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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Die Schriftvergleichung im Strafprozeß.

Echtheit des Schriftstückes übrig: die sogenannte Schriftvergleichung (voinx-u-Mo
liest'WUIn).

Dies Mittel dürfte so alt sein, als überhaupt Schriftstücke der richterlichen
Beurteilung unterworfen worden sind. Kaiser Justinian behandelt es bereits
als ein allbekanntes, und so ist es angewandt worden bis auf den heutigen Tag.
Es ist aber auch von jeher klar gewesen, welche Schwierigkeiten mit der An¬
wendung dieses Beweismittels verbunden sind, und wie geringe Sicherheit auf
dem Wege der Schriftvergleichung gewonnen wird. Auch dies deutet schon
Justinian an, und es klingt durch alle Schriften über den Strafprozeß bis auf
die neueste Zeit wieder. Diejenigen Autoren, welche unter der Herrschaft der
formalen Beweistheorie geschrieben haben -- es mögen nur Tittmann und
Heffter genannt sein --, sind darin einig, daß selbst bei der vorsichtigsten Er¬
hebung des betreffenden Beweises die Schriftvergleichung einen vollen Beweis
nicht erbringen könne, und denselben Standpunkt nehmen einzelne Gesetzgebungen
jener Periode, z. B. die preußische und bairische, ein. Da man nun außerdem
jedes Zwangsmittel zur Erforschung der Echtheit, wie die Vermutung eines
Eingeständnisses bei verweigerter Erklärung Vonseiten des Angeschuldigten oder
die Abnahme des Diffessionseides verwarf, so war für den damaligen Prozeß
ein brauchbares Resultat gewonnen, da ohne vollen Beweis niemand verurteilt
wurde und also auch die Schriftvergleichung allein eine Verurteilung nicht nach
sich ziehen konnte.

Anders gestaltete es sich mit der Einführung der freien, materiellen Ve-
weistheorie, der zufolge der Richter an keinerlei Beweisregeln mehr gebunden
ist, sondern "nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlungen geschöpften
Überzeugung uuter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen"
zu entscheiden hat. Mit der Einführung dieses Grundsatzes beginnt das Institut
der Schriftvergleichung bedenklich zu werden, und umso bedenklicher, weil jetzt
die Urteilsfindung teils mit, teils ausschließlich in die Hände von Männern aus
dem Volke gelegt wurde, die im Urteilsfinden ungeübt sind und nicht einmal
Gründe für ihre Entscheidung abzugeben haben, und nun treten auch die Klagen
über Urteile auf Grund mangelhaft vorgenommener Schriftvergleichuugcn auf,
namentlich wird, da jetzt die Schriftvergleichung allein als Beweismittel dienen
kann, die Frage laut, welche Eigenschaften die nun zu einem weit größeren
Einflüsse als bisher gelangten Sachverständigen haben müssen. Den Übergang
zu dieser Periode bildet Mittermaier, welchem als dem Vorkämpfer für Ein¬
führung des neueren Strafverfahrens in Deutschland sich auch die aus der
neueren Beweistheorie ergebenden Bedenken zuerst aufdrängen mußten. Aber
kein juristischer Schriftsteller verlangt Beseitigung der Schriftvergleichung, auch
Osenbrüggen spricht bei der Mitteilung eines Falles unschuldiger Verurteilung
auf Grund einer Schriftenvergleichung in Holtzendorffs Strafrechtszcitschrift
(Bd. 7, S. 186 ff.) nur für Vorsichtsmaßregeln bei der Anwendung dieses


Die Schriftvergleichung im Strafprozeß.

Echtheit des Schriftstückes übrig: die sogenannte Schriftvergleichung (voinx-u-Mo
liest'WUIn).

Dies Mittel dürfte so alt sein, als überhaupt Schriftstücke der richterlichen
Beurteilung unterworfen worden sind. Kaiser Justinian behandelt es bereits
als ein allbekanntes, und so ist es angewandt worden bis auf den heutigen Tag.
Es ist aber auch von jeher klar gewesen, welche Schwierigkeiten mit der An¬
wendung dieses Beweismittels verbunden sind, und wie geringe Sicherheit auf
dem Wege der Schriftvergleichung gewonnen wird. Auch dies deutet schon
Justinian an, und es klingt durch alle Schriften über den Strafprozeß bis auf
die neueste Zeit wieder. Diejenigen Autoren, welche unter der Herrschaft der
formalen Beweistheorie geschrieben haben — es mögen nur Tittmann und
Heffter genannt sein —, sind darin einig, daß selbst bei der vorsichtigsten Er¬
hebung des betreffenden Beweises die Schriftvergleichung einen vollen Beweis
nicht erbringen könne, und denselben Standpunkt nehmen einzelne Gesetzgebungen
jener Periode, z. B. die preußische und bairische, ein. Da man nun außerdem
jedes Zwangsmittel zur Erforschung der Echtheit, wie die Vermutung eines
Eingeständnisses bei verweigerter Erklärung Vonseiten des Angeschuldigten oder
die Abnahme des Diffessionseides verwarf, so war für den damaligen Prozeß
ein brauchbares Resultat gewonnen, da ohne vollen Beweis niemand verurteilt
wurde und also auch die Schriftvergleichung allein eine Verurteilung nicht nach
sich ziehen konnte.

