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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Soziologie.

Völker überliefert worden sind. Dabei zeigten sich einige frappante Ähnlichkeiten,
andre wurden mit großer Spitzfindigkeit herausgefunden, und so konnte bereits
der berühmte Reisende und Ethnologe Bastian daran denken, die Psyche des
Völkergedankens zu ergründen und eine Völkerpsychologie auf Grund der von
den neueren Naturwissenschaften gewonnenen Ergebnisse aufzubauen.

Es gilt jetzt nur noch aus diesen neu gefundenen Sätzen ein System zu
bereiten, und dieses ist von dem Professor Gumplowicz in Graz unternommen
worden, der nach einigen vorbereitenden Arbeiten insbesondre über den Rassen¬
kampf nunmehr dazu schreitet, die Grundlinien einer "Soziologie" zu entwerfen/')
Zwar ist Begriff und Wissenschaft nicht neu. Schon aus dem Satze des Ari¬
stoteles, daß der Menfch ein Gesellschaftstier sei (^o? ?ro/!.,^txo^), läßt sich
der Gedanke einer Soziologie begreifen. Sie hat ihre erste Ausbildung in
Auguste Comte und ihre höhere Entwicklung in Herbert Spencer gefunden.
Sie bildet die Lehre von den Naturgesetzen, welche die menschliche Gesellschaft
als solche beherrschen; sie will deren Existenz und deren Unabänderlichkeit dar¬
stellen, dergestalt, daß Forscher und Staatsmann, Philosoph und Herrscher daraus
verzichten müssen, die Welt zu verbessern. Auf solche Weltverbesserungsplüne
haben freilich die Soziologen bisher nicht verzichtet, und sie sind nach Ansicht
von Gumplowiez sowohl in diesen wie in der Aufstellung der Gesetze deshalb
nicht glücklich gewesen, weil sie einerseits nur die europäische Kultur in den
Kreis ihrer Untersuchung zogen und andrerseits stets von dem Einzelnen, von
dem Menschen als solchem biologisch in ihren Forschungen ausgingen und Ver¬
führer. Gumplowiez verfährt ungleich radikaler; auch er unternimmt es nicht,
der Weisheit höchsten Schluß zu ziehen und das letzte Rätsel zu lösen. Sein
letzter Ausgangspunkt ist nicht der einzelne Mensch, sondern die einzelne Horde.
Was vor dieser liegt, will er nicht untersuchen, weil wir hierüber keine Quellen
haben; aber nicht bloß die europäische Menschheit, sondern die Menschheit der
Erde ist den Betrachtungen zu gründe zu legen. Dabei sind alle Bilder und
Gleichnisse für die Erklärung der menschlichen Vergesellschaftung zu verwerfen;
in herbem Tadel wird deswegen gegen Schäffles großes Werk von dem Bau
und Organismus des sozialen Körpers vorgegangen und in der Kritik eine
Unerschrockenheit und Kühnheit geübt, die eigentlich nur von einer Wissenschaft
mit sehr sichern Grundlagen und sehr positiven Ergebnissen erklärlich -- wenn
auch nicht gerechtfertigt -- erschiene.

Daß sich Gumplowiez solcher Resultate rühmen könnte, scheint uns bei dem
ganzen Charakter der Soziologie mehr als zweifelhaft.

Der Verfasser giebt zunächst eine geschichtliche Übersicht der soziologischen
Systeme und stellt, um nachzuweisen, daß seine Wissenschaft der realen Grundlagen



") Grundriß der Soziologie von Dr. Ludwig Gumplowicz, Professor der
Staatswisseuschnften um der k, k, Karl-Franzens-Universität in Graz. Wien, Manzscher
Verlag, 188S.
Soziologie.

Völker überliefert worden sind. Dabei zeigten sich einige frappante Ähnlichkeiten,
andre wurden mit großer Spitzfindigkeit herausgefunden, und so konnte bereits
der berühmte Reisende und Ethnologe Bastian daran denken, die Psyche des
Völkergedankens zu ergründen und eine Völkerpsychologie auf Grund der von
den neueren Naturwissenschaften gewonnenen Ergebnisse aufzubauen.

Es gilt jetzt nur noch aus diesen neu gefundenen Sätzen ein System zu
bereiten, und dieses ist von dem Professor Gumplowicz in Graz unternommen
worden, der nach einigen vorbereitenden Arbeiten insbesondre über den Rassen¬
kampf nunmehr dazu schreitet, die Grundlinien einer „Soziologie" zu entwerfen/')
Zwar ist Begriff und Wissenschaft nicht neu. Schon aus dem Satze des Ari¬
stoteles, daß der Menfch ein Gesellschaftstier sei (^o? ?ro/!.,^txo^), läßt sich
der Gedanke einer Soziologie begreifen. Sie hat ihre erste Ausbildung in
Auguste Comte und ihre höhere Entwicklung in Herbert Spencer gefunden.
Sie bildet die Lehre von den Naturgesetzen, welche die menschliche Gesellschaft
als solche beherrschen; sie will deren Existenz und deren Unabänderlichkeit dar¬
stellen, dergestalt, daß Forscher und Staatsmann, Philosoph und Herrscher daraus
verzichten müssen, die Welt zu verbessern. Auf solche Weltverbesserungsplüne
haben freilich die Soziologen bisher nicht verzichtet, und sie sind nach Ansicht
von Gumplowiez sowohl in diesen wie in der Aufstellung der Gesetze deshalb
nicht glücklich gewesen, weil sie einerseits nur die europäische Kultur in den
Kreis ihrer Untersuchung zogen und andrerseits stets von dem Einzelnen, von
dem Menschen als solchem biologisch in ihren Forschungen ausgingen und Ver¬
führer. Gumplowiez verfährt ungleich radikaler; auch er unternimmt es nicht,
der Weisheit höchsten Schluß zu ziehen und das letzte Rätsel zu lösen. Sein
letzter Ausgangspunkt ist nicht der einzelne Mensch, sondern die einzelne Horde.
Was vor dieser liegt, will er nicht untersuchen, weil wir hierüber keine Quellen
haben; aber nicht bloß die europäische Menschheit, sondern die Menschheit der
Erde ist den Betrachtungen zu gründe zu legen. Dabei sind alle Bilder und
Gleichnisse für die Erklärung der menschlichen Vergesellschaftung zu verwerfen;
in herbem Tadel wird deswegen gegen Schäffles großes Werk von dem Bau
und Organismus des sozialen Körpers vorgegangen und in der Kritik eine
Unerschrockenheit und Kühnheit geübt, die eigentlich nur von einer Wissenschaft
mit sehr sichern Grundlagen und sehr positiven Ergebnissen erklärlich — wenn
auch nicht gerechtfertigt — erschiene.

