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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Afghanistan und die Afghanen.

der Bevölkerung dieser Landstriche Baktriens ausmachten, sind von dem großen
usbekisch-mongolischen Völkerschwall, der im Mittelalter diese Gegenden über¬
flutete, bis auf verhältnismäßig geringe Überbleibsel verschlungen worden; sie
zählen hier gegenwärtig kaum noch 100 000 Seelen, und man findet sie nur
in den Städten. Am reinsten haben sie sich in den gebirgigen Thälern des
Gebiets, vorzüglich in Badagschcm, erhalten. Von andern Völkerschaften
giebt es hier Turkmenen, Kirgisen, Perser, Awscharen, Hindus und Juden,
die Gesamtzahl derselben übersteigt aber schwerlich SO 000. Das Vilajct
Tschaar mag also eine Bevölkerung von etwa 600 000 Seelen haben, und
darunter werden sich höchstens einige hundert eigentliche Afghanen (Pathans)
befinden.

Die Hauptbeschäftigung der Bewohner dieser Provinz, soweit sie seßhaft
sind, ist der Ackerbau, daneben treiben sie wie die nvmndisirenden Stämme
Viehzucht. Man baut hier dieselben Nährpflanzen wie im russischen Tnrkmcnen-
lcmde, d. h. Sommer- und Winterweizcn, Sorgho oder Dschugara, Gerste, Hirse,
Reis, Klee und Scham, und die Ernten fallen oft sehr reichlich aus, der Weizen
giebt z. V. durchschnittlich das fünfundzwanzigfache Korn. Doch werden solche
Ernten nicht bloß durch den guten Boden (Los), sondern auch durch künstliche
Bewässerung bewirkt. Der Obstbau könnte wie im russischen Turkestan glänzende
Ergebnisse liefern, steht aber auf niedriger Stufe; denn es giebt zwar bei jeder
Niederlassung Gärten, aber die Bäume darin erfreuen sich mir geringer Pflege,
und von Pfropfen und Veredeln hat man keine Vorstellung. Aber wie primitiv
auch die Behandlung von Feld und Garten ist, so wird doch im Vilcijet Tschaar
nicht nur das Bedürfnis der örtliche" Bevölkerung an Getreide und Obst hin¬
reichend durch sie befriedigt, sondern sie liefern auch Produkte für die Ausfuhr nach
Buchara und Badagschan in Fülle. Ähnliches ist von der Viehzucht zu sagen,
welche die Usbeken dieser Landstriche betreiben. Trotz der despotischen Ver¬
waltungsmethode der afghanischen Regierung lind ihrer willkürlichen Requisitionen
besitzen diese Usbeken bedeutende Reichtümer an Vieh, große Schaf- und Pferde¬
herden, Massen von Rindern und Dromedaren. Die Abgaben, welche sie davon
an die Provinzialbehörden und deu Emir in Kabul entrichten, belaufen sich
nach Jawvrskis Erkundigungen jährlich auf etwa drei Millionen Rupien, d. h.
sechs Millionen Mark, eine sehr bedeutende Summe, nach welcher jeder Steuer-
pflichtige im Durchschnitt jährlich zehn Rupien zu zahlen hätte. "Hieraus erklärt
sich auch, sagt unsre Quelle, der Haß der Usbeken gegen die Afghanen, welche
das Vilajet als eine Vorratskammer betrachten, der sie soviel entnehmen, als
ihnen beliebt." Der Handel ist schwach entwickelt, die Industrie unerheblich.
Man hat Versuche gemacht, Seidenraupen zu züchten, und gewinnt auch etwas
Seide. Die Schafherden liefern Massen von Wolle, aus denen Teppiche und
grobe Stoffe gewebt werden. Aber mit dem Absätze dieser Waaren ist es übel
bestellt, die einheimischen Märkte sind damit überfüllt, und der Transport der-


Afghanistan und die Afghanen.

der Bevölkerung dieser Landstriche Baktriens ausmachten, sind von dem großen
usbekisch-mongolischen Völkerschwall, der im Mittelalter diese Gegenden über¬
flutete, bis auf verhältnismäßig geringe Überbleibsel verschlungen worden; sie
zählen hier gegenwärtig kaum noch 100 000 Seelen, und man findet sie nur
in den Städten. Am reinsten haben sie sich in den gebirgigen Thälern des
Gebiets, vorzüglich in Badagschcm, erhalten. Von andern Völkerschaften
giebt es hier Turkmenen, Kirgisen, Perser, Awscharen, Hindus und Juden,
die Gesamtzahl derselben übersteigt aber schwerlich SO 000. Das Vilajct
Tschaar mag also eine Bevölkerung von etwa 600 000 Seelen haben, und
darunter werden sich höchstens einige hundert eigentliche Afghanen (Pathans)
befinden.

