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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Die Schriftvergleichung im Strafprozeß.

In der ersteren Richtung verlangt schon Justinian, daß nur unzweifelhaft
echte Schriftstücke zur Vergleichung herangezogen werden dürfen; allein es ge¬
nügt noch nicht, daß die Vergleichungsstücke überhaupt vom Angeschuldigten
herrühren, sie müssen auch aus derselben Zeit wie das zu rekvgnoscirende
Schriftstück stammen, da die Handschrift eines Menschen sich mit der Zeit ändert;
sie müssen auch, wenn möglich, in gleicher Stimmung, mit gleichem Schreib¬
material und in gleicher Situation geschrieben sein. Ein flüchtig hingeworfenes
Schriftstück kann ganz andre Züge enthalten als ein mit Muße zu Papier ge¬
brachtes, mit einer ungewohnten Feder schreibt man ganz anders als mit der
der Hand angepaßten, ein aufgeregter Mensch schreibt anders als ein ruhiger.
Deshalb hat man sich wohl zu hüten, den Angeschuldigten etwas schreiben zu
lassen, wenn man ihn nicht zuvor vollkommen beruhigen und mit entsprechendem
Schreibmaterial versehen kann; ein Zwang zur Niederschrift ist ganz zu ver¬
meiden, wie dies auch einzelne der durch die Reichsstrafprozeßordnung auf¬
gehobenen deutschen Prozeßordnungen ausdrücklich vorschrieben. Ein solches
Verbot ist aber für die Reichsstrafprozeßordnung nicht erforderlich, da deren
Bestimmungen in 136 und 243, welche es in das freie Ermessen des Ange¬
schuldigten stellen, ob er überhaupt etwas auf die Anklage erwiedern will, in¬
direkt jeden Zwang zur Beschaffung eines Beweismittels, also auch zur Nieder¬
schrift eines zu einer Schriftvergleichung nötigen Schriftstückes verbieten.

In der zweiten Richtung aber prüfe man genau, ob die als Schriftkundige
ausgewählten Sachverständigen auch wirklich den genügenden Sachverstand be¬
sitzen, nämlich die Fähigkeit, eine Handschrift nach ihren charakteristischen Eigen¬
schaften zu beurteilen. Man nimmt sehr häufig bei der Schriftvergleichuug
Schreiblehrer als Sachverständige, und doch sind diese an und für sich die un¬
geeignetsten Personen zu diesem Zwecke, da ihnen in ihrem Beruf mir die Prü¬
fung von Handschriften mit Bezug auf die Korrektheit und Schönheit der Schrift¬
züge obliegt, und zweitens noch dazu häufig genug von Schülern, denen
des Lehrers eigene Handschrift als Muster diente, sodaß ihre Schrift¬
züge alle auf einen ursprünglichen gemeinschaftlichen Charakter zurückzuführen
sind. Nun bedenke man, wie leicht Handschriften verschiedener Personen sich
täuschend ähnlich sehen können, z. B. von Geschwistern, von gleichzeitig aus¬
gebildete" Personen, da auch die Schreibkunst ihre Moden hat, die oft geradezu
durch die Schreibmaterialien gewisser Zeiten verursacht werden, oder endlich
von Schülern ein und desselben Lehrers, namentlich wenn es ungebildete Menschen
sind, welche die ihnen vorgezeichneten Schriftzüge mehr mechanisch nachbilden
als aus eignem Nachdenken reproduziren. Man bedenke ferner die Fähigkeit
mancher Personen, fremde Handschriften täuschend nachzuahmen (gehört doch
diese Fähigkeit z. B. beim Lithographen zum Gewerbe), und man ziehe endlich
in Betracht, daß sowohl der Verbrecher bei Begehung des Verbrechens als auch
der Angeschuldigte bei der Herstellung von Schriftstücken bei seiner Vernehmung


Die Schriftvergleichung im Strafprozeß.

In der ersteren Richtung verlangt schon Justinian, daß nur unzweifelhaft
echte Schriftstücke zur Vergleichung herangezogen werden dürfen; allein es ge¬
nügt noch nicht, daß die Vergleichungsstücke überhaupt vom Angeschuldigten
herrühren, sie müssen auch aus derselben Zeit wie das zu rekvgnoscirende
Schriftstück stammen, da die Handschrift eines Menschen sich mit der Zeit ändert;
sie müssen auch, wenn möglich, in gleicher Stimmung, mit gleichem Schreib¬
material und in gleicher Situation geschrieben sein. Ein flüchtig hingeworfenes
Schriftstück kann ganz andre Züge enthalten als ein mit Muße zu Papier ge¬
brachtes, mit einer ungewohnten Feder schreibt man ganz anders als mit der
der Hand angepaßten, ein aufgeregter Mensch schreibt anders als ein ruhiger.
Deshalb hat man sich wohl zu hüten, den Angeschuldigten etwas schreiben zu
lassen, wenn man ihn nicht zuvor vollkommen beruhigen und mit entsprechendem
Schreibmaterial versehen kann; ein Zwang zur Niederschrift ist ganz zu ver¬
meiden, wie dies auch einzelne der durch die Reichsstrafprozeßordnung auf¬
gehobenen deutschen Prozeßordnungen ausdrücklich vorschrieben. Ein solches
Verbot ist aber für die Reichsstrafprozeßordnung nicht erforderlich, da deren
Bestimmungen in 136 und 243, welche es in das freie Ermessen des Ange¬
schuldigten stellen, ob er überhaupt etwas auf die Anklage erwiedern will, in¬
direkt jeden Zwang zur Beschaffung eines Beweismittels, also auch zur Nieder¬
schrift eines zu einer Schriftvergleichung nötigen Schriftstückes verbieten.

