Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Soziologie.

Hand in Hand mit dieser Soziologie von Gumplowiez geht seine Auf¬
fassung von dem Verhältnis des Individuums zu seiner sozialen Gruppe. Auch
bei dem sogenannten blinden Walten der Natur sind es doch immer die einzelnen
Faktoren, welche die Wirkung hervorrufen. Anders soll es in der menschlichen
Gesellschaft fein. Hier soll die Annahme, daß der Mensch denke, der größte
Irrtum fein; nicht er denkt, sondern sein soziales Medium, und er muß so
handeln, wie dieses will. Wenn nun Gumplowiez behauptet, daß das einzelne
Individuum nur die Rolle des Prismas spiele, in welches die sozialen Gedanken
seiner Gruppe einfallen, so fehlt es uns doch an den Gesetzen, welche das Ver¬
hältnis dieses sozialen Ein- und Ausfallwinkels bestimmen. Ja der Verfasser
erklärt sogar -- und mit Recht --, daß die Wissenschaft darauf verzichten
müsse, die unzähligen Schattirungen individueller Gestaltungen und Situationen
zu bearbeiten, und doch setzt sich aus denselben der gesellschaftliche Prozeß zu¬
sammen. Auf diesen Grundlagen kommt Gumplowiez zu ganz andern Auf¬
fassungen von Moral und Recht, von der Geschichte und ihrer Gerechtigkeit,
und mit welcher Dialektik auch seine Ausführungen geschrieben sind, sie können
höchstens blenden, aber nicht überzeugen.

Die Gesellschaft ist eben eine Summe von Individuen, und so wenig wie
sich aus der physischen, wirtschaftlichen und psychischen Natur des Einzelnen
mit aller Bestimmtheit die Gesetze aufstellen lassen, nach denen seine Hcmdlunngen
sich zu richten haben, so wenig lassen sich bestimmte Normen für die gesellschaft¬
lichen Gruppen angeben, oder sie sind so allgemein, daß sie uns nicht befriedigen
können.

Wir haben den Lesern dieser Zeitschrift nur ein allgemeines Bild von
dieser neuen Soziologie geben wollen; es kann hier nicht unsre Aufgabe sein,
das höchst interessante Buch von Gumplowiez in allen seinen Grundzttgen dar¬
zulegen. Das wäre eine Aufgabe, die den Raum dieser Zeitschrift und die
unsrer Muße überschritte. Das Buch ist ein Zeichen der Zeit, überall dehnt
sich der menschliche Geist aus, um die Grenzen unsers Wissens zu überschreiten,
überall aber stößt er sich an dem harten und bittern Worte: iMvrMniuL.
Der Grundfehler dieser Untersuchungen liegt in der monistischen Anschauung,
welche die materiellen und intellektuellen Eigenschaften des Menschen den gleichen
Naturgesetzen unterwerfen will. Aber für die letztgedachten Beziehungen sind
diese Gesetze doch nur zu einem geringen Teile gesundem und soweit sie es sind,
erscheinen sie nicht ausreichend, um zu einer abschließenden Lehre über Plan
und Entwicklung der Gesellschaft und des Staates zu gelangen. Deshalb mag
dem einen blindes Naturgesetz sein, was dem andern das Produkt des freien
. menschlichen Willens und das Walten der Vorsehung ist. Was aber das Be¬
denkliche bei allen diesen neuen Ideen ist, das liegt in der Kühnheit, mit welcher
Hypothesen als feste Grundsätze ausgegeben werden. Der Mangel an bescheidner
Selbsterkenntnis, der seiner Zeit von Virchow mit Recht gewissen Bestrebungen


Soziologie.

Hand in Hand mit dieser Soziologie von Gumplowiez geht seine Auf¬
fassung von dem Verhältnis des Individuums zu seiner sozialen Gruppe. Auch
bei dem sogenannten blinden Walten der Natur sind es doch immer die einzelnen
Faktoren, welche die Wirkung hervorrufen. Anders soll es in der menschlichen
Gesellschaft fein. Hier soll die Annahme, daß der Mensch denke, der größte
Irrtum fein; nicht er denkt, sondern sein soziales Medium, und er muß so
handeln, wie dieses will. Wenn nun Gumplowiez behauptet, daß das einzelne
Individuum nur die Rolle des Prismas spiele, in welches die sozialen Gedanken
seiner Gruppe einfallen, so fehlt es uns doch an den Gesetzen, welche das Ver¬
hältnis dieses sozialen Ein- und Ausfallwinkels bestimmen. Ja der Verfasser
erklärt sogar — und mit Recht —, daß die Wissenschaft darauf verzichten
müsse, die unzähligen Schattirungen individueller Gestaltungen und Situationen
zu bearbeiten, und doch setzt sich aus denselben der gesellschaftliche Prozeß zu¬
sammen. Auf diesen Grundlagen kommt Gumplowiez zu ganz andern Auf¬
fassungen von Moral und Recht, von der Geschichte und ihrer Gerechtigkeit,
und mit welcher Dialektik auch seine Ausführungen geschrieben sind, sie können
höchstens blenden, aber nicht überzeugen.

