Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

Diese Bedingungen liegen aber in der "Adrienuc Leeouvrenr", einem für
einen Seribe höchst verworren angelegten und mangelhaft durchgeführten Drama,
wahrhaftig nicht vor, Adrienne kann auf garnichts mehr hören; wir haben
nicht einmal die Genugthuung, daß sie die Intrigue vor ihrem Ende durchschaut.
Das ist bei Heyse freilich anders. Dieser klare Dichtergeist, der noch dazu
gerade in dieser Beziehung mit der peinlichsten Sorgfalt prüft, weiß sehr wohl,
warum er seinen vergifteten Hubert aus dem Alkoven noch einmal auf die
Bühne schickt, und zwar gerade beim Eintritt des Bankiers. Dieser wunder¬
liche Gläubige des Ehrenwortes, welcher doch im Grunde ein Feigling ist, der
vor seinem Unglück den Kopf in den Sand steckt, er soll durch die Art dieses
Todes nicht bloß über das Imaginäre seiner Beruhigung aufgeklärt werdeu,
sondern auch über alle dabei in Frage kommenden Motive. Der Dichter er¬
reicht das, und wir siud weit entfernt, etwas an dieser meisterhaften Miniatur¬
tragödie aussetzen zu wollen. Aber er erreicht es dnrch eine Pantomime, die
Pantomime eiuer widerliche" Agonie, gegen die sich unsre Nerven empören.
In dieser Beziehung gleicht der kleine Auftritt ganz dem rohen Akte Scribes.
Es ist beidemal die Giftprobe, das Experiment zu einer früher gegebenen pa¬
thologischen Schilderung. Das ist Vivisektion.

Wir möchten hierbei auf die besondern Wirkungen der verschiednen Theater-
mvrde hinweisen. Der Dolch inkommodirt uns am wenigsten. Sein Stich
durchzuckt uns, aber dann ist es vorbei. Schlimmer ist schon der Strick; er
ist mit einem bedenklichen Gefühle ini obern Teile der Brust verbunden. Am
allerschrccklichsten ist das Gift, weil seine Folgezustände dem pathologischen
Borstellnugsveriuögeu am nächsten stehen. Es giebt daher eine Art Beruhigung,
wenn die Vergiftung auf unzweideutige Weife durch Aufnahme des Giftes in
den Körper markirt wird. Wir sind es nicht, die ans dem Becher getrunken,
das Fläschchen geleert haben. Bricht aber die Vergiftung auf geheimnisvollem
Wege gewissermaßen aus der Luft über deu Darsteller herein, durch die Be¬
rührung einer Rose, durch das Ritzen mit einem Messer, dann ergreift sie anch
uns. Es ist bekannt, wie wenig Mühe es kostet, jemandem bis zur Bewußt¬
losigkeit einzureden, er sei vergiftet, wenn man sich wirklich einen so grausamen
Scherz erlauben wollte. Das beruht auf eben derselben Geschäftigkeit der re¬
flektorischen Nerven, die uns in obigen Fällen die angenehmen Empfindungen
verschafft, welche die Kunst des Darstellers uns andeutet: Kälteschauer, uner¬
trägliche Unruhe in allen Gliedern, Angstschweiß und jene antiperistaltifchen
Bewegungen im Innern, die anch dem stärksten Manne aus seinem Fuchssemester
bekannt sind.

Daß diese Kunst eines großen Schauspielers würdig sei, bestreite ich ent¬
schieden. Ich halte sie nicht einmal für schwer. Nichts ist leichter zu erlangen,
als die Kenntnis der hier anzuwendenden Mimik. Überraschende Einzelheiten'
wie sie Lichtenberg an Garrits Kopien natürlicher Ausdrucksformen bewundert^


Diese Bedingungen liegen aber in der „Adrienuc Leeouvrenr", einem für
einen Seribe höchst verworren angelegten und mangelhaft durchgeführten Drama,
wahrhaftig nicht vor, Adrienne kann auf garnichts mehr hören; wir haben
nicht einmal die Genugthuung, daß sie die Intrigue vor ihrem Ende durchschaut.
Das ist bei Heyse freilich anders. Dieser klare Dichtergeist, der noch dazu
gerade in dieser Beziehung mit der peinlichsten Sorgfalt prüft, weiß sehr wohl,
warum er seinen vergifteten Hubert aus dem Alkoven noch einmal auf die
Bühne schickt, und zwar gerade beim Eintritt des Bankiers. Dieser wunder¬
liche Gläubige des Ehrenwortes, welcher doch im Grunde ein Feigling ist, der
vor seinem Unglück den Kopf in den Sand steckt, er soll durch die Art dieses
Todes nicht bloß über das Imaginäre seiner Beruhigung aufgeklärt werdeu,
sondern auch über alle dabei in Frage kommenden Motive. Der Dichter er¬
reicht das, und wir siud weit entfernt, etwas an dieser meisterhaften Miniatur¬
tragödie aussetzen zu wollen. Aber er erreicht es dnrch eine Pantomime, die
Pantomime eiuer widerliche« Agonie, gegen die sich unsre Nerven empören.
In dieser Beziehung gleicht der kleine Auftritt ganz dem rohen Akte Scribes.
Es ist beidemal die Giftprobe, das Experiment zu einer früher gegebenen pa¬
thologischen Schilderung. Das ist Vivisektion.

