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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Das sächsische Sibirien.

seinen Humor, der ihn trotz aller Entbehrungen eines mühevollen Lebens nicht
verläßt, aber auch seine Beschränktheit, die sich gegen alles Neue mißtrauisch
und eigensinnig verschließt. Größer als die Zahl der Gedichte ist die der Prosa-
erzählungen. Leider tritt namentlich in diesen der zuletztgenannte Charakterzug
sehr hervor, öfters zur Karikatur übertrieben. Im Interesse des Unternehmens,
das ja auch außerhalb der Grenzen der engern Heimat seine Freunde sucht,
wäre es zu wünschen, daß in dieser Beziehung etwas vorsichtiger verfahren
würde. Mag es auch einzelne Geister von einer so unglaublichen Beschränkt¬
heit geben, wie sie uns hier wiederholt vorgeführt werden, so erhält doch der
Fernstehende von dem Typus des Erzgebirgers leicht ein Zerrbild, das mit der
Wirklichkeit im Widerspruch steht. Freilich trifft dieser Einwand nicht die vor¬
liegende Sammlung allein, sondern in gleicher Weise die Mehrzahl der neueren
"uindartlichen Aufzeichnungen überhaupt: über dem Bestreben, dem Leser heitere
Stunden zu bereiten, verlieren sie nur zu oft das höhere Ziel, ein wirklich ge¬
treues Spiegelbild des Volkscharakters zu geben, aus dem Auge, und suchen
dabei die beabsichtigte Wirkung weniger durch Erfindung und Schilderung scherz¬
hafter Situationen als vielmehr durch die ziemlich wohlfeile Einführung lächer¬
licher Personen zu erreichen. Eine der Prvsaerzählungen ,,'N Ward sei Sänger¬
ras' nach Hamborg" (des Wirtes Sängerreise nach Hamburg) füllt nicht we¬
niger als zwei ganze Hefte aus. Ein schlichter Erzgebirger, der in seinem Leben
nichts weiter kennen gelernt hat als seinen Heimatsort, in demselben aber bis
zum Gelneindevorstandsbeisitzer befördert worden ist, entschließt sich, ein Sänger-
frst in Hamburg zu besuchen, und seine Unkenntnis und Unbeholfenheit läßt
ihn dabei, namentlich auf der Eisenbahn, die er bisher nur vom Hörensagen
kannte, allerlei ergötzliche Nbenicner erleben. Als Probe der Gedichte in erz-
gebirgischer Mundart möge ein ans älterer Zeit stammendes Wiegenliedchen hier
seinen Platz finden:


Pviheia! Mei Madele, schlof halt el'!
sist ruff leed geleich na Hous Rupprich rei':
Dar fackelt sei nel, dar nimmt biens miet,
Rvoch werscht de biens wunnern, wie der'sah nicht,
Pviheia! Mei Madele, schlof gu el'!
Do ruff leed morng ah's Bvrukuuil") rei';
Dos brengt dir Rnsining un Eppeln im Riß,
Do werscht de 'mol schmutzn, die schmeckn sifi,
Poiheia! Mei Madele. schlof sei el'!
Jens ruff ah's Hnhnl um 'S Hihul rei';
Mei Hihul lead Gackele, iveiß um fehle,
Mei Hahnl thut krehe: Kitrekih!


Christkindchen.
Das sächsische Sibirien.

seinen Humor, der ihn trotz aller Entbehrungen eines mühevollen Lebens nicht
verläßt, aber auch seine Beschränktheit, die sich gegen alles Neue mißtrauisch
und eigensinnig verschließt. Größer als die Zahl der Gedichte ist die der Prosa-
erzählungen. Leider tritt namentlich in diesen der zuletztgenannte Charakterzug
sehr hervor, öfters zur Karikatur übertrieben. Im Interesse des Unternehmens,
das ja auch außerhalb der Grenzen der engern Heimat seine Freunde sucht,
wäre es zu wünschen, daß in dieser Beziehung etwas vorsichtiger verfahren
würde. Mag es auch einzelne Geister von einer so unglaublichen Beschränkt¬
heit geben, wie sie uns hier wiederholt vorgeführt werden, so erhält doch der
Fernstehende von dem Typus des Erzgebirgers leicht ein Zerrbild, das mit der
Wirklichkeit im Widerspruch steht. Freilich trifft dieser Einwand nicht die vor¬
liegende Sammlung allein, sondern in gleicher Weise die Mehrzahl der neueren
»uindartlichen Aufzeichnungen überhaupt: über dem Bestreben, dem Leser heitere
Stunden zu bereiten, verlieren sie nur zu oft das höhere Ziel, ein wirklich ge¬
treues Spiegelbild des Volkscharakters zu geben, aus dem Auge, und suchen
dabei die beabsichtigte Wirkung weniger durch Erfindung und Schilderung scherz¬
hafter Situationen als vielmehr durch die ziemlich wohlfeile Einführung lächer¬
licher Personen zu erreichen. Eine der Prvsaerzählungen ,,'N Ward sei Sänger¬
ras' nach Hamborg" (des Wirtes Sängerreise nach Hamburg) füllt nicht we¬
niger als zwei ganze Hefte aus. Ein schlichter Erzgebirger, der in seinem Leben
nichts weiter kennen gelernt hat als seinen Heimatsort, in demselben aber bis
zum Gelneindevorstandsbeisitzer befördert worden ist, entschließt sich, ein Sänger-
frst in Hamburg zu besuchen, und seine Unkenntnis und Unbeholfenheit läßt
ihn dabei, namentlich auf der Eisenbahn, die er bisher nur vom Hörensagen
kannte, allerlei ergötzliche Nbenicner erleben. Als Probe der Gedichte in erz-
gebirgischer Mundart möge ein ans älterer Zeit stammendes Wiegenliedchen hier
seinen Platz finden:


