Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

Treu aber sieht "durchaus nicht, was der Annahme entgegenstehen sollte, daß
z, B. der Hermes von Olympia und die Venus von Milo, als sie noch in
ihrem vollen Farbenschmnckc prangten, im Großen wesentlich so ausgesehen
haben, wie eine tanagräische oder kleinasiatische Terrcicotte im Kleinen." Diesem
Schluß sieht das fundamentale Stilgesetz entgegen, welches Semper in folgende
Worte kleidet: "Es darf das Kleine niemals in der Kunst eine Reduktion
des Großen sein, noch das Große eine Amplisikation des Kleinen." Abge¬
sehen davon bleibt aber auch der Unterschied wesentlich, daß die Terracotten
eben Terracotten, d. h. gebrannte Thonfiguren, die genannten Statuen aber
monumentale Marmorskulpturen waren. Und damit kommen wir zu der letzten
Bedingung des Kunststiles, nämlich zu der Materialfragc. Gerade Semper be¬
tont es zu wiederholten malen, daß die schöne Form stets als Funktion der
technischen Mittel charakterisirt werden muß. Die Stoffe der Bildnerei wechseln,
aber ist auch mir einem derselben Mehrfarbigkeit wesentlich? Im Gegenteil
strciubeu sich die beiden Hauptstoffe, Stein und Metall, gegen eine mehrfarbige
Bemalung durch die technischen Schwierigkeiten, welche sie derselben entgegen¬
setzen. Zunächst muß die Skulptur aber denjenigen Eigenschaften gerecht werden,
welche allen Stoffen gemeinsam sind, und das ist im weitesten Sinne ihre
körperliche Ausdehnung und Formfühigkeit. Daß demnach besondre Materialien,
also Thon, Stein, Holz, Metall, besondre formale Stilisirung verlangen, ist
eines der trivialsten Gesetze der praktischen Ästhetik. Dieser aus der Beschaffenheit
der Stoffe sich ergebende Stil wird aber durch das Aceidcns der Übermalung
in seiner Reinheit getrübt, da sie den Unterschied der Stoffe für das Auge auf¬
hebt, während die Formverschiedenheit unmotivirt bleibt und dadurch unorganisch
erscheint. Wenn man z. B. die Transparenz des parischen Marmors durch Bema¬
lung trübt oder gar deckt, so vernichtet man damit einen Hauptreiz der Marmor¬
skulptur überhaupt und beraubt sie der ihr eigentümlichen Wirkungen, von der
ästhetischen Widerwärtigkeit der mit künstlicher Palma gefärbten Bronzen ganz
zu schweigen. Thon- und Holzplastik vertragen Bemalung, obwohl sie ihnen
in ästhetischem Sinne durchaus uicht unentbehrlich ist. Das Bedürfnis des
Schutzes gegen Witterungseinflüsse kann schließlich für jedes Material geltend
gemacht werde"; diese Zweckmäßigkeitsfrngc kommt aber nicht in Betracht bei
der ästhetischen Beurteilung. Für diese bleibt der Versuch, durch bemaltes
schlechtes Material den Eindruck eines bessern hervorzurufen, stets Lügenkunst
und eine Täuschung, keine ästhetische Illusion.