Wir möchten hierbei auf die besondern Wirkungen der verschiednen Theater-
mvrde hinweisen. Der Dolch inkommodirt uns am wenigsten. Sein Stich
durchzuckt uns, aber dann ist es vorbei. Schlimmer ist schon der Strick; er
ist mit einem bedenklichen Gefühle ini obern Teile der Brust verbunden. Am
allerschrccklichsten ist das Gift, weil seine Folgezustände dem pathologischen
Borstellnugsveriuögeu am nächsten stehen. Es giebt daher eine Art Beruhigung,
wenn die Vergiftung auf unzweideutige Weife durch Aufnahme des Giftes in
den Körper markirt wird. Wir sind es nicht, die ans dem Becher getrunken,
das Fläschchen geleert haben. Bricht aber die Vergiftung auf geheimnisvollem
Wege gewissermaßen aus der Luft über deu Darsteller herein, durch die Be¬
rührung einer Rose, durch das Ritzen mit einem Messer, dann ergreift sie anch
uns. Es ist bekannt, wie wenig Mühe es kostet, jemandem bis zur Bewußt¬
losigkeit einzureden, er sei vergiftet, wenn man sich wirklich einen so grausamen
Scherz erlauben wollte. Das beruht auf eben derselben Geschäftigkeit der re¬
flektorischen Nerven, die uns in obigen Fällen die angenehmen Empfindungen
verschafft, welche die Kunst des Darstellers uns andeutet: Kälteschauer, uner¬
trägliche Unruhe in allen Gliedern, Angstschweiß und jene antiperistaltifchen
Bewegungen im Innern, die anch dem stärksten Manne aus seinem Fuchssemester
bekannt sind.

Daß diese Kunst eines großen Schauspielers würdig sei, bestreite ich ent¬
schieden. Ich halte sie nicht einmal für schwer. Nichts ist leichter zu erlangen,
als die Kenntnis der hier anzuwendenden Mimik. Überraschende Einzelheiten'
wie sie Lichtenberg an Garrits Kopien natürlicher Ausdrucksformen bewundert^


