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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Giuv neue Schiller-Biographie.

innere Selbstbefreiung müssen diese Umwandlung begleitet haben." Weltrich
gesteht, daß er die dramatische Größe der "Räuber" von Schiller selbst später
nicht wieder erreicht finde; das war bekanntlich auch L. Tiecks Meinung. Man
muß diesen: Urteile eine gewisse Berechtigung zusprechen, wenn man ihm auch
nicht beistimmen mag. Daß die "Räuber" "nicht allein unter dem Gesichtspunkt
des Ästhetischen betrachtet werden dürfen," ist unzweifelhaft. Nach ihrem Keimen,
ihrem Erscheinen und ihren Wirkungen weist Weltrich sie den sozialpolitischen
Thaten der allgemeinen Kulturgeschichte zu. Rousseaus Ideen sind auch in
Schillers Jugendtraum lebendig geworden. Eine Revolution ist auch in der
deutschen Literatur gepredigt worden, und die französische Nationalversammlung
hat nicht ohne Grund dein Dichter der "Räuber" das Bürgerrecht erteilt.
Allein der Dichter der "Räuber" hat der französischen Revolution nichts weniger
als sympathisch gegenübergestanden. In tendenziöser Absicht hat er ihr gegen¬
über in der "Jungfrau von Orleans" das angeborne Volkskönigtnm ge¬
feiert. Die Freiheit, welche in der französischen Literatur von Rousseau bis
Viktor Hugo nur als eine bestimmte Regierungsform gedacht werden kann, ist
bereits dem Dichter der "Räuber" nicht als etwas äußerliches erschienen. In
seinem eignen Innern muß jedes Individuum durch eigne Kämpfe sich die Frei¬
heit erobern. Ist mir diese erst von einer großen Gesamtheit errungen, so
wird eine die freie Entwicklung hemmende Staatsform sich von selber umge¬
stalten müssen. Das sind Ideen, die Schiller dem Herzoge von Augustenburg
gegenüber ausgesprochen hat, und wie grundverschieden sind sie von der for¬
malen Freiheit, für welche romanische Völker sich begeistert haben!

Stehen wir heute uicht nur politisch, sondern auch in unsern Anschauungen
und Ideen nicht mehr wie in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts
uuter dem Einflüsse der vom Auslande gebrauchten Schlagwörter, so haben wir
dies in erster Linie dein großen Sinne und den großen Thaten der Führer
unsrer Literatur, Lessing, Herder, Goethe, Schiller, zu danken. Ihren Geist in
jeder Generation lebendig zu erhalten, den Inhalt ihrer Werke uns anzueignen,
durch die Betrachtung ihres Entwicklungsganges, ihres Lebens und Strebens,
Leidens und Streitens uns zu gleichem Idealismus zu stärken, ist eine nationale
Pflicht und Aufgabe, deren volle Bedeutung leider nicht oft genügend erkannt
wird. Möchte die nach jeder Seite hin treffliche Geschichte, welche uns von dem
Leben Schillers erzählt, dazu beitragen, Liebe und Verständnis zu wecken und
zu mehren für den Dichter, der als "ein Fürst im Frieden des Geistes, doch
auch als ein Held seines Volkes und ein Vorkämpfer im gewaltigsten Streit"
sich nun seit einem Jahrhundert bereits erwiesen.


Max Asch.


Giuv neue Schiller-Biographie.

innere Selbstbefreiung müssen diese Umwandlung begleitet haben." Weltrich
gesteht, daß er die dramatische Größe der „Räuber" von Schiller selbst später
nicht wieder erreicht finde; das war bekanntlich auch L. Tiecks Meinung. Man
muß diesen: Urteile eine gewisse Berechtigung zusprechen, wenn man ihm auch
nicht beistimmen mag. Daß die „Räuber" „nicht allein unter dem Gesichtspunkt
des Ästhetischen betrachtet werden dürfen," ist unzweifelhaft. Nach ihrem Keimen,
ihrem Erscheinen und ihren Wirkungen weist Weltrich sie den sozialpolitischen
Thaten der allgemeinen Kulturgeschichte zu. Rousseaus Ideen sind auch in
Schillers Jugendtraum lebendig geworden. Eine Revolution ist auch in der
deutschen Literatur gepredigt worden, und die französische Nationalversammlung
hat nicht ohne Grund dein Dichter der „Räuber" das Bürgerrecht erteilt.
Allein der Dichter der „Räuber" hat der französischen Revolution nichts weniger
als sympathisch gegenübergestanden. In tendenziöser Absicht hat er ihr gegen¬
über in der „Jungfrau von Orleans" das angeborne Volkskönigtnm ge¬
feiert. Die Freiheit, welche in der französischen Literatur von Rousseau bis
Viktor Hugo nur als eine bestimmte Regierungsform gedacht werden kann, ist
bereits dem Dichter der „Räuber" nicht als etwas äußerliches erschienen. In
seinem eignen Innern muß jedes Individuum durch eigne Kämpfe sich die Frei¬
heit erobern. Ist mir diese erst von einer großen Gesamtheit errungen, so
wird eine die freie Entwicklung hemmende Staatsform sich von selber umge¬
stalten müssen. Das sind Ideen, die Schiller dem Herzoge von Augustenburg
gegenüber ausgesprochen hat, und wie grundverschieden sind sie von der for¬
malen Freiheit, für welche romanische Völker sich begeistert haben!

Stehen wir heute uicht nur politisch, sondern auch in unsern Anschauungen
und Ideen nicht mehr wie in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts
uuter dem Einflüsse der vom Auslande gebrauchten Schlagwörter, so haben wir
dies in erster Linie dein großen Sinne und den großen Thaten der Führer
unsrer Literatur, Lessing, Herder, Goethe, Schiller, zu danken. Ihren Geist in
jeder Generation lebendig zu erhalten, den Inhalt ihrer Werke uns anzueignen,
durch die Betrachtung ihres Entwicklungsganges, ihres Lebens und Strebens,
Leidens und Streitens uns zu gleichem Idealismus zu stärken, ist eine nationale
Pflicht und Aufgabe, deren volle Bedeutung leider nicht oft genügend erkannt
wird. Möchte die nach jeder Seite hin treffliche Geschichte, welche uns von dem
Leben Schillers erzählt, dazu beitragen, Liebe und Verständnis zu wecken und
zu mehren für den Dichter, der als „ein Fürst im Frieden des Geistes, doch
auch als ein Held seines Volkes und ein Vorkämpfer im gewaltigsten Streit"
sich nun seit einem Jahrhundert bereits erwiesen.


Max Asch.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/684>, abgerufen am 22.07.2024.