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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Jur Arboiterwohnungsfrage.

foudre nach einem Gesetze aus dem Jahre 1875 soll keine Genehmigung zu einem
Baupläne erteilt werden, wenn nicht gleichzeitig für das Unterkommen der ob¬
dachlos gewordenen Arbeiterbevölkerung gesorgt wird. Wenn überhaupt die
Mietssteuer beibehalten wird, so sollten gewisse kleinere Mietsbeträge freigelassen
und die höhern dazu verwendet werden, um billige Arbeiterwohnungen herzu¬
stellen, die gleichzeitig den Anforderungen der Gesundheit und der Sitte ent¬
sprechen. Es wäre gewiß auch besser, wenn weniger asphaltirt und die städtischen
Schulgebäude auf einen bescheidneren Fuß gestellt und dafür billige Arbeiter¬
wohnungen geschaffen würden. Jetzt aber wird geradezu Neid und Sozialde-
mokratie großgezogen, wenn das Kind in den Vormittagsstunden in den Schul¬
palästen zubringt und den übrigen Teil des Tages in ungesunden Wohnungen,
eingepfercht in engen Räumen, wo die verschiednen Geschlechter vermischt jede
Scham verlieren, lebt und sich des Gegensatzes zwischen dem, was es hat, und
dem, was es haben kann, erst recht bewußt wird.

Daneben bleibt dann der Werkthätigkeit der Einzelnen ein weites Feld.
Was ein solcher hier vermag, beweist Miß Octavia Hill in London, die eine
arme Lehrerin ist und im Jahre 1864 mit dem Bau einiger kleinen Arbeiter¬
häuser begonnen hat. Heute steht ihr ein Kapital von 1200 000 Mark zur
Verfügung und eine Schnur von Helferinnen, welche, von ihrem Geiste beseelt,
ihr opferfreudig in ihrem schweren Werke Beistand leisten. In unsern wohl¬
habenden Familien wissen die Mütter oft nicht, wie sie ihre herangewachsenen
Töchter beschäftigen sollen. Daher grassirt die Klavierwut, die Singetollheit,
das Bekleksen von Leinewand mit Farben, die Kochschulcn und ähnliche Beschäf¬
tigungen, dem lieben Herrgott zum Raub der Zeit, den Mitmenschen zur Qual
und dem weiblichen Herzen zur Eitelkeit ohne Befriedigung des Gemütes.
Wenn hier eine Organisation eintreten wollte, dann wären noch herrliche Er¬
gebnisse zu erzielen, ohne daß es nötig wäre, den Arbeiter durch ein Geschenk
zu demütigen.

Das sind mit wenigen Worten die Grenzen, die ein Verein zur Herstellung
von Arbeiterwohnungen zu beobachten hätte, und innerhalb deren er die segens-
reichste Ernte halten könnte.

Nicht diejenige Stadt ist schön, in der sich die meisten Paläste und monu¬
mentalen Bauwerke befinden, sondern diejenige, wo auch der Ärmste eine Heim¬
stätte hat, die er nach gethaner Arbeit mit Freuden aufsucht, wo ein Familien¬
leben noch möglich ist, der Körper gesund bleibt und die Seele nicht Gefahr
läuft, in Trunk und Völlerei zu gründe zu gehen.




Jur Arboiterwohnungsfrage.

foudre nach einem Gesetze aus dem Jahre 1875 soll keine Genehmigung zu einem
Baupläne erteilt werden, wenn nicht gleichzeitig für das Unterkommen der ob¬
dachlos gewordenen Arbeiterbevölkerung gesorgt wird. Wenn überhaupt die
Mietssteuer beibehalten wird, so sollten gewisse kleinere Mietsbeträge freigelassen
und die höhern dazu verwendet werden, um billige Arbeiterwohnungen herzu¬
stellen, die gleichzeitig den Anforderungen der Gesundheit und der Sitte ent¬
sprechen. Es wäre gewiß auch besser, wenn weniger asphaltirt und die städtischen
Schulgebäude auf einen bescheidneren Fuß gestellt und dafür billige Arbeiter¬
wohnungen geschaffen würden. Jetzt aber wird geradezu Neid und Sozialde-
mokratie großgezogen, wenn das Kind in den Vormittagsstunden in den Schul¬
palästen zubringt und den übrigen Teil des Tages in ungesunden Wohnungen,
eingepfercht in engen Räumen, wo die verschiednen Geschlechter vermischt jede
Scham verlieren, lebt und sich des Gegensatzes zwischen dem, was es hat, und
dem, was es haben kann, erst recht bewußt wird.

