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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Das sächsische Sibirien.

Hörer verwandte Seiten wiederklingen lassen; die besungenen Erlebnisse, die
freudigen wie die ernsten, sind nicht erdichtete oder nur den Einzelnen berüh¬
rende, sondern solche, die zu allen Zeiten wiederkehren und von jeher die Men¬
schenbrust am tiefsten bewegt haben. Die Müllersche Sammlung. die übrigens
dem Erzgebirgsvercin zugeeignet ist, muß daher dem Besten zugerechnet werden,
was die erzgebirgische Literatur bis jetzt hervorgebracht hat.

Die Arbeiten, welche sich mit anderweitigen Äußerungen des Volkslebens
befassen, mit den Bergreien, den Weihnachtsspielen, mit Aberglaube, Sitten und
Gebräuchen im Erzgebirge, sind meist schon etwas älteren Datums. Auch die
Sagen des Landes wurden wiederholt gesammelt vou Dietrich und Textor,
Segnitz, Ziehnert, Grässe u. a.. haben aber erst in neuester Zeit eine abschlie¬
ßende Behandlung erfahren, welche demnächst im Druck erscheinen wird. Ihr
Herausgeber ist der auf diesem Gebiete bereits bewährte Vorsitzende des Erz-
gebirgsvercins, Dr. Köhler. Die Sammlung wird, wie wir hören, über
760 Nummern in 9 Gruppen geordnet umfassen; jeder Gruppe geht eine be¬
sondre Einleitung voraus, und den einzelnen Sagen sind Anmerkungen teils
erklärenden Inhalts, teils mit Hinweisen auf verwandte Überlieferungen in an¬
dern deutschen Gebieten beigegeben. Nach den früheren Arbeiten Köhlers zu
urteilen, wird derselbe gewiß ein gediegenes und zuverlässiges Werk bieten.

Ein Teil der erzgebirgischen Sagen, nämlich die, welche sich auf den Berg¬
bau beziehen, ist übrigens kürzlich auch von Fr. Wrubel zusammengestellt
worden (Bergmännische Sagen, Freiberg. Craz und Gerlach, 1883). Welcher
Beruf wäre wohl reicher durchwoben von abergläubischen Vorstellungen und
sagenhaften Überlieferungen als der des Bergmanns! Wird die Phantasie des
Menschen durch nächtliches Dunkel überhaupt angeregt, so noch vielmehr, wenn
er sich einsam in tiefem Schachte befindet, zu dessen Grabesstille jedes Geräusch
in schauerlichen Gegensatz tritt. Will es gar der Zufall, daß das schwache
Grubenlicht, dnrch welches die Finsternis wenigstens auf einige Schritte etwas
erhellt wurde, plötzlich verlöscht, daß irgendein außergewöhnlicher Vorfall das
ernste Schweigen unterbricht, dann tauchen vor dem erregten Geiste seltsame
Bilder auf, und Furcht und Angst lassen diese Bilder die Gestalt von verfol¬
genden Gespenstern gewinnen. Wrubel zeigt an einer wahren Geschichte ein¬
gehend, auf welche Weise die Vorstellung von dem Dasein eines Berggeistes
entstehen konnte. Bergleute wollen am Montag früh die Arbeit wieder auf¬
nehmen, da hört der erste, welcher unten im Schacht ankommt, klappernde
Schritte und ein lautes höhnisches Lachen. Bleich vor Schrecken fährt er wieder
aus; ein andrer, der hinabsteigt, kommt ebenfalls zitternd zurück. Schließlich
übernimmt es der Steiger, ein hitziger Mann, der über die Feigheit seiner
Leute heftig schilt, diese an ihre Arbeit zu führen. Auch er hört das Klappern
und das Hohngelächter, geht aber mutig darauf zu. Da nähert sich ihm eine
Gestalt mit zwei großen Augen im Kopfe, einem langen Barte und zwei Hörnern.