Die Gesellschaft ist eben eine Summe von Individuen, und so wenig wie
sich aus der physischen, wirtschaftlichen und psychischen Natur des Einzelnen
mit aller Bestimmtheit die Gesetze aufstellen lassen, nach denen seine Hcmdlunngen
sich zu richten haben, so wenig lassen sich bestimmte Normen für die gesellschaft¬
lichen Gruppen angeben, oder sie sind so allgemein, daß sie uns nicht befriedigen
können.

Wir haben den Lesern dieser Zeitschrift nur ein allgemeines Bild von
dieser neuen Soziologie geben wollen; es kann hier nicht unsre Aufgabe sein,
das höchst interessante Buch von Gumplowiez in allen seinen Grundzttgen dar¬
zulegen. Das wäre eine Aufgabe, die den Raum dieser Zeitschrift und die
unsrer Muße überschritte. Das Buch ist ein Zeichen der Zeit, überall dehnt
sich der menschliche Geist aus, um die Grenzen unsers Wissens zu überschreiten,
überall aber stößt er sich an dem harten und bittern Worte: iMvrMniuL.
Der Grundfehler dieser Untersuchungen liegt in der monistischen Anschauung,
welche die materiellen und intellektuellen Eigenschaften des Menschen den gleichen
Naturgesetzen unterwerfen will. Aber für die letztgedachten Beziehungen sind
diese Gesetze doch nur zu einem geringen Teile gesundem und soweit sie es sind,
erscheinen sie nicht ausreichend, um zu einer abschließenden Lehre über Plan
und Entwicklung der Gesellschaft und des Staates zu gelangen. Deshalb mag
dem einen blindes Naturgesetz sein, was dem andern das Produkt des freien
. menschlichen Willens und das Walten der Vorsehung ist. Was aber das Be¬
denkliche bei allen diesen neuen Ideen ist, das liegt in der Kühnheit, mit welcher
Hypothesen als feste Grundsätze ausgegeben werden. Der Mangel an bescheidner
Selbsterkenntnis, der seiner Zeit von Virchow mit Recht gewissen Bestrebungen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0658" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196047"/>
          <fw type="header" place="top"> Soziologie.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2435"> Hand in Hand mit dieser Soziologie von Gumplowiez geht seine Auf¬<lb/>
fassung von dem Verhältnis des Individuums zu seiner sozialen Gruppe. Auch<lb/>
bei dem sogenannten blinden Walten der Natur sind es doch immer die einzelnen<lb/>
Faktoren, welche die Wirkung hervorrufen. Anders soll es in der menschlichen<lb/>
Gesellschaft fein.  Hier soll die Annahme, daß der Mensch denke, der größte<lb/>
Irrtum fein; nicht er denkt, sondern sein soziales Medium, und er muß so<lb/>
handeln, wie dieses will. Wenn nun Gumplowiez behauptet, daß das einzelne<lb/>
Individuum nur die Rolle des Prismas spiele, in welches die sozialen Gedanken<lb/>
seiner Gruppe einfallen, so fehlt es uns doch an den Gesetzen, welche das Ver¬<lb/>
hältnis dieses sozialen Ein- und Ausfallwinkels bestimmen. Ja der Verfasser<lb/>
erklärt sogar &#x2014; und mit Recht &#x2014;, daß die Wissenschaft darauf verzichten<lb/>
müsse, die unzähligen Schattirungen individueller Gestaltungen und Situationen<lb/>
zu bearbeiten, und doch setzt sich aus denselben der gesellschaftliche Prozeß zu¬<lb/>
sammen.  Auf diesen Grundlagen kommt Gumplowiez zu ganz andern Auf¬<lb/>
fassungen von Moral und Recht, von der Geschichte und ihrer Gerechtigkeit,<lb/>
und mit welcher Dialektik auch seine Ausführungen geschrieben sind, sie können<lb/>
höchstens blenden, aber nicht überzeugen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2436"> Die Gesellschaft ist eben eine Summe von Individuen, und so wenig wie<lb/>
sich aus der physischen, wirtschaftlichen und psychischen Natur des Einzelnen<lb/>
mit aller Bestimmtheit die Gesetze aufstellen lassen, nach denen seine Hcmdlunngen<lb/>
sich zu richten haben, so wenig lassen sich bestimmte Normen für die gesellschaft¬<lb/>
lichen Gruppen angeben, oder sie sind so allgemein, daß sie uns nicht befriedigen<lb/>
können.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2437" next="#ID_2438"> Wir haben den Lesern dieser Zeitschrift nur ein allgemeines Bild von<lb/>
dieser neuen Soziologie geben wollen; es kann hier nicht unsre Aufgabe sein,<lb/>
das höchst interessante Buch von Gumplowiez in allen seinen Grundzttgen dar¬<lb/>
zulegen. Das wäre eine Aufgabe, die den Raum dieser Zeitschrift und die<lb/>
unsrer Muße überschritte. Das Buch ist ein Zeichen der Zeit, überall dehnt<lb/>