Pviheia! Mei Madele, schlof halt el'!
sist ruff leed geleich na Hous Rupprich rei':
Dar fackelt sei nel, dar nimmt biens miet,
Rvoch werscht de biens wunnern, wie der'sah nicht,
Pviheia! Mei Madele, schlof gu el'!
Do ruff leed morng ah's Bvrukuuil") rei';
Dos brengt dir Rnsining un Eppeln im Riß,
Do werscht de 'mol schmutzn, die schmeckn sifi,
Poiheia! Mei Madele. schlof sei el'!
Jens ruff ah's Hnhnl um 'S Hihul rei';
Mei Hihul lead Gackele, iveiß um fehle,
Mei Hahnl thut krehe: Kitrekih!


Christkindchen.
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[0618] Das sächsische Sibirien. seinen Humor, der ihn trotz aller Entbehrungen eines mühevollen Lebens nicht verläßt, aber auch seine Beschränktheit, die sich gegen alles Neue mißtrauisch und eigensinnig verschließt. Größer als die Zahl der Gedichte ist die der Prosa- erzählungen. Leider tritt namentlich in diesen der zuletztgenannte Charakterzug sehr hervor, öfters zur Karikatur übertrieben. Im Interesse des Unternehmens, das ja auch außerhalb der Grenzen der engern Heimat seine Freunde sucht, wäre es zu wünschen, daß in dieser Beziehung etwas vorsichtiger verfahren würde. Mag es auch einzelne Geister von einer so unglaublichen Beschränkt¬ heit geben, wie sie uns hier wiederholt vorgeführt werden, so erhält doch der Fernstehende von dem Typus des Erzgebirgers leicht ein Zerrbild, das mit der Wirklichkeit im Widerspruch steht. Freilich trifft dieser Einwand nicht die vor¬ liegende Sammlung allein, sondern in gleicher Weise die Mehrzahl der neueren »uindartlichen Aufzeichnungen überhaupt: über dem Bestreben, dem Leser heitere Stunden zu bereiten, verlieren sie nur zu oft das höhere Ziel, ein wirklich ge¬ treues Spiegelbild des Volkscharakters zu geben, aus dem Auge, und suchen dabei die beabsichtigte Wirkung weniger durch Erfindung und Schilderung scherz¬ hafter Situationen als vielmehr durch die ziemlich wohlfeile Einführung lächer¬ licher Personen zu erreichen. Eine der Prvsaerzählungen ,,'N Ward sei Sänger¬ ras' nach Hamborg" (des Wirtes Sängerreise nach Hamburg) füllt nicht we¬ niger als zwei ganze Hefte aus. Ein schlichter Erzgebirger, der in seinem Leben nichts weiter kennen gelernt hat als seinen Heimatsort, in demselben aber bis zum Gelneindevorstandsbeisitzer befördert worden ist, entschließt sich, ein Sänger- frst in Hamburg zu besuchen, und seine Unkenntnis und Unbeholfenheit läßt ihn dabei, namentlich auf der Eisenbahn, die er bisher nur vom Hörensagen kannte, allerlei ergötzliche Nbenicner erleben. Als Probe der Gedichte in erz- gebirgischer Mundart möge ein ans älterer Zeit stammendes Wiegenliedchen hier seinen Platz finden: Pviheia! Mei Madele, schlof halt el'! sist ruff leed geleich na Hous Rupprich rei': Dar fackelt sei nel, dar nimmt biens miet, Rvoch werscht de biens wunnern, wie der'sah nicht, Pviheia! Mei Madele, schlof gu el'! Do ruff leed morng ah's Bvrukuuil") rei'; Dos brengt dir Rnsining un Eppeln im Riß, Do werscht de 'mol schmutzn, die schmeckn sifi, Poiheia! Mei Madele. schlof sei el'! Jens ruff ah's Hnhnl um 'S Hihul rei'; Mei Hihul lead Gackele, iveiß um fehle, Mei Hahnl thut krehe: Kitrekih! Christkindchen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/618>, abgerufen am 23.07.2024.