Grenzboten II. 138S. 78
Das sächsische Sibirien.

Hörer verwandte Seiten wiederklingen lassen; die besungenen Erlebnisse, die
freudigen wie die ernsten, sind nicht erdichtete oder nur den Einzelnen berüh¬
rende, sondern solche, die zu allen Zeiten wiederkehren und von jeher die Men¬
schenbrust am tiefsten bewegt haben. Die Müllersche Sammlung. die übrigens
dem Erzgebirgsvercin zugeeignet ist, muß daher dem Besten zugerechnet werden,
was die erzgebirgische Literatur bis jetzt hervorgebracht hat.

Die Arbeiten, welche sich mit anderweitigen Äußerungen des Volkslebens
befassen, mit den Bergreien, den Weihnachtsspielen, mit Aberglaube, Sitten und
Gebräuchen im Erzgebirge, sind meist schon etwas älteren Datums. Auch die
Sagen des Landes wurden wiederholt gesammelt vou Dietrich und Textor,
Segnitz, Ziehnert, Grässe u. a.. haben aber erst in neuester Zeit eine abschlie¬
ßende Behandlung erfahren, welche demnächst im Druck erscheinen wird. Ihr
Herausgeber ist der auf diesem Gebiete bereits bewährte Vorsitzende des Erz-
gebirgsvercins, Dr. Köhler. Die Sammlung wird, wie wir hören, über
760 Nummern in 9 Gruppen geordnet umfassen; jeder Gruppe geht eine be¬
sondre Einleitung voraus, und den einzelnen Sagen sind Anmerkungen teils
erklärenden Inhalts, teils mit Hinweisen auf verwandte Überlieferungen in an¬
dern deutschen Gebieten beigegeben. Nach den früheren Arbeiten Köhlers zu
urteilen, wird derselbe gewiß ein gediegenes und zuverlässiges Werk bieten.

Ein Teil der erzgebirgischen Sagen, nämlich die, welche sich auf den Berg¬
bau beziehen, ist übrigens kürzlich auch von Fr. Wrubel zusammengestellt
worden (Bergmännische Sagen, Freiberg. Craz und Gerlach, 1883). Welcher
Beruf wäre wohl reicher durchwoben von abergläubischen Vorstellungen und
sagenhaften Überlieferungen als der des Bergmanns! Wird die Phantasie des
Menschen durch nächtliches Dunkel überhaupt angeregt, so noch vielmehr, wenn
er sich einsam in tiefem Schachte befindet, zu dessen Grabesstille jedes Geräusch
in schauerlichen Gegensatz tritt. Will es gar der Zufall, daß das schwache
Grubenlicht, dnrch welches die Finsternis wenigstens auf einige Schritte etwas
erhellt wurde, plötzlich verlöscht, daß irgendein außergewöhnlicher Vorfall das
ernste Schweigen unterbricht, dann tauchen vor dem erregten Geiste seltsame
Bilder auf, und Furcht und Angst lassen diese Bilder die Gestalt von verfol¬
genden Gespenstern gewinnen. Wrubel zeigt an einer wahren Geschichte ein¬
gehend, auf welche Weise die Vorstellung von dem Dasein eines Berggeistes
entstehen konnte. Bergleute wollen am Montag früh die Arbeit wieder auf¬
nehmen, da hört der erste, welcher unten im Schacht ankommt, klappernde
Schritte und ein lautes höhnisches Lachen. Bleich vor Schrecken fährt er wieder
aus; ein andrer, der hinabsteigt, kommt ebenfalls zitternd zurück. Schließlich
übernimmt es der Steiger, ein hitziger Mann, der über die Feigheit seiner
Leute heftig schilt, diese an ihre Arbeit zu führen. Auch er hört das Klappern
und das Hohngelächter, geht aber mutig darauf zu. Da nähert sich ihm eine
Gestalt mit zwei großen Augen im Kopfe, einem langen Barte und zwei Hörnern.