Fassen wir unsre Betrachtungen zusammen, so kommen wir zu dem Er¬
gebnis, daß die Polhchromie für die Skulptur in vereinzelten Fällen als ein
ästhetischer Vorteil zu betrachten ist, in sehr vielen Fällen aber als ein ent¬
schiedener Nachteil, da sie die organische Einheitlichkeit der Bildnerkunst stört-
Gleichwohl gebührt den Bestrebungen Dank, welche durch Versuche und Aus¬
stellungen Möglichkeit und Veranlassung geben, das Urteil über diese Frage


Treu aber sieht „durchaus nicht, was der Annahme entgegenstehen sollte, daß
z, B. der Hermes von Olympia und die Venus von Milo, als sie noch in
ihrem vollen Farbenschmnckc prangten, im Großen wesentlich so ausgesehen
haben, wie eine tanagräische oder kleinasiatische Terrcicotte im Kleinen." Diesem
Schluß sieht das fundamentale Stilgesetz entgegen, welches Semper in folgende
Worte kleidet: „Es darf das Kleine niemals in der Kunst eine Reduktion
des Großen sein, noch das Große eine Amplisikation des Kleinen." Abge¬
sehen davon bleibt aber auch der Unterschied wesentlich, daß die Terracotten
eben Terracotten, d. h. gebrannte Thonfiguren, die genannten Statuen aber
monumentale Marmorskulpturen waren. Und damit kommen wir zu der letzten
Bedingung des Kunststiles, nämlich zu der Materialfragc. Gerade Semper be¬
tont es zu wiederholten malen, daß die schöne Form stets als Funktion der
technischen Mittel charakterisirt werden muß. Die Stoffe der Bildnerei wechseln,
aber ist auch mir einem derselben Mehrfarbigkeit wesentlich? Im Gegenteil
strciubeu sich die beiden Hauptstoffe, Stein und Metall, gegen eine mehrfarbige
Bemalung durch die technischen Schwierigkeiten, welche sie derselben entgegen¬
setzen. Zunächst muß die Skulptur aber denjenigen Eigenschaften gerecht werden,
welche allen Stoffen gemeinsam sind, und das ist im weitesten Sinne ihre
körperliche Ausdehnung und Formfühigkeit. Daß demnach besondre Materialien,
also Thon, Stein, Holz, Metall, besondre formale Stilisirung verlangen, ist
eines der trivialsten Gesetze der praktischen Ästhetik. Dieser aus der Beschaffenheit
der Stoffe sich ergebende Stil wird aber durch das Aceidcns der Übermalung
in seiner Reinheit getrübt, da sie den Unterschied der Stoffe für das Auge auf¬
hebt, während die Formverschiedenheit unmotivirt bleibt und dadurch unorganisch
erscheint. Wenn man z. B. die Transparenz des parischen Marmors durch Bema¬
lung trübt oder gar deckt, so vernichtet man damit einen Hauptreiz der Marmor¬
skulptur überhaupt und beraubt sie der ihr eigentümlichen Wirkungen, von der
ästhetischen Widerwärtigkeit der mit künstlicher Palma gefärbten Bronzen ganz
zu schweigen. Thon- und Holzplastik vertragen Bemalung, obwohl sie ihnen
in ästhetischem Sinne durchaus uicht unentbehrlich ist. Das Bedürfnis des
Schutzes gegen Witterungseinflüsse kann schließlich für jedes Material geltend
gemacht werde»; diese Zweckmäßigkeitsfrngc kommt aber nicht in Betracht bei
der ästhetischen Beurteilung. Für diese bleibt der Versuch, durch bemaltes
schlechtes Material den Eindruck eines bessern hervorzurufen, stets Lügenkunst
und eine Täuschung, keine ästhetische Illusion.