sich der menschliche Geist aus, um die Grenzen unsers Wissens zu überschreiten,<lb/>
überall aber stößt er sich an dem harten und bittern Worte: iMvrMniuL.<lb/>
Der Grundfehler dieser Untersuchungen liegt in der monistischen Anschauung,<lb/>
welche die materiellen und intellektuellen Eigenschaften des Menschen den gleichen<lb/>
Naturgesetzen unterwerfen will. Aber für die letztgedachten Beziehungen sind<lb/>
diese Gesetze doch nur zu einem geringen Teile gesundem und soweit sie es sind,<lb/>
erscheinen sie nicht ausreichend, um zu einer abschließenden Lehre über Plan<lb/>
und Entwicklung der Gesellschaft und des Staates zu gelangen. Deshalb mag<lb/>
dem einen blindes Naturgesetz sein, was dem andern das Produkt des freien<lb/>
. menschlichen Willens und das Walten der Vorsehung ist. Was aber das Be¬<lb/>
denkliche bei allen diesen neuen Ideen ist, das liegt in der Kühnheit, mit welcher<lb/>
Hypothesen als feste Grundsätze ausgegeben werden. Der Mangel an bescheidner<lb/>
Selbsterkenntnis, der seiner Zeit von Virchow mit Recht gewissen Bestrebungen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0658] Soziologie. Hand in Hand mit dieser Soziologie von Gumplowiez geht seine Auf¬ fassung von dem Verhältnis des Individuums zu seiner sozialen Gruppe. Auch bei dem sogenannten blinden Walten der Natur sind es doch immer die einzelnen Faktoren, welche die Wirkung hervorrufen. Anders soll es in der menschlichen Gesellschaft fein. Hier soll die Annahme, daß der Mensch denke, der größte Irrtum fein; nicht er denkt, sondern sein soziales Medium, und er muß so handeln, wie dieses will. Wenn nun Gumplowiez behauptet, daß das einzelne Individuum nur die Rolle des Prismas spiele, in welches die sozialen Gedanken seiner Gruppe einfallen, so fehlt es uns doch an den Gesetzen, welche das Ver¬ hältnis dieses sozialen Ein- und Ausfallwinkels bestimmen. Ja der Verfasser erklärt sogar — und mit Recht —, daß die Wissenschaft darauf verzichten müsse, die unzähligen Schattirungen individueller Gestaltungen und Situationen zu bearbeiten, und doch setzt sich aus denselben der gesellschaftliche Prozeß zu¬ sammen. Auf diesen Grundlagen kommt Gumplowiez zu ganz andern Auf¬ fassungen von Moral und Recht, von der Geschichte und ihrer Gerechtigkeit, und mit welcher Dialektik auch seine Ausführungen geschrieben sind, sie können höchstens blenden, aber nicht überzeugen. Die Gesellschaft ist eben eine Summe von Individuen, und so wenig wie sich aus der physischen, wirtschaftlichen und psychischen Natur des Einzelnen mit aller Bestimmtheit die Gesetze aufstellen lassen, nach denen seine Hcmdlunngen sich zu richten haben, so wenig lassen sich bestimmte Normen für die gesellschaft¬ lichen Gruppen angeben, oder sie sind so allgemein, daß sie uns nicht befriedigen können. Wir haben den Lesern dieser Zeitschrift nur ein allgemeines Bild von dieser neuen Soziologie geben wollen; es kann hier nicht unsre Aufgabe sein, das höchst interessante Buch von Gumplowiez in allen seinen Grundzttgen dar¬ zulegen. Das wäre eine Aufgabe, die den Raum dieser Zeitschrift und die unsrer Muße überschritte. Das Buch ist ein Zeichen der Zeit, überall dehnt sich der menschliche Geist aus, um die Grenzen unsers Wissens zu überschreiten, überall aber stößt er sich an dem harten und bittern Worte: iMvrMniuL. Der Grundfehler dieser Untersuchungen liegt in der monistischen Anschauung, welche die materiellen und intellektuellen Eigenschaften des Menschen den gleichen Naturgesetzen unterwerfen will. Aber für die letztgedachten Beziehungen sind diese Gesetze doch nur zu einem geringen Teile gesundem und soweit sie es sind, erscheinen sie nicht ausreichend, um zu einer abschließenden Lehre über Plan und Entwicklung der Gesellschaft und des Staates zu gelangen. Deshalb mag dem einen blindes Naturgesetz sein, was dem andern das Produkt des freien . menschlichen Willens und das Walten der Vorsehung ist. Was aber das Be¬ denkliche bei allen diesen neuen Ideen ist, das liegt in der Kühnheit, mit welcher Hypothesen als feste Grundsätze ausgegeben werden. Der Mangel an bescheidner Selbsterkenntnis, der seiner Zeit von Virchow mit Recht gewissen Bestrebungen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/658
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/658>, abgerufen am 22.07.2024.