Grenzboten II. 138S. 78
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[0622] Das sächsische Sibirien. Hörer verwandte Seiten wiederklingen lassen; die besungenen Erlebnisse, die freudigen wie die ernsten, sind nicht erdichtete oder nur den Einzelnen berüh¬ rende, sondern solche, die zu allen Zeiten wiederkehren und von jeher die Men¬ schenbrust am tiefsten bewegt haben. Die Müllersche Sammlung. die übrigens dem Erzgebirgsvercin zugeeignet ist, muß daher dem Besten zugerechnet werden, was die erzgebirgische Literatur bis jetzt hervorgebracht hat. Die Arbeiten, welche sich mit anderweitigen Äußerungen des Volkslebens befassen, mit den Bergreien, den Weihnachtsspielen, mit Aberglaube, Sitten und Gebräuchen im Erzgebirge, sind meist schon etwas älteren Datums. Auch die Sagen des Landes wurden wiederholt gesammelt vou Dietrich und Textor, Segnitz, Ziehnert, Grässe u. a.. haben aber erst in neuester Zeit eine abschlie¬ ßende Behandlung erfahren, welche demnächst im Druck erscheinen wird. Ihr Herausgeber ist der auf diesem Gebiete bereits bewährte Vorsitzende des Erz- gebirgsvercins, Dr. Köhler. Die Sammlung wird, wie wir hören, über 760 Nummern in 9 Gruppen geordnet umfassen; jeder Gruppe geht eine be¬ sondre Einleitung voraus, und den einzelnen Sagen sind Anmerkungen teils erklärenden Inhalts, teils mit Hinweisen auf verwandte Überlieferungen in an¬ dern deutschen Gebieten beigegeben. Nach den früheren Arbeiten Köhlers zu urteilen, wird derselbe gewiß ein gediegenes und zuverlässiges Werk bieten. Ein Teil der erzgebirgischen Sagen, nämlich die, welche sich auf den Berg¬ bau beziehen, ist übrigens kürzlich auch von Fr. Wrubel zusammengestellt worden (Bergmännische Sagen, Freiberg. Craz und Gerlach, 1883). Welcher Beruf wäre wohl reicher durchwoben von abergläubischen Vorstellungen und sagenhaften Überlieferungen als der des Bergmanns! Wird die Phantasie des Menschen durch nächtliches Dunkel überhaupt angeregt, so noch vielmehr, wenn er sich einsam in tiefem Schachte befindet, zu dessen Grabesstille jedes Geräusch in schauerlichen Gegensatz tritt. Will es gar der Zufall, daß das schwache Grubenlicht, dnrch welches die Finsternis wenigstens auf einige Schritte etwas erhellt wurde, plötzlich verlöscht, daß irgendein außergewöhnlicher Vorfall das ernste Schweigen unterbricht, dann tauchen vor dem erregten Geiste seltsame Bilder auf, und Furcht und Angst lassen diese Bilder die Gestalt von verfol¬ genden Gespenstern gewinnen. Wrubel zeigt an einer wahren Geschichte ein¬ gehend, auf welche Weise die Vorstellung von dem Dasein eines Berggeistes entstehen konnte. Bergleute wollen am Montag früh die Arbeit wieder auf¬ nehmen, da hört der erste, welcher unten im Schacht ankommt, klappernde Schritte und ein lautes höhnisches Lachen. Bleich vor Schrecken fährt er wieder aus; ein andrer, der hinabsteigt, kommt ebenfalls zitternd zurück. Schließlich übernimmt es der Steiger, ein hitziger Mann, der über die Feigheit seiner Leute heftig schilt, diese an ihre Arbeit zu führen. Auch er hört das Klappern und das Hohngelächter, geht aber mutig darauf zu. Da nähert sich ihm eine Gestalt mit zwei großen Augen im Kopfe, einem langen Barte und zwei Hörnern. Grenzboten II. 138S. 78

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/622>, abgerufen am 22.07.2024.