In der zweiten Richtung aber prüfe man genau, ob die als Schriftkundige
ausgewählten Sachverständigen auch wirklich den genügenden Sachverstand be¬
sitzen, nämlich die Fähigkeit, eine Handschrift nach ihren charakteristischen Eigen¬
schaften zu beurteilen. Man nimmt sehr häufig bei der Schriftvergleichuug
Schreiblehrer als Sachverständige, und doch sind diese an und für sich die un¬
geeignetsten Personen zu diesem Zwecke, da ihnen in ihrem Beruf mir die Prü¬
fung von Handschriften mit Bezug auf die Korrektheit und Schönheit der Schrift¬
züge obliegt, und zweitens noch dazu häufig genug von Schülern, denen
des Lehrers eigene Handschrift als Muster diente, sodaß ihre Schrift¬
züge alle auf einen ursprünglichen gemeinschaftlichen Charakter zurückzuführen
sind. Nun bedenke man, wie leicht Handschriften verschiedener Personen sich
täuschend ähnlich sehen können, z. B. von Geschwistern, von gleichzeitig aus¬
gebildete» Personen, da auch die Schreibkunst ihre Moden hat, die oft geradezu
durch die Schreibmaterialien gewisser Zeiten verursacht werden, oder endlich
von Schülern ein und desselben Lehrers, namentlich wenn es ungebildete Menschen
sind, welche die ihnen vorgezeichneten Schriftzüge mehr mechanisch nachbilden
als aus eignem Nachdenken reproduziren. Man bedenke ferner die Fähigkeit
mancher Personen, fremde Handschriften täuschend nachzuahmen (gehört doch
diese Fähigkeit z. B. beim Lithographen zum Gewerbe), und man ziehe endlich
in Betracht, daß sowohl der Verbrecher bei Begehung des Verbrechens als auch
der Angeschuldigte bei der Herstellung von Schriftstücken bei seiner Vernehmung


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[0077] Die Schriftvergleichung im Strafprozeß. In der ersteren Richtung verlangt schon Justinian, daß nur unzweifelhaft echte Schriftstücke zur Vergleichung herangezogen werden dürfen; allein es ge¬ nügt noch nicht, daß die Vergleichungsstücke überhaupt vom Angeschuldigten herrühren, sie müssen auch aus derselben Zeit wie das zu rekvgnoscirende Schriftstück stammen, da die Handschrift eines Menschen sich mit der Zeit ändert; sie müssen auch, wenn möglich, in gleicher Stimmung, mit gleichem Schreib¬ material und in gleicher Situation geschrieben sein. Ein flüchtig hingeworfenes Schriftstück kann ganz andre Züge enthalten als ein mit Muße zu Papier ge¬ brachtes, mit einer ungewohnten Feder schreibt man ganz anders als mit der der Hand angepaßten, ein aufgeregter Mensch schreibt anders als ein ruhiger. Deshalb hat man sich wohl zu hüten, den Angeschuldigten etwas schreiben zu lassen, wenn man ihn nicht zuvor vollkommen beruhigen und mit entsprechendem Schreibmaterial versehen kann; ein Zwang zur Niederschrift ist ganz zu ver¬ meiden, wie dies auch einzelne der durch die Reichsstrafprozeßordnung auf¬ gehobenen deutschen Prozeßordnungen ausdrücklich vorschrieben. Ein solches Verbot ist aber für die Reichsstrafprozeßordnung nicht erforderlich, da deren Bestimmungen in 136 und 243, welche es in das freie Ermessen des Ange¬ schuldigten stellen, ob er überhaupt etwas auf die Anklage erwiedern will, in¬ direkt jeden Zwang zur Beschaffung eines Beweismittels, also auch zur Nieder¬ schrift eines zu einer Schriftvergleichung nötigen Schriftstückes verbieten. In der zweiten Richtung aber prüfe man genau, ob die als Schriftkundige ausgewählten Sachverständigen auch wirklich den genügenden Sachverstand be¬ sitzen, nämlich die Fähigkeit, eine Handschrift nach ihren charakteristischen Eigen¬ schaften zu beurteilen. Man nimmt sehr häufig bei der Schriftvergleichuug Schreiblehrer als Sachverständige, und doch sind diese an und für sich die un¬ geeignetsten Personen zu diesem Zwecke, da ihnen in ihrem Beruf mir die Prü¬ fung von Handschriften mit Bezug auf die Korrektheit und Schönheit der Schrift¬ züge obliegt, und zweitens noch dazu häufig genug von Schülern, denen des Lehrers eigene Handschrift als Muster diente, sodaß ihre Schrift¬ züge alle auf einen ursprünglichen gemeinschaftlichen Charakter zurückzuführen sind. Nun bedenke man, wie leicht Handschriften verschiedener Personen sich täuschend ähnlich sehen können, z. B. von Geschwistern, von gleichzeitig aus¬ gebildete» Personen, da auch die Schreibkunst ihre Moden hat, die oft geradezu durch die Schreibmaterialien gewisser Zeiten verursacht werden, oder endlich von Schülern ein und desselben Lehrers, namentlich wenn es ungebildete Menschen sind, welche die ihnen vorgezeichneten Schriftzüge mehr mechanisch nachbilden als aus eignem Nachdenken reproduziren. Man bedenke ferner die Fähigkeit mancher Personen, fremde Handschriften täuschend nachzuahmen (gehört doch diese Fähigkeit z. B. beim Lithographen zum Gewerbe), und man ziehe endlich in Betracht, daß sowohl der Verbrecher bei Begehung des Verbrechens als auch der Angeschuldigte bei der Herstellung von Schriftstücken bei seiner Vernehmung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/77>, abgerufen am 22.07.2024.