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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Sollen wir unsre Statuen bemalen?

Diskussionsfähigkeit hinaus bereits zu einem gewissen Abschluß gediehen war,
giebt in seiner unlängst erschienenen Broschüre") eine unbedingt bejahende Ant¬
wort, indem er von dem archäologisch-historischen Nachweis der polychromen
Skulptur ausgeht. Wir glauben indes, die ästhetische Erledigung einer unser
heutiges Kunstleben unmittelbar berührenden Frage von der historischen Be¬
trachtung durchaus trennen zu müssen, und stellen uns für die nachfolgende
Auseinandersetzung auf einen möglichst voraussetzungslosen Standpunkt ästhe¬
tischer Betrachtung, nicht um Trens Ausführungen im einzelnen zu widerlegen,
vielmehr um sie objektiv zu ergänzen und vor einseitiger Auslegung zu be¬
wahren.

Durch die Physiologie ist festgestellt, daß unser Gesichtssinn nur für Licht¬
eindrucke empfänglich ist; die sinnliche Empfindung von der räumlichen Aus¬
dehnung eines Körpers gewinnen wir durch das Gefühl, und erst mittels ge¬
wohnheitsmäßiger Abstraktion erhalten wir durch das Gesicht Vorstellungen von
Körpern. So sind wir denn auch gewöhnt, Statuen als körperlich zu betrachten,
obwohl auf der Netzhaut unsers Auges stets nur ein Flächenbild derselben ent¬
worfen wird. Wird nun dnrch die mehrfarbige Bemalung von Körpern unser
Sehnerv gereizt, so wird für die ästhetische Empfindung die genannte Abstraktion
unnötig, und wir werden für die spezifisch körperlichen Reize einer Statue (schöne
Nundung, feine Durcharbeitung der plastischen Details ze.) erst in zweiter Linie
oder nur insofern interessirt, als dieselben schöne Konturen für die einzelnen
Farbenfelder bilden; denn der Reiz der Farbe ist derber und intensiver als
derjenige körperlicher Durchbildung. Naturgemäß wird also auch der Künstler
diese letztere zu gunsten der Farbenwirkung vernachlässigen. Beide können nicht
gleichzeitig zu voller Geltung kommen, weil unser Gesichtssinn bei intensiver
Anstrengung, wie ästhetische Betrachtung sie fordert, nicht fähig ist, einmal in
seiner spezifischen Eigenschaft als Farbensinn und zugleich als Vertreter des
Tastsinnes zu fungiren, wie uns anch die Wahrnehmung im täglichen Leben
lehrt. Wir betrachten nämlich meist die farbigen Körper unsrer Umgebung mir
einseitig im Hinblick auf ihre Körperlichkeit oder auf ihre Farbigkeit. So kann
man sich von der Gestalt eines eben gesehenen Menschen sehr gut eine Vor¬
stellung bewahren, aber man wird merken, daß, je deutlicher diese ist, desto ver¬
schwommener die Erinnerung an die Farben seiner Kleidung haften geblieben ist.
Umgekehrt wird man in dem farbenprächtigen Gedränge einer Festgescllschaft
sicherlich die Figuren nach den Farben ihrer Gewänder unterscheiden, aber nicht
nach ihrem Wuchs, der eben hier hinter dem Eindruck der Farben völlig zurücktritt.
Ebenso würde sarbige Plastik die Aufmerksamkeit des Beschauers sowohl wie
des Künstlers zersplittern. Freie Plastik und Malerei ergänzen sich also nicht,



") sollen wir unsre Statue", bemalen? Ein Vvrtra^ von Prosessar Dr. G evrg
Treu. Berlin, Oppenheim, 1884.
Sollen wir unsre Statuen bemalen?

Diskussionsfähigkeit hinaus bereits zu einem gewissen Abschluß gediehen war,
giebt in seiner unlängst erschienenen Broschüre") eine unbedingt bejahende Ant¬
wort, indem er von dem archäologisch-historischen Nachweis der polychromen
Skulptur ausgeht. Wir glauben indes, die ästhetische Erledigung einer unser
heutiges Kunstleben unmittelbar berührenden Frage von der historischen Be¬
trachtung durchaus trennen zu müssen, und stellen uns für die nachfolgende
Auseinandersetzung auf einen möglichst voraussetzungslosen Standpunkt ästhe¬
tischer Betrachtung, nicht um Trens Ausführungen im einzelnen zu widerlegen,
vielmehr um sie objektiv zu ergänzen und vor einseitiger Auslegung zu be¬
wahren.

