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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Soziologie.

nicht entbehre, eine Reihe soziologischer Gesetze auf, so die Gesetze der Kausalität,
der Entwicklung, der Periodizität, der Komplizirtheit u, tgi. in. Allein diese Gesetze
sind doch so allgemeiner Natur, daß ihre Anwendung auf die soziologischen Er¬
scheinungen lediglich dem subjektiven Urteil entspringt, und daß die wichtigsten
soziologischen Erscheinungen gerade ohne jede Erkennbarkeit eines Gesetzes sich
entwickeln. Denn was ist mit dem großen Ergebnis gewonnen, wenn mit Emphase
verkündet wird, daß die Aktionen der wilden Horden, der Gesellschaften und der
Staaten durch ein blindes Naturgesetz beherrscht werden? Die exakten Wissenschaften
verschmähen das blinde Naturgesetz, das Zusammenwirken blinder .Kräfte; nicht
bloß die gewöhnlichen Erscheinungen der elementaren Natur, auch die unge¬
wöhnlichen, wie Erderschütterungen und vulkanische Ausbrüche, haben ihre Er¬
klärung gefunden. Für die bedeutendsten Erscheinungen des gesellschaftlichen und
staatlichen Lebens soll dagegen nur ein blindes Naturgesetz gelten. Setzen wir
an dessen Stelle das unerforschliche Walten der Vorsehung, und wir sind zu
demselben Ergebnis gelangt. Nach Gnmplowicz sind die Entstehung von Gesell¬
schaft und Staat und die Evolutionen innerhalb derselben stets dnrch das Vor¬
handensein eines Bedürfnisses und die Befriedigung desselben mittels Zwanges
gegen andre bedingt. Das ist ein Satz, zu dessen Erkenntnis es weder ethno¬
logischer Forschungen, noch einer soziologischen Propädeutik bedarf. Schon der
Sachsenspiegel sieht die Entstehung der Sklaverei in der unrechten Gewalt, die
durch die lange Zeit der Übung für Recht gehalten wird. Und wer denkt nicht
an jenen Schillerschen Vers:


Einstweilen bis den Bau der Welt
Philosophie zusammenhält,
Erhält sie sdie Natur j das Getriebe
Durch Hunger und durch Liebe.

Vom Standpunkte dieses Grundgesetzes werden von Gnmplowicz die sozialen
Elemente und ihre Verbindungen geschildert; ein einfacher Satz, der nur beweist,
daß das wirtschaftliche Bedürfnis das erste ist, der aber doch nicht genügen
kaun, um aus ihm all das Streben und Weben der Menschheit zu erklären.

Es scheint mir aber auch, daß die Horden als Substrate der Soziologie
keine richtige Grundlage bilden. Die letztere nimmt die wilden Horden, welche
die modernen Forscher entdeckt haben, als den normalen Zustand der ersten
Vergesellschaftung an. Weil man bei den Alforen oder Moxos übereinstimmende
Gebräuche findet, die vielleicht bei den alten Jtaleru und Germanen einen
Anklang haben, so schließt man ohne weiteres, daß auch diese sich aus den
gleichen Vorstufen entwickelt haben. Und doch liegt es so nahe, zu fragen,
warum gerade von diesen und in Europa sich Zivilisation und Kultur zu so
hoher Entwicklung gebildet haben und nicht in Sibirien und in Afrika? Das
blinde Naturgesetz sollte doch da wie dort gelten.


Soziologie.

nicht entbehre, eine Reihe soziologischer Gesetze auf, so die Gesetze der Kausalität,
der Entwicklung, der Periodizität, der Komplizirtheit u, tgi. in. Allein diese Gesetze
sind doch so allgemeiner Natur, daß ihre Anwendung auf die soziologischen Er¬
scheinungen lediglich dem subjektiven Urteil entspringt, und daß die wichtigsten
soziologischen Erscheinungen gerade ohne jede Erkennbarkeit eines Gesetzes sich
entwickeln. Denn was ist mit dem großen Ergebnis gewonnen, wenn mit Emphase
verkündet wird, daß die Aktionen der wilden Horden, der Gesellschaften und der
Staaten durch ein blindes Naturgesetz beherrscht werden? Die exakten Wissenschaften
verschmähen das blinde Naturgesetz, das Zusammenwirken blinder .Kräfte; nicht
bloß die gewöhnlichen Erscheinungen der elementaren Natur, auch die unge¬
wöhnlichen, wie Erderschütterungen und vulkanische Ausbrüche, haben ihre Er¬
klärung gefunden. Für die bedeutendsten Erscheinungen des gesellschaftlichen und
staatlichen Lebens soll dagegen nur ein blindes Naturgesetz gelten. Setzen wir
an dessen Stelle das unerforschliche Walten der Vorsehung, und wir sind zu
demselben Ergebnis gelangt. Nach Gnmplowicz sind die Entstehung von Gesell¬
schaft und Staat und die Evolutionen innerhalb derselben stets dnrch das Vor¬
handensein eines Bedürfnisses und die Befriedigung desselben mittels Zwanges
gegen andre bedingt. Das ist ein Satz, zu dessen Erkenntnis es weder ethno¬
logischer Forschungen, noch einer soziologischen Propädeutik bedarf. Schon der
Sachsenspiegel sieht die Entstehung der Sklaverei in der unrechten Gewalt, die
durch die lange Zeit der Übung für Recht gehalten wird. Und wer denkt nicht
an jenen Schillerschen Vers:


Einstweilen bis den Bau der Welt
Philosophie zusammenhält,
Erhält sie sdie Natur j das Getriebe
Durch Hunger und durch Liebe.