Fassen wir unsre Betrachtungen zusammen, so kommen wir zu dem Er¬
gebnis, daß die Polhchromie für die Skulptur in vereinzelten Fällen als ein
ästhetischer Vorteil zu betrachten ist, in sehr vielen Fällen aber als ein ent¬
schiedener Nachteil, da sie die organische Einheitlichkeit der Bildnerkunst stört-
Gleichwohl gebührt den Bestrebungen Dank, welche durch Versuche und Aus¬
stellungen Möglichkeit und Veranlassung geben, das Urteil über diese Frage


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0637" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196026"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_2322" prev="#ID_2321"> Treu aber sieht &#x201E;durchaus nicht, was der Annahme entgegenstehen sollte, daß<lb/>
z, B. der Hermes von Olympia und die Venus von Milo, als sie noch in<lb/>
ihrem vollen Farbenschmnckc prangten, im Großen wesentlich so ausgesehen<lb/>
haben, wie eine tanagräische oder kleinasiatische Terrcicotte im Kleinen." Diesem<lb/>
Schluß sieht das fundamentale Stilgesetz entgegen, welches Semper in folgende<lb/>
Worte kleidet: &#x201E;Es darf das Kleine niemals in der Kunst eine Reduktion<lb/>
des Großen sein, noch das Große eine Amplisikation des Kleinen." Abge¬<lb/>
sehen davon bleibt aber auch der Unterschied wesentlich, daß die Terracotten<lb/>
eben Terracotten, d. h. gebrannte Thonfiguren, die genannten Statuen aber<lb/>
monumentale Marmorskulpturen waren. Und damit kommen wir zu der letzten<lb/>
Bedingung des Kunststiles, nämlich zu der Materialfragc. Gerade Semper be¬<lb/>
tont es zu wiederholten malen, daß die schöne Form stets als Funktion der<lb/>
technischen Mittel charakterisirt werden muß. Die Stoffe der Bildnerei wechseln,<lb/>
aber ist auch mir einem derselben Mehrfarbigkeit wesentlich? Im Gegenteil<lb/>
strciubeu sich die beiden Hauptstoffe, Stein und Metall, gegen eine mehrfarbige<lb/>
Bemalung durch die technischen Schwierigkeiten, welche sie derselben entgegen¬<lb/>
setzen. Zunächst muß die Skulptur aber denjenigen Eigenschaften gerecht werden,<lb/>
welche allen Stoffen gemeinsam sind, und das ist im weitesten Sinne ihre<lb/>
körperliche Ausdehnung und Formfühigkeit. Daß demnach besondre Materialien,<lb/>
also Thon, Stein, Holz, Metall, besondre formale Stilisirung verlangen, ist<lb/>
eines der trivialsten Gesetze der praktischen Ästhetik. Dieser aus der Beschaffenheit<lb/>
der Stoffe sich ergebende Stil wird aber durch das Aceidcns der Übermalung<lb/>
in seiner Reinheit getrübt, da sie den Unterschied der Stoffe für das Auge auf¬<lb/>
hebt, während die Formverschiedenheit unmotivirt bleibt und dadurch unorganisch<lb/>
erscheint. Wenn man z. B. die Transparenz des parischen Marmors durch Bema¬<lb/>
lung trübt oder gar deckt, so vernichtet man damit einen Hauptreiz der Marmor¬<lb/>
skulptur überhaupt und beraubt sie der ihr eigentümlichen Wirkungen, von der<lb/>
ästhetischen Widerwärtigkeit der mit künstlicher Palma gefärbten Bronzen ganz<lb/>
zu schweigen. Thon- und Holzplastik vertragen Bemalung, obwohl sie ihnen<lb/>
in ästhetischem Sinne durchaus uicht unentbehrlich ist. Das Bedürfnis des<lb/>
Schutzes gegen Witterungseinflüsse kann schließlich für jedes Material geltend<lb/>
gemacht werde»; diese Zweckmäßigkeitsfrngc kommt aber nicht in Betracht bei<lb/>
der ästhetischen Beurteilung. Für diese bleibt der Versuch, durch bemaltes<lb/>
schlechtes Material den Eindruck eines bessern hervorzurufen, stets Lügenkunst<lb/>
und eine Täuschung, keine ästhetische Illusion.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2323" next="#ID_2324"> Fassen wir unsre Betrachtungen zusammen, so kommen wir zu dem Er¬<lb/>
gebnis, daß die Polhchromie für die Skulptur in vereinzelten Fällen als ein<lb/>
