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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Warum soll man nun den Menschen von dieser Schöpfuugs- und Ent¬
wicklungsgeschichte aufnehmen? Es ist kein Grund, warum nicht die gefundnen
Sätze und Hypothesen auf ihn Anwendung finden sollten; sie haben die Ver¬
mutung für sich, und Sache der Gegner ist es, dieselbe zu widerlegen. Die
Deseeudenten-Vererbnngs- und Anpassungstheorie ist so natürlich, daß ihre
Anwendbarkeit auf den Menschen sich von selbst versteht; denn sie kann nur
absolut unrichtig oder richtig sein. So kommt Zola zu seinem naturalistischen
Roman, zur Schilderung einer Familie, deren Mitglieder teils an Branntwein,
teils an Aphrodiasis zu gründe gehen müssen, weil die Urgroßeltern dereinst am
Säuferwahnsinn gestorben sind. Die Fälle, in denen aus elenden Verhältnissen
sich kraftvolle Männer entwickelt haben -- der noch nicht naturalistisch gebildete
Römer hatte hierfür sogar ein Sprichwort --, die Fälle, wo tüchtige Söhne
unedler Väter ihr Geschlecht zu Ehren brachten, werden als angebliche Aus¬
nahmen -- obgleich hierüber eine Statistik nicht besteht -- einer Beachtung
nicht für wert gehalten. Auf Grund dieser naturalistischen Anschauung bildet
sich in Italien bereits eine neue kriminalistische Schule. Auch der Wille des
Menschen ist darnach nur ein physisches Produkt, nur das Ergebnis der physischen
Elternnatur. Der Mörder mußte den Mord begehen, denn eine Untersuchung
seiner Familiengeschichte ergab, daß Großvater und Vater gewohnheitsmäßige
Säufer, Großmutter und Mutter hysterische Frauen gewesen find. Deshalb
werden auch im Gehirn des Mörders besondre Difformitäten entdeckt und auf
Grund derselben seine Anlagen zum Morde dargethan, trotzdem daß doch noch
niemand die Funktion eines Gehirnes nach ihrer psychischen und vvluntäreu
Richtung zu erklären vermag. Ja nicht bloß die Abkunft ist es, welche dem
Menschen sein Thun aufzwingt, auch Klima und Jahreszeit, Wein- und
Getreidepreise rufen dasselbe mit physischer Notwendigkeit hervor, und der
Statistiker des preußischen Justizministeriums zeigt sogar in genauen graphischen
Abbildungen, wie mit der Steigerung der Getreidepreise auch die Kriminalität
steigt. Dabei wird freilich die Frage anßer Betracht gelassen, ob mit jener
Steigerung auch die Arbeitslosigkeit zugenommen hat; denn hohe Getreidepreise
würden doch sicherlich nicht auf die Kriminalität einwirken können, wenn die
Arbeitsnachfragc gestiegen wäre. Wenn auch das billigste Brot uicht gekauft
werden kann aus Mangel an Arbeitsgelegenheit, so scheint dies eher ein Grund
sür die Begehung von Verbrechen zu sein, als wenn das teure Brot bei günstigem
Arbeitsmarkte seine Abnehmer findet. Die naturalistischen Gesetze auch auf das
Gebiet der Kultur- und Rechtsgeschichte zu übertragen -- it <^ Ä <zu'un xas.
In dem letzten Menschenalter sind uns bisher unbekannte Ländcrgebiete dank
dem mutigen und mühseligen Vorgehen unerschrockener Forscher erschlossen,
neue Völkerstämme in Amerika, Australien und Afrika sind entdeckt, ihre Natur,
ihre Sitten und Gebrauche sind gesammelt und nicht nur untereinander, sondern
mit deu Nachrichten vergliche" worden, die uns von den Urzuständen der Kultur-


Warum soll man nun den Menschen von dieser Schöpfuugs- und Ent¬
wicklungsgeschichte aufnehmen? Es ist kein Grund, warum nicht die gefundnen
Sätze und Hypothesen auf ihn Anwendung finden sollten; sie haben die Ver¬
mutung für sich, und Sache der Gegner ist es, dieselbe zu widerlegen. Die
Deseeudenten-Vererbnngs- und Anpassungstheorie ist so natürlich, daß ihre
Anwendbarkeit auf den Menschen sich von selbst versteht; denn sie kann nur
absolut unrichtig oder richtig sein. So kommt Zola zu seinem naturalistischen
Roman, zur Schilderung einer Familie, deren Mitglieder teils an Branntwein,
teils an Aphrodiasis zu gründe gehen müssen, weil die Urgroßeltern dereinst am
Säuferwahnsinn gestorben sind. Die Fälle, in denen aus elenden Verhältnissen
sich kraftvolle Männer entwickelt haben — der noch nicht naturalistisch gebildete
Römer hatte hierfür sogar ein Sprichwort —, die Fälle, wo tüchtige Söhne
unedler Väter ihr Geschlecht zu Ehren brachten, werden als angebliche Aus¬
nahmen — obgleich hierüber eine Statistik nicht besteht — einer Beachtung
nicht für wert gehalten. Auf Grund dieser naturalistischen Anschauung bildet
sich in Italien bereits eine neue kriminalistische Schule. Auch der Wille des
Menschen ist darnach nur ein physisches Produkt, nur das Ergebnis der physischen
Elternnatur. Der Mörder mußte den Mord begehen, denn eine Untersuchung
seiner Familiengeschichte ergab, daß Großvater und Vater gewohnheitsmäßige
Säufer, Großmutter und Mutter hysterische Frauen gewesen find. Deshalb
werden auch im Gehirn des Mörders besondre Difformitäten entdeckt und auf
Grund derselben seine Anlagen zum Morde dargethan, trotzdem daß doch noch
niemand die Funktion eines Gehirnes nach ihrer psychischen und vvluntäreu
Richtung zu erklären vermag. Ja nicht bloß die Abkunft ist es, welche dem
Menschen sein Thun aufzwingt, auch Klima und Jahreszeit, Wein- und
Getreidepreise rufen dasselbe mit physischer Notwendigkeit hervor, und der
Statistiker des preußischen Justizministeriums zeigt sogar in genauen graphischen
Abbildungen, wie mit der Steigerung der Getreidepreise auch die Kriminalität
steigt. Dabei wird freilich die Frage anßer Betracht gelassen, ob mit jener
Steigerung auch die Arbeitslosigkeit zugenommen hat; denn hohe Getreidepreise
würden doch sicherlich nicht auf die Kriminalität einwirken können, wenn die
Arbeitsnachfragc gestiegen wäre. Wenn auch das billigste Brot uicht gekauft
werden kann aus Mangel an Arbeitsgelegenheit, so scheint dies eher ein Grund
sür die Begehung von Verbrechen zu sein, als wenn das teure Brot bei günstigem
Arbeitsmarkte seine Abnehmer findet. Die naturalistischen Gesetze auch auf das
Gebiet der Kultur- und Rechtsgeschichte zu übertragen — it <^ Ä <zu'un xas.
In dem letzten Menschenalter sind uns bisher unbekannte Ländcrgebiete dank
dem mutigen und mühseligen Vorgehen unerschrockener Forscher erschlossen,
neue Völkerstämme in Amerika, Australien und Afrika sind entdeckt, ihre Natur,
ihre Sitten und Gebrauche sind gesammelt und nicht nur untereinander, sondern
mit deu Nachrichten vergliche» worden, die uns von den Urzuständen der Kultur-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/655>, abgerufen am 25.08.2024.