Vom Standpunkte dieses Grundgesetzes werden von Gnmplowicz die sozialen
Elemente und ihre Verbindungen geschildert; ein einfacher Satz, der nur beweist,
daß das wirtschaftliche Bedürfnis das erste ist, der aber doch nicht genügen
kaun, um aus ihm all das Streben und Weben der Menschheit zu erklären.

Es scheint mir aber auch, daß die Horden als Substrate der Soziologie
keine richtige Grundlage bilden. Die letztere nimmt die wilden Horden, welche
die modernen Forscher entdeckt haben, als den normalen Zustand der ersten
Vergesellschaftung an. Weil man bei den Alforen oder Moxos übereinstimmende
Gebräuche findet, die vielleicht bei den alten Jtaleru und Germanen einen
Anklang haben, so schließt man ohne weiteres, daß auch diese sich aus den
gleichen Vorstufen entwickelt haben. Und doch liegt es so nahe, zu fragen,
warum gerade von diesen und in Europa sich Zivilisation und Kultur zu so
hoher Entwicklung gebildet haben und nicht in Sibirien und in Afrika? Das
blinde Naturgesetz sollte doch da wie dort gelten.


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[0657] Soziologie. nicht entbehre, eine Reihe soziologischer Gesetze auf, so die Gesetze der Kausalität, der Entwicklung, der Periodizität, der Komplizirtheit u, tgi. in. Allein diese Gesetze sind doch so allgemeiner Natur, daß ihre Anwendung auf die soziologischen Er¬ scheinungen lediglich dem subjektiven Urteil entspringt, und daß die wichtigsten soziologischen Erscheinungen gerade ohne jede Erkennbarkeit eines Gesetzes sich entwickeln. Denn was ist mit dem großen Ergebnis gewonnen, wenn mit Emphase verkündet wird, daß die Aktionen der wilden Horden, der Gesellschaften und der Staaten durch ein blindes Naturgesetz beherrscht werden? Die exakten Wissenschaften verschmähen das blinde Naturgesetz, das Zusammenwirken blinder .Kräfte; nicht bloß die gewöhnlichen Erscheinungen der elementaren Natur, auch die unge¬ wöhnlichen, wie Erderschütterungen und vulkanische Ausbrüche, haben ihre Er¬ klärung gefunden. Für die bedeutendsten Erscheinungen des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens soll dagegen nur ein blindes Naturgesetz gelten. Setzen wir an dessen Stelle das unerforschliche Walten der Vorsehung, und wir sind zu demselben Ergebnis gelangt. Nach Gnmplowicz sind die Entstehung von Gesell¬ schaft und Staat und die Evolutionen innerhalb derselben stets dnrch das Vor¬ handensein eines Bedürfnisses und die Befriedigung desselben mittels Zwanges gegen andre bedingt. Das ist ein Satz, zu dessen Erkenntnis es weder ethno¬ logischer Forschungen, noch einer soziologischen Propädeutik bedarf. Schon der Sachsenspiegel sieht die Entstehung der Sklaverei in der unrechten Gewalt, die durch die lange Zeit der Übung für Recht gehalten wird. Und wer denkt nicht an jenen Schillerschen Vers: Einstweilen bis den Bau der Welt Philosophie zusammenhält, Erhält sie sdie Natur j das Getriebe Durch Hunger und durch Liebe. Vom Standpunkte dieses Grundgesetzes werden von Gnmplowicz die sozialen Elemente und ihre Verbindungen geschildert; ein einfacher Satz, der nur beweist, daß das wirtschaftliche Bedürfnis das erste ist, der aber doch nicht genügen kaun, um aus ihm all das Streben und Weben der Menschheit zu erklären. Es scheint mir aber auch, daß die Horden als Substrate der Soziologie keine richtige Grundlage bilden. Die letztere nimmt die wilden Horden, welche die modernen Forscher entdeckt haben, als den normalen Zustand der ersten Vergesellschaftung an. Weil man bei den Alforen oder Moxos übereinstimmende Gebräuche findet, die vielleicht bei den alten Jtaleru und Germanen einen Anklang haben, so schließt man ohne weiteres, daß auch diese sich aus den gleichen Vorstufen entwickelt haben. Und doch liegt es so nahe, zu fragen, warum gerade von diesen und in Europa sich Zivilisation und Kultur zu so hoher Entwicklung gebildet haben und nicht in Sibirien und in Afrika? Das blinde Naturgesetz sollte doch da wie dort gelten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/657>, abgerufen am 22.07.2024.