Daß sich Gumplowiez solcher Resultate rühmen könnte, scheint uns bei dem
ganzen Charakter der Soziologie mehr als zweifelhaft.

Der Verfasser giebt zunächst eine geschichtliche Übersicht der soziologischen
Systeme und stellt, um nachzuweisen, daß seine Wissenschaft der realen Grundlagen



") Grundriß der Soziologie von Dr. Ludwig Gumplowicz, Professor der
Staatswisseuschnften um der k, k, Karl-Franzens-Universität in Graz. Wien, Manzscher
Verlag, 188S.
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[0656] Soziologie. Völker überliefert worden sind. Dabei zeigten sich einige frappante Ähnlichkeiten, andre wurden mit großer Spitzfindigkeit herausgefunden, und so konnte bereits der berühmte Reisende und Ethnologe Bastian daran denken, die Psyche des Völkergedankens zu ergründen und eine Völkerpsychologie auf Grund der von den neueren Naturwissenschaften gewonnenen Ergebnisse aufzubauen. Es gilt jetzt nur noch aus diesen neu gefundenen Sätzen ein System zu bereiten, und dieses ist von dem Professor Gumplowicz in Graz unternommen worden, der nach einigen vorbereitenden Arbeiten insbesondre über den Rassen¬ kampf nunmehr dazu schreitet, die Grundlinien einer „Soziologie" zu entwerfen/') Zwar ist Begriff und Wissenschaft nicht neu. Schon aus dem Satze des Ari¬ stoteles, daß der Menfch ein Gesellschaftstier sei (^o? ?ro/!.,^txo^), läßt sich der Gedanke einer Soziologie begreifen. Sie hat ihre erste Ausbildung in Auguste Comte und ihre höhere Entwicklung in Herbert Spencer gefunden. Sie bildet die Lehre von den Naturgesetzen, welche die menschliche Gesellschaft als solche beherrschen; sie will deren Existenz und deren Unabänderlichkeit dar¬ stellen, dergestalt, daß Forscher und Staatsmann, Philosoph und Herrscher daraus verzichten müssen, die Welt zu verbessern. Auf solche Weltverbesserungsplüne haben freilich die Soziologen bisher nicht verzichtet, und sie sind nach Ansicht von Gumplowiez sowohl in diesen wie in der Aufstellung der Gesetze deshalb nicht glücklich gewesen, weil sie einerseits nur die europäische Kultur in den Kreis ihrer Untersuchung zogen und andrerseits stets von dem Einzelnen, von dem Menschen als solchem biologisch in ihren Forschungen ausgingen und Ver¬ führer. Gumplowiez verfährt ungleich radikaler; auch er unternimmt es nicht, der Weisheit höchsten Schluß zu ziehen und das letzte Rätsel zu lösen. Sein letzter Ausgangspunkt ist nicht der einzelne Mensch, sondern die einzelne Horde. Was vor dieser liegt, will er nicht untersuchen, weil wir hierüber keine Quellen haben; aber nicht bloß die europäische Menschheit, sondern die Menschheit der Erde ist den Betrachtungen zu gründe zu legen. Dabei sind alle Bilder und Gleichnisse für die Erklärung der menschlichen Vergesellschaftung zu verwerfen; in herbem Tadel wird deswegen gegen Schäffles großes Werk von dem Bau und Organismus des sozialen Körpers vorgegangen und in der Kritik eine Unerschrockenheit und Kühnheit geübt, die eigentlich nur von einer Wissenschaft mit sehr sichern Grundlagen und sehr positiven Ergebnissen erklärlich — wenn auch nicht gerechtfertigt — erschiene. Daß sich Gumplowiez solcher Resultate rühmen könnte, scheint uns bei dem ganzen Charakter der Soziologie mehr als zweifelhaft. Der Verfasser giebt zunächst eine geschichtliche Übersicht der soziologischen Systeme und stellt, um nachzuweisen, daß seine Wissenschaft der realen Grundlagen ") Grundriß der Soziologie von Dr. Ludwig Gumplowicz, Professor der Staatswisseuschnften um der k, k, Karl-Franzens-Universität in Graz. Wien, Manzscher Verlag, 188S.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/656>, abgerufen am 22.07.2024.