Die Hauptbeschäftigung der Bewohner dieser Provinz, soweit sie seßhaft
sind, ist der Ackerbau, daneben treiben sie wie die nvmndisirenden Stämme
Viehzucht. Man baut hier dieselben Nährpflanzen wie im russischen Tnrkmcnen-
lcmde, d. h. Sommer- und Winterweizcn, Sorgho oder Dschugara, Gerste, Hirse,
Reis, Klee und Scham, und die Ernten fallen oft sehr reichlich aus, der Weizen
giebt z. V. durchschnittlich das fünfundzwanzigfache Korn. Doch werden solche
Ernten nicht bloß durch den guten Boden (Los), sondern auch durch künstliche
Bewässerung bewirkt. Der Obstbau könnte wie im russischen Turkestan glänzende
Ergebnisse liefern, steht aber auf niedriger Stufe; denn es giebt zwar bei jeder
Niederlassung Gärten, aber die Bäume darin erfreuen sich mir geringer Pflege,
und von Pfropfen und Veredeln hat man keine Vorstellung. Aber wie primitiv
auch die Behandlung von Feld und Garten ist, so wird doch im Vilcijet Tschaar
nicht nur das Bedürfnis der örtliche» Bevölkerung an Getreide und Obst hin¬
reichend durch sie befriedigt, sondern sie liefern auch Produkte für die Ausfuhr nach
Buchara und Badagschan in Fülle. Ähnliches ist von der Viehzucht zu sagen,
welche die Usbeken dieser Landstriche betreiben. Trotz der despotischen Ver¬
waltungsmethode der afghanischen Regierung lind ihrer willkürlichen Requisitionen
besitzen diese Usbeken bedeutende Reichtümer an Vieh, große Schaf- und Pferde¬
herden, Massen von Rindern und Dromedaren. Die Abgaben, welche sie davon
an die Provinzialbehörden und deu Emir in Kabul entrichten, belaufen sich
nach Jawvrskis Erkundigungen jährlich auf etwa drei Millionen Rupien, d. h.
sechs Millionen Mark, eine sehr bedeutende Summe, nach welcher jeder Steuer-
pflichtige im Durchschnitt jährlich zehn Rupien zu zahlen hätte. „Hieraus erklärt
sich auch, sagt unsre Quelle, der Haß der Usbeken gegen die Afghanen, welche
das Vilajet als eine Vorratskammer betrachten, der sie soviel entnehmen, als
ihnen beliebt." Der Handel ist schwach entwickelt, die Industrie unerheblich.
Man hat Versuche gemacht, Seidenraupen zu züchten, und gewinnt auch etwas
Seide. Die Schafherden liefern Massen von Wolle, aus denen Teppiche und
grobe Stoffe gewebt werden. Aber mit dem Absätze dieser Waaren ist es übel
bestellt, die einheimischen Märkte sind damit überfüllt, und der Transport der-


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[0663] Afghanistan und die Afghanen. der Bevölkerung dieser Landstriche Baktriens ausmachten, sind von dem großen usbekisch-mongolischen Völkerschwall, der im Mittelalter diese Gegenden über¬ flutete, bis auf verhältnismäßig geringe Überbleibsel verschlungen worden; sie zählen hier gegenwärtig kaum noch 100 000 Seelen, und man findet sie nur in den Städten. Am reinsten haben sie sich in den gebirgigen Thälern des Gebiets, vorzüglich in Badagschcm, erhalten. Von andern Völkerschaften giebt es hier Turkmenen, Kirgisen, Perser, Awscharen, Hindus und Juden, die Gesamtzahl derselben übersteigt aber schwerlich SO 000. Das Vilajct Tschaar mag also eine Bevölkerung von etwa 600 000 Seelen haben, und darunter werden sich höchstens einige hundert eigentliche Afghanen (Pathans) befinden. Die Hauptbeschäftigung der Bewohner dieser Provinz, soweit sie seßhaft sind, ist der Ackerbau, daneben treiben sie wie die nvmndisirenden Stämme Viehzucht. Man baut hier dieselben Nährpflanzen wie im russischen Tnrkmcnen- lcmde, d. h. Sommer- und Winterweizcn, Sorgho oder Dschugara, Gerste, Hirse, Reis, Klee und Scham, und die Ernten fallen oft sehr reichlich aus, der Weizen giebt z. V. durchschnittlich das fünfundzwanzigfache Korn. Doch werden solche Ernten nicht bloß durch den guten Boden (Los), sondern auch durch künstliche Bewässerung bewirkt. Der Obstbau könnte wie im russischen Turkestan glänzende Ergebnisse liefern, steht aber auf niedriger Stufe; denn es giebt zwar bei jeder Niederlassung Gärten, aber die Bäume darin erfreuen sich mir geringer Pflege, und von Pfropfen und Veredeln hat man keine Vorstellung. Aber wie primitiv auch die Behandlung von Feld und Garten ist, so wird doch im Vilcijet Tschaar nicht nur das Bedürfnis der örtliche» Bevölkerung an Getreide und Obst hin¬ reichend durch sie befriedigt, sondern sie liefern auch Produkte für die Ausfuhr nach Buchara und Badagschan in Fülle. Ähnliches ist von der Viehzucht zu sagen, welche die Usbeken dieser Landstriche betreiben. Trotz der despotischen Ver¬ waltungsmethode der afghanischen Regierung lind ihrer willkürlichen Requisitionen besitzen diese Usbeken bedeutende Reichtümer an Vieh, große Schaf- und Pferde¬ herden, Massen von Rindern und Dromedaren. Die Abgaben, welche sie davon an die Provinzialbehörden und deu Emir in Kabul entrichten, belaufen sich nach Jawvrskis Erkundigungen jährlich auf etwa drei Millionen Rupien, d. h. sechs Millionen Mark, eine sehr bedeutende Summe, nach welcher jeder Steuer- pflichtige im Durchschnitt jährlich zehn Rupien zu zahlen hätte. „Hieraus erklärt sich auch, sagt unsre Quelle, der Haß der Usbeken gegen die Afghanen, welche das Vilajet als eine Vorratskammer betrachten, der sie soviel entnehmen, als ihnen beliebt." Der Handel ist schwach entwickelt, die Industrie unerheblich. Man hat Versuche gemacht, Seidenraupen zu züchten, und gewinnt auch etwas Seide. Die Schafherden liefern Massen von Wolle, aus denen Teppiche und grobe Stoffe gewebt werden. Aber mit dem Absätze dieser Waaren ist es übel bestellt, die einheimischen Märkte sind damit überfüllt, und der Transport der-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/663>, abgerufen am 22.07.2024.