Anders gestaltete es sich mit der Einführung der freien, materiellen Ve-
weistheorie, der zufolge der Richter an keinerlei Beweisregeln mehr gebunden
ist, sondern „nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlungen geschöpften
Überzeugung uuter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen"
zu entscheiden hat. Mit der Einführung dieses Grundsatzes beginnt das Institut
der Schriftvergleichung bedenklich zu werden, und umso bedenklicher, weil jetzt
die Urteilsfindung teils mit, teils ausschließlich in die Hände von Männern aus
dem Volke gelegt wurde, die im Urteilsfinden ungeübt sind und nicht einmal
Gründe für ihre Entscheidung abzugeben haben, und nun treten auch die Klagen
über Urteile auf Grund mangelhaft vorgenommener Schriftvergleichuugcn auf,
namentlich wird, da jetzt die Schriftvergleichung allein als Beweismittel dienen
kann, die Frage laut, welche Eigenschaften die nun zu einem weit größeren
Einflüsse als bisher gelangten Sachverständigen haben müssen. Den Übergang
zu dieser Periode bildet Mittermaier, welchem als dem Vorkämpfer für Ein¬
führung des neueren Strafverfahrens in Deutschland sich auch die aus der
neueren Beweistheorie ergebenden Bedenken zuerst aufdrängen mußten. Aber
kein juristischer Schriftsteller verlangt Beseitigung der Schriftvergleichung, auch
Osenbrüggen spricht bei der Mitteilung eines Falles unschuldiger Verurteilung
auf Grund einer Schriftenvergleichung in Holtzendorffs Strafrechtszcitschrift
(Bd. 7, S. 186 ff.) nur für Vorsichtsmaßregeln bei der Anwendung dieses


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[0075] Die Schriftvergleichung im Strafprozeß. Echtheit des Schriftstückes übrig: die sogenannte Schriftvergleichung (voinx-u-Mo liest'WUIn). Dies Mittel dürfte so alt sein, als überhaupt Schriftstücke der richterlichen Beurteilung unterworfen worden sind. Kaiser Justinian behandelt es bereits als ein allbekanntes, und so ist es angewandt worden bis auf den heutigen Tag. Es ist aber auch von jeher klar gewesen, welche Schwierigkeiten mit der An¬ wendung dieses Beweismittels verbunden sind, und wie geringe Sicherheit auf dem Wege der Schriftvergleichung gewonnen wird. Auch dies deutet schon Justinian an, und es klingt durch alle Schriften über den Strafprozeß bis auf die neueste Zeit wieder. Diejenigen Autoren, welche unter der Herrschaft der formalen Beweistheorie geschrieben haben — es mögen nur Tittmann und Heffter genannt sein —, sind darin einig, daß selbst bei der vorsichtigsten Er¬ hebung des betreffenden Beweises die Schriftvergleichung einen vollen Beweis nicht erbringen könne, und denselben Standpunkt nehmen einzelne Gesetzgebungen jener Periode, z. B. die preußische und bairische, ein. Da man nun außerdem jedes Zwangsmittel zur Erforschung der Echtheit, wie die Vermutung eines Eingeständnisses bei verweigerter Erklärung Vonseiten des Angeschuldigten oder die Abnahme des Diffessionseides verwarf, so war für den damaligen Prozeß ein brauchbares Resultat gewonnen, da ohne vollen Beweis niemand verurteilt wurde und also auch die Schriftvergleichung allein eine Verurteilung nicht nach sich ziehen konnte. Anders gestaltete es sich mit der Einführung der freien, materiellen Ve- weistheorie, der zufolge der Richter an keinerlei Beweisregeln mehr gebunden ist, sondern „nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlungen geschöpften Überzeugung uuter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen" zu entscheiden hat. Mit der Einführung dieses Grundsatzes beginnt das Institut der Schriftvergleichung bedenklich zu werden, und umso bedenklicher, weil jetzt die Urteilsfindung teils mit, teils ausschließlich in die Hände von Männern aus dem Volke gelegt wurde, die im Urteilsfinden ungeübt sind und nicht einmal Gründe für ihre Entscheidung abzugeben haben, und nun treten auch die Klagen über Urteile auf Grund mangelhaft vorgenommener Schriftvergleichuugcn auf, namentlich wird, da jetzt die Schriftvergleichung allein als Beweismittel dienen kann, die Frage laut, welche Eigenschaften die nun zu einem weit größeren Einflüsse als bisher gelangten Sachverständigen haben müssen. Den Übergang zu dieser Periode bildet Mittermaier, welchem als dem Vorkämpfer für Ein¬ führung des neueren Strafverfahrens in Deutschland sich auch die aus der neueren Beweistheorie ergebenden Bedenken zuerst aufdrängen mußten. Aber kein juristischer Schriftsteller verlangt Beseitigung der Schriftvergleichung, auch Osenbrüggen spricht bei der Mitteilung eines Falles unschuldiger Verurteilung auf Grund einer Schriftenvergleichung in Holtzendorffs Strafrechtszcitschrift (Bd. 7, S. 186 ff.) nur für Vorsichtsmaßregeln bei der Anwendung dieses

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/75>, abgerufen am 22.07.2024.