Daneben bleibt dann der Werkthätigkeit der Einzelnen ein weites Feld.
Was ein solcher hier vermag, beweist Miß Octavia Hill in London, die eine
arme Lehrerin ist und im Jahre 1864 mit dem Bau einiger kleinen Arbeiter¬
häuser begonnen hat. Heute steht ihr ein Kapital von 1200 000 Mark zur
Verfügung und eine Schnur von Helferinnen, welche, von ihrem Geiste beseelt,
ihr opferfreudig in ihrem schweren Werke Beistand leisten. In unsern wohl¬
habenden Familien wissen die Mütter oft nicht, wie sie ihre herangewachsenen
Töchter beschäftigen sollen. Daher grassirt die Klavierwut, die Singetollheit,
das Bekleksen von Leinewand mit Farben, die Kochschulcn und ähnliche Beschäf¬
tigungen, dem lieben Herrgott zum Raub der Zeit, den Mitmenschen zur Qual
und dem weiblichen Herzen zur Eitelkeit ohne Befriedigung des Gemütes.
Wenn hier eine Organisation eintreten wollte, dann wären noch herrliche Er¬
gebnisse zu erzielen, ohne daß es nötig wäre, den Arbeiter durch ein Geschenk
zu demütigen.

Das sind mit wenigen Worten die Grenzen, die ein Verein zur Herstellung
von Arbeiterwohnungen zu beobachten hätte, und innerhalb deren er die segens-
reichste Ernte halten könnte.

Nicht diejenige Stadt ist schön, in der sich die meisten Paläste und monu¬
mentalen Bauwerke befinden, sondern diejenige, wo auch der Ärmste eine Heim¬
stätte hat, die er nach gethaner Arbeit mit Freuden aufsucht, wo ein Familien¬
leben noch möglich ist, der Körper gesund bleibt und die Seele nicht Gefahr
läuft, in Trunk und Völlerei zu gründe zu gehen.




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[0611] Jur Arboiterwohnungsfrage. foudre nach einem Gesetze aus dem Jahre 1875 soll keine Genehmigung zu einem Baupläne erteilt werden, wenn nicht gleichzeitig für das Unterkommen der ob¬ dachlos gewordenen Arbeiterbevölkerung gesorgt wird. Wenn überhaupt die Mietssteuer beibehalten wird, so sollten gewisse kleinere Mietsbeträge freigelassen und die höhern dazu verwendet werden, um billige Arbeiterwohnungen herzu¬ stellen, die gleichzeitig den Anforderungen der Gesundheit und der Sitte ent¬ sprechen. Es wäre gewiß auch besser, wenn weniger asphaltirt und die städtischen Schulgebäude auf einen bescheidneren Fuß gestellt und dafür billige Arbeiter¬ wohnungen geschaffen würden. Jetzt aber wird geradezu Neid und Sozialde- mokratie großgezogen, wenn das Kind in den Vormittagsstunden in den Schul¬ palästen zubringt und den übrigen Teil des Tages in ungesunden Wohnungen, eingepfercht in engen Räumen, wo die verschiednen Geschlechter vermischt jede Scham verlieren, lebt und sich des Gegensatzes zwischen dem, was es hat, und dem, was es haben kann, erst recht bewußt wird. Daneben bleibt dann der Werkthätigkeit der Einzelnen ein weites Feld. Was ein solcher hier vermag, beweist Miß Octavia Hill in London, die eine arme Lehrerin ist und im Jahre 1864 mit dem Bau einiger kleinen Arbeiter¬ häuser begonnen hat. Heute steht ihr ein Kapital von 1200 000 Mark zur Verfügung und eine Schnur von Helferinnen, welche, von ihrem Geiste beseelt, ihr opferfreudig in ihrem schweren Werke Beistand leisten. In unsern wohl¬ habenden Familien wissen die Mütter oft nicht, wie sie ihre herangewachsenen Töchter beschäftigen sollen. Daher grassirt die Klavierwut, die Singetollheit, das Bekleksen von Leinewand mit Farben, die Kochschulcn und ähnliche Beschäf¬ tigungen, dem lieben Herrgott zum Raub der Zeit, den Mitmenschen zur Qual und dem weiblichen Herzen zur Eitelkeit ohne Befriedigung des Gemütes. Wenn hier eine Organisation eintreten wollte, dann wären noch herrliche Er¬ gebnisse zu erzielen, ohne daß es nötig wäre, den Arbeiter durch ein Geschenk zu demütigen. Das sind mit wenigen Worten die Grenzen, die ein Verein zur Herstellung von Arbeiterwohnungen zu beobachten hätte, und innerhalb deren er die segens- reichste Ernte halten könnte. Nicht diejenige Stadt ist schön, in der sich die meisten Paläste und monu¬ mentalen Bauwerke befinden, sondern diejenige, wo auch der Ärmste eine Heim¬ stätte hat, die er nach gethaner Arbeit mit Freuden aufsucht, wo ein Familien¬ leben noch möglich ist, der Körper gesund bleibt und die Seele nicht Gefahr läuft, in Trunk und Völlerei zu gründe zu gehen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/611>, abgerufen am 22.07.2024.