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0692" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196081"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_2520"> Diese Bedingungen liegen aber in der &#x201E;Adrienuc Leeouvrenr", einem für<lb/>
einen Seribe höchst verworren angelegten und mangelhaft durchgeführten Drama,<lb/>
wahrhaftig nicht vor, Adrienne kann auf garnichts mehr hören; wir haben<lb/>
nicht einmal die Genugthuung, daß sie die Intrigue vor ihrem Ende durchschaut.<lb/>
Das ist bei Heyse freilich anders. Dieser klare Dichtergeist, der noch dazu<lb/>
gerade in dieser Beziehung mit der peinlichsten Sorgfalt prüft, weiß sehr wohl,<lb/>
warum er seinen vergifteten Hubert aus dem Alkoven noch einmal auf die<lb/>
Bühne schickt, und zwar gerade beim Eintritt des Bankiers. Dieser wunder¬<lb/>
liche Gläubige des Ehrenwortes, welcher doch im Grunde ein Feigling ist, der<lb/>
vor seinem Unglück den Kopf in den Sand steckt, er soll durch die Art dieses<lb/>
Todes nicht bloß über das Imaginäre seiner Beruhigung aufgeklärt werdeu,<lb/>
sondern auch über alle dabei in Frage kommenden Motive. Der Dichter er¬<lb/>
reicht das, und wir siud weit entfernt, etwas an dieser meisterhaften Miniatur¬<lb/>
tragödie aussetzen zu wollen. Aber er erreicht es dnrch eine Pantomime, die<lb/>
Pantomime eiuer widerliche« Agonie, gegen die sich unsre Nerven empören.<lb/>
In dieser Beziehung gleicht der kleine Auftritt ganz dem rohen Akte Scribes.<lb/>
Es ist beidemal die Giftprobe, das Experiment zu einer früher gegebenen pa¬<lb/>
thologischen Schilderung.  Das ist Vivisektion.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2521"> Wir möchten hierbei auf die besondern Wirkungen der verschiednen Theater-<lb/>
mvrde hinweisen. Der Dolch inkommodirt uns am wenigsten. Sein Stich<lb/>
durchzuckt uns, aber dann ist es vorbei. Schlimmer ist schon der Strick; er<lb/>
ist mit einem bedenklichen Gefühle ini obern Teile der Brust verbunden. Am<lb/>
allerschrccklichsten ist das Gift, weil seine Folgezustände dem pathologischen<lb/>
Borstellnugsveriuögeu am nächsten stehen. Es giebt daher eine Art Beruhigung,<lb/>
wenn die Vergiftung auf unzweideutige Weife durch Aufnahme des Giftes in<lb/>
den Körper markirt wird. Wir sind es nicht, die ans dem Becher getrunken,<lb/>
das Fläschchen geleert haben. Bricht aber die Vergiftung auf geheimnisvollem<lb/>
Wege gewissermaßen aus der Luft über deu Darsteller herein, durch die Be¬<lb/>
rührung einer Rose, durch das Ritzen mit einem Messer, dann ergreift sie anch<lb/>
uns. Es ist bekannt, wie wenig Mühe es kostet, jemandem bis zur Bewußt¬<lb/>
losigkeit einzureden, er sei vergiftet, wenn man sich wirklich einen so grausamen<lb/>
Scherz erlauben wollte. Das beruht auf eben derselben Geschäftigkeit der re¬<lb/>
flektorischen Nerven, die uns in obigen Fällen die angenehmen Empfindungen<lb/>
verschafft, welche die Kunst des Darstellers uns andeutet: Kälteschauer, uner¬<lb/>
trägliche Unruhe in allen Gliedern, Angstschweiß und jene antiperistaltifchen<lb/>
Bewegungen im Innern, die anch dem stärksten Manne aus seinem Fuchssemester<lb/>
bekannt sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2522" next="#ID_2523"> Daß diese Kunst eines großen Schauspielers würdig sei, bestreite ich ent¬<lb/>
schieden. Ich halte sie nicht einmal für schwer. Nichts ist leichter zu erlangen,<lb/>
als die Kenntnis der hier anzuwendenden Mimik. Überraschende Einzelheiten'<lb/>
wie sie Lichtenberg an Garrits Kopien natürlicher Ausdrucksformen bewundert^</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0692] Diese Bedingungen liegen aber in der „Adrienuc Leeouvrenr", einem für einen Seribe höchst verworren angelegten und mangelhaft durchgeführten Drama, wahrhaftig nicht vor, Adrienne kann auf garnichts mehr hören; wir haben nicht einmal die Genugthuung, daß sie die Intrigue vor ihrem Ende durchschaut. Das ist bei Heyse freilich anders. Dieser klare Dichtergeist, der noch dazu gerade in dieser Beziehung mit der peinlichsten Sorgfalt prüft, weiß sehr wohl, warum er seinen vergifteten Hubert aus dem Alkoven noch einmal auf die Bühne schickt, und zwar gerade beim Eintritt des Bankiers. Dieser wunder¬ liche Gläubige des Ehrenwortes, welcher doch im Grunde ein Feigling ist, der vor seinem Unglück den Kopf in den Sand steckt, er soll durch die Art dieses Todes nicht bloß über das Imaginäre seiner Beruhigung aufgeklärt werdeu, sondern auch über alle dabei in Frage kommenden Motive. Der Dichter er¬ reicht das, und wir siud weit entfernt, etwas an dieser meisterhaften Miniatur¬ tragödie aussetzen zu wollen. Aber er erreicht es dnrch eine Pantomime, die Pantomime eiuer widerliche« Agonie, gegen die sich unsre Nerven empören. In dieser Beziehung gleicht der kleine Auftritt ganz dem rohen Akte Scribes. Es ist beidemal die Giftprobe, das Experiment zu einer früher gegebenen pa¬ thologischen Schilderung. Das ist Vivisektion. Wir möchten hierbei auf die besondern Wirkungen der verschiednen Theater- mvrde hinweisen. Der Dolch inkommodirt uns am wenigsten. Sein Stich durchzuckt uns, aber dann ist es vorbei. Schlimmer ist schon der Strick; er ist mit einem bedenklichen Gefühle ini obern Teile der Brust verbunden. Am allerschrccklichsten ist das Gift, weil seine Folgezustände dem pathologischen Borstellnugsveriuögeu am nächsten stehen. Es giebt daher eine Art Beruhigung, wenn die Vergiftung auf unzweideutige Weife durch Aufnahme des Giftes in den Körper markirt wird. Wir sind es nicht, die ans dem Becher getrunken, das Fläschchen geleert haben. Bricht aber die Vergiftung auf geheimnisvollem Wege gewissermaßen aus der Luft über deu Darsteller herein, durch die Be¬ rührung einer Rose, durch das Ritzen mit einem Messer, dann ergreift sie anch uns. Es ist bekannt, wie wenig Mühe es kostet, jemandem bis zur Bewußt¬ losigkeit einzureden, er sei vergiftet, wenn man sich wirklich einen so grausamen Scherz erlauben wollte. Das beruht auf eben derselben Geschäftigkeit der re¬ flektorischen Nerven, die uns in obigen Fällen die angenehmen Empfindungen verschafft, welche die Kunst des Darstellers uns andeutet: Kälteschauer, uner¬ trägliche Unruhe in allen Gliedern, Angstschweiß und jene antiperistaltifchen Bewegungen im Innern, die anch dem stärksten Manne aus seinem Fuchssemester bekannt sind. Daß diese Kunst eines großen Schauspielers würdig sei, bestreite ich ent¬ schieden. Ich halte sie nicht einmal für schwer. Nichts ist leichter zu erlangen, als die Kenntnis der hier anzuwendenden Mimik. Überraschende Einzelheiten' wie sie Lichtenberg an Garrits Kopien natürlicher Ausdrucksformen bewundert^

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/692
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/692>, abgerufen am 03.07.2024.