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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Afghanistan und die Afghanen.

selben nach entlegnen Mittelpunkten des Handels ist bei den schlechten Verkehrs¬
wegen fast unmöglich. Wenn man hier immerhin mancher großen Karawane
begegnet, so dient sie immer fast nur dein Transit indischer, d. h. englischer
Waaren, die nach Buchara, dem Hauptinarkte Mittelasiens, gehen. Seit einiger
Zeit treten hier mich Erzeugnisse der russischen Industrie auf, darunter selbst
Kerzen und Streichhölzchen.

Als mittlere Jahrestemperatur ergiebt sich nach Burnes, Gerard und Jaworski
14,4 Grad Celsius. Der heißeste Monat ist der Juli, der kälteste der Januar.
Nach Burnes friert der Ann-Darjci in den Gebieten von Kvbadjcm und Kundus
uicht selten zu, nach Jaworski käme dies im Meridian von Masari Scherif
niemals vor, er sah im Dezember bei 8 Grad Celsius wohl eine schmale
Eiskruste an den Ufern, aber keinen Eisgang. Bemerkenswert sind die schroffen
Schwankungen der Tagcstemperatur, welche im Sommer stattfinden.

Nächst diesem nördlichen Striche Afghanistans interessirt uns für jetzt und
eine nahe Zukunft vor allem die nordwestlichste Provinz des Reiches Abdur-
rachmans, das Chanat Herat, welches eine Ausdehnung von 160 000 Quadrat¬
kilometern hat, und dessen Einwohnerzahl auf 800000 Seelen geschätzt wird.
Im Osten von der Hesara, einem öden Berglande, dem Ausläufer des Paro-
Pamisus, im Norden von den Steppen Turkestans, im Westen von Chomsfan
und im Süden von der iranische" Salzwüste begrenzt, ist es eine Senkung des
Tafellandes von Iran, die in zwei Hälften, eine südliche und eine nördliche,
zerfällt. Jene ist mit Ausnahme der Flußniederungen des Helmand und einiger
andern Flüsse, da anarchische Zustände die alten Bcwäfscrungsanstalten verfallen
ließen, zum großen Teil eine baumlose, glühend heiße und unbebaute Einöde,
diese dagegen noch heute eine äußerst fruchtbare und ertragreiche Landschaft.
Besonders gilt dies von ihrem Mittelpunkte, dem breiten Thale des Herirud,
wo es schone Wälder, wasserreiche Quellen und Bäche, Gärten und wohlbestellte
Äcker giebt, und wo ein mildes Klima wie ein ewiger Frühling herrscht. Die
Bevölkerung setzt sich aus Tadschiks, welche die Majorität ausmachen und meist
Ackerbau und Gärtnerei treiben, aus Turkmenen und Arabern, die als Hirten
umherwandern, aus Afghanen, welche die Eigentümer des Bodens sind, den die
Tadschiks als Pächter bestellen, und ans Hindu-Kaufleuten zusammen. Die
Hauptstadt Herat, von persischen Dichtern als "Ort des Segens" und "Perle
der Welt" gepriesen, liegt sehr anmutig im Thalkessel des Herirud und hatte
früher weit über 100000 Einwohner, während deren Zahl jetzt kaum 50000
betragen wird. Sie bildet ein Viereck, dessen Langseiten etwa 1600, dessen
Breitseiten etwa 1400 Schritte sich hinziehen, und das von einem Erdwall ein¬
geschlossen ist, auf welchem sich eine dicke Mauer aus ungebrannten Ziegeln
erhebt. Der Wall hat ungefähr 50, die Mauer 25 bis 30 Fuß Höhe, das
Ganze umgiebt ein breiter und tiefer Wassergraben. Am nördlichen Ende ver¬
stärkt eine Zitadelle diese Befestigungen. Auf dieser Seite hat die Stadt zwei


Afghanistan und die Afghanen.

selben nach entlegnen Mittelpunkten des Handels ist bei den schlechten Verkehrs¬
wegen fast unmöglich. Wenn man hier immerhin mancher großen Karawane
begegnet, so dient sie immer fast nur dein Transit indischer, d. h. englischer
Waaren, die nach Buchara, dem Hauptinarkte Mittelasiens, gehen. Seit einiger
Zeit treten hier mich Erzeugnisse der russischen Industrie auf, darunter selbst
Kerzen und Streichhölzchen.

Als mittlere Jahrestemperatur ergiebt sich nach Burnes, Gerard und Jaworski
14,4 Grad Celsius. Der heißeste Monat ist der Juli, der kälteste der Januar.
Nach Burnes friert der Ann-Darjci in den Gebieten von Kvbadjcm und Kundus
uicht selten zu, nach Jaworski käme dies im Meridian von Masari Scherif
niemals vor, er sah im Dezember bei 8 Grad Celsius wohl eine schmale
Eiskruste an den Ufern, aber keinen Eisgang. Bemerkenswert sind die schroffen
Schwankungen der Tagcstemperatur, welche im Sommer stattfinden.