Durch die Physiologie ist festgestellt, daß unser Gesichtssinn nur für Licht¬
eindrucke empfänglich ist; die sinnliche Empfindung von der räumlichen Aus¬
dehnung eines Körpers gewinnen wir durch das Gefühl, und erst mittels ge¬
wohnheitsmäßiger Abstraktion erhalten wir durch das Gesicht Vorstellungen von
Körpern. So sind wir denn auch gewöhnt, Statuen als körperlich zu betrachten,
obwohl auf der Netzhaut unsers Auges stets nur ein Flächenbild derselben ent¬
worfen wird. Wird nun dnrch die mehrfarbige Bemalung von Körpern unser
Sehnerv gereizt, so wird für die ästhetische Empfindung die genannte Abstraktion
unnötig, und wir werden für die spezifisch körperlichen Reize einer Statue (schöne
Nundung, feine Durcharbeitung der plastischen Details ze.) erst in zweiter Linie
oder nur insofern interessirt, als dieselben schöne Konturen für die einzelnen
Farbenfelder bilden; denn der Reiz der Farbe ist derber und intensiver als
derjenige körperlicher Durchbildung. Naturgemäß wird also auch der Künstler
diese letztere zu gunsten der Farbenwirkung vernachlässigen. Beide können nicht
gleichzeitig zu voller Geltung kommen, weil unser Gesichtssinn bei intensiver
Anstrengung, wie ästhetische Betrachtung sie fordert, nicht fähig ist, einmal in
seiner spezifischen Eigenschaft als Farbensinn und zugleich als Vertreter des
Tastsinnes zu fungiren, wie uns anch die Wahrnehmung im täglichen Leben
lehrt. Wir betrachten nämlich meist die farbigen Körper unsrer Umgebung mir
einseitig im Hinblick auf ihre Körperlichkeit oder auf ihre Farbigkeit. So kann
man sich von der Gestalt eines eben gesehenen Menschen sehr gut eine Vor¬
stellung bewahren, aber man wird merken, daß, je deutlicher diese ist, desto ver¬
schwommener die Erinnerung an die Farben seiner Kleidung haften geblieben ist.
Umgekehrt wird man in dem farbenprächtigen Gedränge einer Festgescllschaft
sicherlich die Figuren nach den Farben ihrer Gewänder unterscheiden, aber nicht
nach ihrem Wuchs, der eben hier hinter dem Eindruck der Farben völlig zurücktritt.
Ebenso würde sarbige Plastik die Aufmerksamkeit des Beschauers sowohl wie
des Künstlers zersplittern. Freie Plastik und Malerei ergänzen sich also nicht,



") sollen wir unsre Statue», bemalen? Ein Vvrtra^ von Prosessar Dr. G evrg
Treu. Berlin, Oppenheim, 1884.
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[0632] Sollen wir unsre Statuen bemalen? Diskussionsfähigkeit hinaus bereits zu einem gewissen Abschluß gediehen war, giebt in seiner unlängst erschienenen Broschüre") eine unbedingt bejahende Ant¬ wort, indem er von dem archäologisch-historischen Nachweis der polychromen Skulptur ausgeht. Wir glauben indes, die ästhetische Erledigung einer unser heutiges Kunstleben unmittelbar berührenden Frage von der historischen Be¬ trachtung durchaus trennen zu müssen, und stellen uns für die nachfolgende Auseinandersetzung auf einen möglichst voraussetzungslosen Standpunkt ästhe¬ tischer Betrachtung, nicht um Trens Ausführungen im einzelnen zu widerlegen, vielmehr um sie objektiv zu ergänzen und vor einseitiger Auslegung zu be¬ wahren. Durch die Physiologie ist festgestellt, daß unser Gesichtssinn nur für Licht¬ eindrucke empfänglich ist; die sinnliche Empfindung von der räumlichen Aus¬ dehnung eines Körpers gewinnen wir durch das Gefühl, und erst mittels ge¬ wohnheitsmäßiger Abstraktion erhalten wir durch das Gesicht Vorstellungen von Körpern. So sind wir denn auch gewöhnt, Statuen als körperlich zu betrachten, obwohl auf der Netzhaut unsers Auges stets nur ein Flächenbild derselben ent¬ worfen wird. Wird nun dnrch die mehrfarbige Bemalung von Körpern unser Sehnerv gereizt, so wird für die ästhetische Empfindung die genannte Abstraktion unnötig, und wir werden für die spezifisch körperlichen Reize einer Statue (schöne Nundung, feine Durcharbeitung der plastischen Details ze.) erst in zweiter Linie oder nur insofern interessirt, als dieselben schöne Konturen für die einzelnen Farbenfelder bilden; denn der Reiz der Farbe ist derber und intensiver als derjenige körperlicher Durchbildung. Naturgemäß wird also auch der Künstler diese letztere zu gunsten der Farbenwirkung vernachlässigen. Beide können nicht gleichzeitig zu voller Geltung kommen, weil unser Gesichtssinn bei intensiver Anstrengung, wie ästhetische Betrachtung sie fordert, nicht fähig ist, einmal in seiner spezifischen Eigenschaft als Farbensinn und zugleich als Vertreter des Tastsinnes zu fungiren, wie uns anch die Wahrnehmung im täglichen Leben lehrt. Wir betrachten nämlich meist die farbigen Körper unsrer Umgebung mir einseitig im Hinblick auf ihre Körperlichkeit oder auf ihre Farbigkeit. So kann man sich von der Gestalt eines eben gesehenen Menschen sehr gut eine Vor¬ stellung bewahren, aber man wird merken, daß, je deutlicher diese ist, desto ver¬ schwommener die Erinnerung an die Farben seiner Kleidung haften geblieben ist. Umgekehrt wird man in dem farbenprächtigen Gedränge einer Festgescllschaft sicherlich die Figuren nach den Farben ihrer Gewänder unterscheiden, aber nicht nach ihrem Wuchs, der eben hier hinter dem Eindruck der Farben völlig zurücktritt. Ebenso würde sarbige Plastik die Aufmerksamkeit des Beschauers sowohl wie des Künstlers zersplittern. Freie Plastik und Malerei ergänzen sich also nicht, ") sollen wir unsre Statue», bemalen? Ein Vvrtra^ von Prosessar Dr. G evrg Treu. Berlin, Oppenheim, 1884.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/632>, abgerufen am 22.07.2024.