ästhetischer Vorteil zu betrachten ist, in sehr vielen Fällen aber als ein ent¬<lb/>
schiedener Nachteil, da sie die organische Einheitlichkeit der Bildnerkunst stört-<lb/>
Gleichwohl gebührt den Bestrebungen Dank, welche durch Versuche und Aus¬<lb/>
stellungen Möglichkeit und Veranlassung geben, das Urteil über diese Frage</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0637] Treu aber sieht „durchaus nicht, was der Annahme entgegenstehen sollte, daß z, B. der Hermes von Olympia und die Venus von Milo, als sie noch in ihrem vollen Farbenschmnckc prangten, im Großen wesentlich so ausgesehen haben, wie eine tanagräische oder kleinasiatische Terrcicotte im Kleinen." Diesem Schluß sieht das fundamentale Stilgesetz entgegen, welches Semper in folgende Worte kleidet: „Es darf das Kleine niemals in der Kunst eine Reduktion des Großen sein, noch das Große eine Amplisikation des Kleinen." Abge¬ sehen davon bleibt aber auch der Unterschied wesentlich, daß die Terracotten eben Terracotten, d. h. gebrannte Thonfiguren, die genannten Statuen aber monumentale Marmorskulpturen waren. Und damit kommen wir zu der letzten Bedingung des Kunststiles, nämlich zu der Materialfragc. Gerade Semper be¬ tont es zu wiederholten malen, daß die schöne Form stets als Funktion der technischen Mittel charakterisirt werden muß. Die Stoffe der Bildnerei wechseln, aber ist auch mir einem derselben Mehrfarbigkeit wesentlich? Im Gegenteil strciubeu sich die beiden Hauptstoffe, Stein und Metall, gegen eine mehrfarbige Bemalung durch die technischen Schwierigkeiten, welche sie derselben entgegen¬ setzen. Zunächst muß die Skulptur aber denjenigen Eigenschaften gerecht werden, welche allen Stoffen gemeinsam sind, und das ist im weitesten Sinne ihre körperliche Ausdehnung und Formfühigkeit. Daß demnach besondre Materialien, also Thon, Stein, Holz, Metall, besondre formale Stilisirung verlangen, ist eines der trivialsten Gesetze der praktischen Ästhetik. Dieser aus der Beschaffenheit der Stoffe sich ergebende Stil wird aber durch das Aceidcns der Übermalung in seiner Reinheit getrübt, da sie den Unterschied der Stoffe für das Auge auf¬ hebt, während die Formverschiedenheit unmotivirt bleibt und dadurch unorganisch erscheint. Wenn man z. B. die Transparenz des parischen Marmors durch Bema¬ lung trübt oder gar deckt, so vernichtet man damit einen Hauptreiz der Marmor¬ skulptur überhaupt und beraubt sie der ihr eigentümlichen Wirkungen, von der ästhetischen Widerwärtigkeit der mit künstlicher Palma gefärbten Bronzen ganz zu schweigen. Thon- und Holzplastik vertragen Bemalung, obwohl sie ihnen in ästhetischem Sinne durchaus uicht unentbehrlich ist. Das Bedürfnis des Schutzes gegen Witterungseinflüsse kann schließlich für jedes Material geltend gemacht werde»; diese Zweckmäßigkeitsfrngc kommt aber nicht in Betracht bei der ästhetischen Beurteilung. Für diese bleibt der Versuch, durch bemaltes schlechtes Material den Eindruck eines bessern hervorzurufen, stets Lügenkunst und eine Täuschung, keine ästhetische Illusion. Fassen wir unsre Betrachtungen zusammen, so kommen wir zu dem Er¬ gebnis, daß die Polhchromie für die Skulptur in vereinzelten Fällen als ein ästhetischer Vorteil zu betrachten ist, in sehr vielen Fällen aber als ein ent¬ schiedener Nachteil, da sie die organische Einheitlichkeit der Bildnerkunst stört- Gleichwohl gebührt den Bestrebungen Dank, welche durch Versuche und Aus¬ stellungen Möglichkeit und Veranlassung geben, das Urteil über diese Frage

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/637
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/637>, abgerufen am 22.07.2024.