß wissen, daß es keine Nation, sondern ein Ge¬<lb/>
misch sehr verschieden gearteter Völkerschaften, keine Insel, sondern ein Stück des<lb/>
asiatischen Festlandes ist, welches mit so wenig ausschweifender Theorie und so<lb/>
viel gesundem Menschenverstande als möglich regiert werden muß. Wenn er über<lb/>
Gegenstände seines neuen Wirkungskreises im Unterhause sich zu kräftig geäußert<lb/>
hat, so darf man ihm wohl das Bcncfizium der neuen, freilich nicht ungefährlichen<lb/>
Regel zuteil werden lassen, welche Politikern für das, was sie &#x201E;in Stellungen<lb/>
von größerer Freiheit und geringerer Verantwortlichkeit" gesagt haben, Ablaß<lb/>
zu erteilen erlaubt, wenn sie ins Amt gelangen. Ob Hicks Beach den Erwar¬<lb/>
tungen entsprechen wird, die sich an seine Wahl zum Kanzler der Finanzknmmer<lb/>
und Führer im Unterhause knüpfen, muß sich erst noch zeigen. Über die Be¬<lb/>
fähigung des neuen Lordkanzlers, Sir Hardinge Giffard, der als Lord Halsbnry<lb/>
fortan einen Wollsack im Oberhause einnimmt, herrscht keine Meinungsverschieden¬<lb/>
heit. Der neue Kriegsminister, Smith, gilt als ein sachkundiger und energischer<lb/>
Mann in Mariuesacheu, als welcher er sich in seiner frühern Stellung als erster<lb/>
Lord der Admiralität bewährte, und man kann nur fragen, warum mau ihm<lb/>
jene nicht wiedergegeben hat. Vielleicht beantwortet sich dies aber dadurch,<lb/>
daß in der Admiralität die Arbeit durch ein Kollegium besorgt wird, wogegen<lb/>
jetzt im Kriegsdepartemcnt rascher Erfolg bei der sehr notwendigen Reformi-<lb/>
rung der Armee sehr von der Energie des obersten Administrators abhängt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_20" next="#ID_21"> Ob sich Salisburhs Hoffnung auf ein lauges Leben des Kabinets erfüllen<lb/>
wird, läßt sich jetzt noch, nicht sagen. Möglich, fast wahrscheinlich ist es, daß es<lb/>
bei den Herbstwahleu fällt, möglich auch, daß es fein Schiff durch diese hiu-<lb/>
durchstcuert und dann jahrelang gute Fahrt hat. Viel wird dabei auf die<lb/>
Haltung der Liberalen ankommen, viel auch auf die Politik der Tories, die<lb/>
infolge der liberalen, richtiger radikalen Strömung, welche seit Jahrzehnten schon<lb/>
und ganz besonders in den letzten Jahren England immer weiter nach links<lb/>
und tiefer in demokratische Zustände treiben ließ, sich wie Beaeoussield ge¬<lb/>
zwungen sehen werden, gegen ihre eigentlichen Grundsätze und Absichten in<lb/>
innern Angelegenheiten zu verfahren. Sie werden hier nicht sehr wesentlich von<lb/>
Gladstones Wegen abweichen können, und die Freunde Englands werden zu¬<lb/>
frieden sein müssen, wenn die neuen Minister es mit der einen und der andern<lb/>
Maßregel für einige Zeit auf der abschüssigen Bahn, auf der es sich befindet,<lb/>
aufzuhalten imstande sind. Vielleicht gewinnt ihnen Churchills Ruf die Ar¬<lb/>
beiter, welche» das neue Wahlverfahren Stimme und Einfluß verleiht. Die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0012] Der Ministerwechsel in London. gesteckt hat. Es giebt Leute, die ein nervöses Zittern überfällt, wenn sie sehen, wie ein derartig gearteteter Politiker die indischen Angelegenheiten leiten soll, und man muß ihre Befürchtung in gewissem Maße teilen. Indes ist andrer¬ seits zu hoffen, daß Lord Rcmdolph Churchill Sachkenntnis und Selbsterkenntnis genug besitzen werde, um ermessen zu können, wie weit er seiner hitzigen und un¬ gestümen Natur in dieser Beziehung vertrauen und die Zügel schießen lassen darf. Er hat Indien gesehen und muß wissen, daß es keine Nation, sondern ein Ge¬ misch sehr verschieden gearteter Völkerschaften, keine Insel, sondern ein Stück des asiatischen Festlandes ist, welches mit so wenig ausschweifender Theorie und so viel gesundem Menschenverstande als möglich regiert werden muß. Wenn er über Gegenstände seines neuen Wirkungskreises im Unterhause sich zu kräftig geäußert hat, so darf man ihm wohl das Bcncfizium der neuen, freilich nicht ungefährlichen Regel zuteil werden lassen, welche Politikern für das, was sie „in Stellungen von größerer Freiheit und geringerer Verantwortlichkeit" gesagt haben, Ablaß zu erteilen erlaubt, wenn sie ins Amt gelangen. Ob Hicks Beach den Erwar¬ tungen entsprechen wird, die sich an seine Wahl zum Kanzler der Finanzknmmer und Führer im Unterhause knüpfen, muß sich erst noch zeigen. Über die Be¬ fähigung des neuen Lordkanzlers, Sir Hardinge Giffard, der als Lord Halsbnry fortan einen Wollsack im Oberhause einnimmt, herrscht keine Meinungsverschieden¬ heit. Der neue Kriegsminister, Smith, gilt als ein sachkundiger und energischer Mann in Mariuesacheu, als welcher er sich in seiner frühern Stellung als erster Lord der Admiralität bewährte, und man kann nur fragen, warum mau ihm jene nicht wiedergegeben hat. Vielleicht beantwortet sich dies aber dadurch, daß in der Admiralität die Arbeit durch ein Kollegium besorgt wird, wogegen jetzt im Kriegsdepartemcnt rascher Erfolg bei der sehr notwendigen Reformi- rung der Armee sehr von der Energie des obersten Administrators abhängt. Ob sich Salisburhs Hoffnung auf ein lauges Leben des Kabinets erfüllen wird, läßt sich jetzt noch, nicht sagen. Möglich, fast wahrscheinlich ist es, daß es bei den Herbstwahleu fällt, möglich auch, daß es fein Schiff durch diese hiu- durchstcuert und dann jahrelang gute Fahrt hat. Viel wird dabei auf die Haltung der Liberalen ankommen, viel auch auf die Politik der Tories, die infolge der liberalen, richtiger radikalen Strömung, welche seit Jahrzehnten schon und ganz besonders in den letzten Jahren England immer weiter nach links und tiefer in demokratische Zustände treiben ließ, sich wie Beaeoussield ge¬ zwungen sehen werden, gegen ihre eigentlichen Grundsätze und Absichten in innern Angelegenheiten zu verfahren. Sie werden hier nicht sehr wesentlich von Gladstones Wegen abweichen können, und die Freunde Englands werden zu¬ frieden sein müssen, wenn die neuen Minister es mit der einen und der andern Maßregel für einige Zeit auf der abschüssigen Bahn, auf der es sich befindet, aufzuhalten imstande sind. Vielleicht gewinnt ihnen Churchills Ruf die Ar¬ beiter, welche» das neue Wahlverfahren Stimme und Einfluß verleiht. Die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/12
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/12>, abgerufen am 28.11.2024.