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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Das Sterben auf der Bühne.

jedoch, wie bereits festgestellt, eine andre Aufgabe, die der eben berührten meist
widerstreiten wird. Darum weicht er hinter die Kvulissen und tritt bloß als
Faktum vor uns, nicht als Bild.

Aber wir sind weit entfernt, der tragischen Muse ihre uralten Attribute,
Gift, Dolch und Strick, wieder nehmen zu wollen. Der moderne Dramatiker
hat verwickeltere Probleme zu lösen, als der antike. Er wird in den meisten
Fällen den Tod auf offner Bühne nicht entbehren können. Dramaturgisch ist
aber seine Bedeutung ohne Frage dieselbe geblieben; er wird sie nicht anders
auffassen, als wie sie von uns oben formulirt worden ist. Wenn er sich also
derselben bewußt bleibt und nicht etwa absichtlich nach des Aristoteles Ausdruck
für Konlissenreißer ?.c>vL t5-^ox^r"s) dichtet, so wird er die Grenzen seiner
Rolle so eng als möglich zu ziehen suchen und wird sich hüten, ihr eine Cha¬
rakteristik zuzuleiten, die sie als Selbstwerk erscheinen lassen könnte. Die Luise
freilich, welcher von dem "elenden Gran Arsenik sehr übel wird," welche "mit
schwerer Zunge" spricht, während "ihre Finger gichterisch zucken," diese Luise
wird immer das dramatische Gruseln des nach starkem Tabak verlangenden Vor-
stadtpubliknms bestreiten, wie die Kanaille Franz, welche es einzig unter den
Bühueubösewichtern fertig bringt, sich vor den Zeugen seiner Schandthaten mit
der "goldnen Hutschnur selbst zu erdrosseln." Doch diese Träume eiues Re-
gimentsfeldscheers hat der Dichter nicht zu verantworten. Shakespeare, der
Dramatiker an sich, der sich gewiß an keine überzarten Nerven wendet, kennt solche
Dinge nicht. Selbst da, wo er am weitesten geht, im "Othello," verlegt er die
Unthat in den Alkoven, wo der Körper des Mohren die gräßliche Szene ver¬
deckt, und zieht daun gnädig den Vorhang (Arg,v lenz ourts.w8) vor den Todes¬
kampf der armen Desdemona. Nirgends lag die Versuchung zu folchen Aus¬
schreitungen näher, als in dem überherrlichen, leider durch seine Unausführbarkeit
wenig populären "Antonius und Kleopatra." Hier ist ja das interessante Schlangen¬
gift -- welch eine Agonie ließ sich darauf gründen! Aber wie kurz geht er
darüber hinweg! "Siehst du den Säugling nicht an meiner Brust in Schlaf
die Amme sangen" und "so süß wie Thau! so mild wie Luft, so lieblich -- O
mein Antonius! -- Was wart' ich noch!" Das ist alles. Das sanfte Ein¬
schlafen des Bewußtseins, der einzige Tod, den man ersehnt. Und er, Anto¬
nius, der Romeo unter den Helden, der garnicht scheiden kann von der Welt,
in der er sie zurückläßt, bei ihm überwiegt das Leben so den Tod, daß wir mit
ihm nur den Abschied von ihr empfinden, nicht den vom Dasein. Denn das
ist das Kriterium einer solchen Szene, daß man über ihrem poetischen Gehalt
oder über ihrer dramatische Notwendigkeit und Bedeutsamkeit den materiellen
Hintergrund ganz vergißt. Nur wenn der Sterbende ans der Bühne gebraucht
wird, um Beziehungen ins Klare zu bringen, Motive zu Ende zu führen u. s. w.,
oder wenn er auf keine Weise von ihr entfernt werde" kann, nur dann darf er
sich erlauben, auf der Bühne zu sterben.


Das Sterben auf der Bühne.

jedoch, wie bereits festgestellt, eine andre Aufgabe, die der eben berührten meist
widerstreiten wird. Darum weicht er hinter die Kvulissen und tritt bloß als
Faktum vor uns, nicht als Bild.

Aber wir sind weit entfernt, der tragischen Muse ihre uralten Attribute,
Gift, Dolch und Strick, wieder nehmen zu wollen. Der moderne Dramatiker
hat verwickeltere Probleme zu lösen, als der antike. Er wird in den meisten
Fällen den Tod auf offner Bühne nicht entbehren können. Dramaturgisch ist
aber seine Bedeutung ohne Frage dieselbe geblieben; er wird sie nicht anders
auffassen, als wie sie von uns oben formulirt worden ist. Wenn er sich also
derselben bewußt bleibt und nicht etwa absichtlich nach des Aristoteles Ausdruck
für Konlissenreißer ?.c>vL t5-^ox^r«s) dichtet, so wird er die Grenzen seiner
Rolle so eng als möglich zu ziehen suchen und wird sich hüten, ihr eine Cha¬
rakteristik zuzuleiten, die sie als Selbstwerk erscheinen lassen könnte. Die Luise
freilich, welcher von dem „elenden Gran Arsenik sehr übel wird," welche „mit
schwerer Zunge" spricht, während „ihre Finger gichterisch zucken," diese Luise
wird immer das dramatische Gruseln des nach starkem Tabak verlangenden Vor-
stadtpubliknms bestreiten, wie die Kanaille Franz, welche es einzig unter den
Bühueubösewichtern fertig bringt, sich vor den Zeugen seiner Schandthaten mit
der „goldnen Hutschnur selbst zu erdrosseln." Doch diese Träume eiues Re-
gimentsfeldscheers hat der Dichter nicht zu verantworten. Shakespeare, der
Dramatiker an sich, der sich gewiß an keine überzarten Nerven wendet, kennt solche
Dinge nicht. Selbst da, wo er am weitesten geht, im „Othello," verlegt er die
Unthat in den Alkoven, wo der Körper des Mohren die gräßliche Szene ver¬
deckt, und zieht daun gnädig den Vorhang (Arg,v lenz ourts.w8) vor den Todes¬
kampf der armen Desdemona. Nirgends lag die Versuchung zu folchen Aus¬
schreitungen näher, als in dem überherrlichen, leider durch seine Unausführbarkeit
wenig populären „Antonius und Kleopatra." Hier ist ja das interessante Schlangen¬
gift — welch eine Agonie ließ sich darauf gründen! Aber wie kurz geht er
darüber hinweg! „Siehst du den Säugling nicht an meiner Brust in Schlaf
die Amme sangen" und „so süß wie Thau! so mild wie Luft, so lieblich — O
mein Antonius! — Was wart' ich noch!" Das ist alles. Das sanfte Ein¬
schlafen des Bewußtseins, der einzige Tod, den man ersehnt. Und er, Anto¬
nius, der Romeo unter den Helden, der garnicht scheiden kann von der Welt,
in der er sie zurückläßt, bei ihm überwiegt das Leben so den Tod, daß wir mit
ihm nur den Abschied von ihr empfinden, nicht den vom Dasein. Denn das
ist das Kriterium einer solchen Szene, daß man über ihrem poetischen Gehalt
oder über ihrer dramatische Notwendigkeit und Bedeutsamkeit den materiellen
Hintergrund ganz vergißt. Nur wenn der Sterbende ans der Bühne gebraucht
wird, um Beziehungen ins Klare zu bringen, Motive zu Ende zu führen u. s. w.,
oder wenn er auf keine Weise von ihr entfernt werde» kann, nur dann darf er
sich erlauben, auf der Bühne zu sterben.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/691>, abgerufen am 03.07.2024.