Nächst diesem nördlichen Striche Afghanistans interessirt uns für jetzt und
eine nahe Zukunft vor allem die nordwestlichste Provinz des Reiches Abdur-
rachmans, das Chanat Herat, welches eine Ausdehnung von 160 000 Quadrat¬
kilometern hat, und dessen Einwohnerzahl auf 800000 Seelen geschätzt wird.
Im Osten von der Hesara, einem öden Berglande, dem Ausläufer des Paro-
Pamisus, im Norden von den Steppen Turkestans, im Westen von Chomsfan
und im Süden von der iranische» Salzwüste begrenzt, ist es eine Senkung des
Tafellandes von Iran, die in zwei Hälften, eine südliche und eine nördliche,
zerfällt. Jene ist mit Ausnahme der Flußniederungen des Helmand und einiger
andern Flüsse, da anarchische Zustände die alten Bcwäfscrungsanstalten verfallen
ließen, zum großen Teil eine baumlose, glühend heiße und unbebaute Einöde,
diese dagegen noch heute eine äußerst fruchtbare und ertragreiche Landschaft.
Besonders gilt dies von ihrem Mittelpunkte, dem breiten Thale des Herirud,
wo es schone Wälder, wasserreiche Quellen und Bäche, Gärten und wohlbestellte
Äcker giebt, und wo ein mildes Klima wie ein ewiger Frühling herrscht. Die
Bevölkerung setzt sich aus Tadschiks, welche die Majorität ausmachen und meist
Ackerbau und Gärtnerei treiben, aus Turkmenen und Arabern, die als Hirten
umherwandern, aus Afghanen, welche die Eigentümer des Bodens sind, den die
Tadschiks als Pächter bestellen, und ans Hindu-Kaufleuten zusammen. Die
Hauptstadt Herat, von persischen Dichtern als „Ort des Segens" und „Perle
der Welt" gepriesen, liegt sehr anmutig im Thalkessel des Herirud und hatte
früher weit über 100000 Einwohner, während deren Zahl jetzt kaum 50000
betragen wird. Sie bildet ein Viereck, dessen Langseiten etwa 1600, dessen
Breitseiten etwa 1400 Schritte sich hinziehen, und das von einem Erdwall ein¬
geschlossen ist, auf welchem sich eine dicke Mauer aus ungebrannten Ziegeln
erhebt. Der Wall hat ungefähr 50, die Mauer 25 bis 30 Fuß Höhe, das
Ganze umgiebt ein breiter und tiefer Wassergraben. Am nördlichen Ende ver¬
stärkt eine Zitadelle diese Befestigungen. Auf dieser Seite hat die Stadt zwei


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[0664] Afghanistan und die Afghanen. selben nach entlegnen Mittelpunkten des Handels ist bei den schlechten Verkehrs¬ wegen fast unmöglich. Wenn man hier immerhin mancher großen Karawane begegnet, so dient sie immer fast nur dein Transit indischer, d. h. englischer Waaren, die nach Buchara, dem Hauptinarkte Mittelasiens, gehen. Seit einiger Zeit treten hier mich Erzeugnisse der russischen Industrie auf, darunter selbst Kerzen und Streichhölzchen. Als mittlere Jahrestemperatur ergiebt sich nach Burnes, Gerard und Jaworski 14,4 Grad Celsius. Der heißeste Monat ist der Juli, der kälteste der Januar. Nach Burnes friert der Ann-Darjci in den Gebieten von Kvbadjcm und Kundus uicht selten zu, nach Jaworski käme dies im Meridian von Masari Scherif niemals vor, er sah im Dezember bei 8 Grad Celsius wohl eine schmale Eiskruste an den Ufern, aber keinen Eisgang. Bemerkenswert sind die schroffen Schwankungen der Tagcstemperatur, welche im Sommer stattfinden. Nächst diesem nördlichen Striche Afghanistans interessirt uns für jetzt und eine nahe Zukunft vor allem die nordwestlichste Provinz des Reiches Abdur- rachmans, das Chanat Herat, welches eine Ausdehnung von 160 000 Quadrat¬ kilometern hat, und dessen Einwohnerzahl auf 800000 Seelen geschätzt wird. Im Osten von der Hesara, einem öden Berglande, dem Ausläufer des Paro- Pamisus, im Norden von den Steppen Turkestans, im Westen von Chomsfan und im Süden von der iranische» Salzwüste begrenzt, ist es eine Senkung des Tafellandes von Iran, die in zwei Hälften, eine südliche und eine nördliche, zerfällt. Jene ist mit Ausnahme der Flußniederungen des Helmand und einiger andern Flüsse, da anarchische Zustände die alten Bcwäfscrungsanstalten verfallen ließen, zum großen Teil eine baumlose, glühend heiße und unbebaute Einöde, diese dagegen noch heute eine äußerst fruchtbare und ertragreiche Landschaft. Besonders gilt dies von ihrem Mittelpunkte, dem breiten Thale des Herirud, wo es schone Wälder, wasserreiche Quellen und Bäche, Gärten und wohlbestellte Äcker giebt, und wo ein mildes Klima wie ein ewiger Frühling herrscht. Die Bevölkerung setzt sich aus Tadschiks, welche die Majorität ausmachen und meist Ackerbau und Gärtnerei treiben, aus Turkmenen und Arabern, die als Hirten umherwandern, aus Afghanen, welche die Eigentümer des Bodens sind, den die Tadschiks als Pächter bestellen, und ans Hindu-Kaufleuten zusammen. Die Hauptstadt Herat, von persischen Dichtern als „Ort des Segens" und „Perle der Welt" gepriesen, liegt sehr anmutig im Thalkessel des Herirud und hatte früher weit über 100000 Einwohner, während deren Zahl jetzt kaum 50000 betragen wird. Sie bildet ein Viereck, dessen Langseiten etwa 1600, dessen Breitseiten etwa 1400 Schritte sich hinziehen, und das von einem Erdwall ein¬ geschlossen ist, auf welchem sich eine dicke Mauer aus ungebrannten Ziegeln erhebt. Der Wall hat ungefähr 50, die Mauer 25 bis 30 Fuß Höhe, das Ganze umgiebt ein breiter und tiefer Wassergraben. Am nördlichen Ende ver¬ stärkt eine Zitadelle diese Befestigungen. Auf dieser Seite hat die Stadt zwei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/664>, abgerufen am 22.07.2024.