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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Jur Arbeiterwohnungsfrage.

Die Lösung der Frage muß unsers Erachtens mehr in der Quantität als
in der Qualität gesucht werden. Das Cottagesystem wird nur in einzelnen
kleinern Orten, bei einzelnen Fabrikanten Anwendung finden können. Hier sind
es diese selbst, in deren Interesse es liegt, sich eine seßhafte und zufriedne Ar-
beiterbevölkerung zu verschaffen. Im übrigen muß gegen das Massenelend ein¬
geschritten werden, wie es namentlich in den großen Städten überhaupt oder in
den Zentren der Industrie vorhanden ist.

Vom Staate kann man zunächst nicht erwarten, daß er Arbeiter¬
wohnungen herstelle. Wir sind zwar nicht der Meinung, daß dies der Auf¬
gabe des Staates fernliege. Aber zur Zeit sind seine Ziele und die mit ihnen
in Verbindung stehenden Aufgaben nach andrer Richtung gewendet. Die Sicher¬
heit nach außen, die Stärkung der Industrie, um den Arbeitern anch Arbeit zu
verschaffen, die Versicherung gegen Unfälle und Invalidität sind in erster Linie
zu verwirklichen. Der Staat kann nur durch seine Gesetzgebung eingreifen;
er kann nicht die Fabrikanten nötigen, für die Wohnung ihrer Arbeiter
Sorge zu tragen. Denn je größer die Leistungen sind, welche der Staat hier
auferlegen würde, desto weniger leicht würde die einheimische Industrie die Kon¬
kurrenz auf dem Weltmarkte bestehen können, und jede Schädigung mindert die
Gelegenheit zur Arbeit. Zwar glaubt man diesem Einwand dadurch begegnen
zu können, daß man eine internationale Regelung der Arbeiterfrage ins Auge
faßt. Allein abgesehen von der Schwierigkeit, die verschiednen Interessen der
Staaten hier in Einklang zu bringen, würde Deutschland immer ein schlechtes
Geschäft machen. Die deutsche Negierung und das deutsche Beamteutum
fassen ihre Verpflichtungen stets sehr ernst auf; mit der größten Gewissen¬
haftigkeit führen sie die übernommenen Verpflichtungen aus, und dasselbe
Gesetz erhält ein ganz andres Aussehen, je nachdem dessen Ausführung in
deutsche oder französische, englische u. s. w. Hände gelegt wird. Wir haben
in dieser Beziehung im Elsaß ganz besondre Erfahrungen gemacht, was es
heißt, ob ein Gesetz unparteiisch oder nach Gunst und Laune der jeweiligen
Machthaber geübt wird.

Der Staat kann nur Vorschriften treffen, welche Erfordernisse an die
normale Beschaffenheit einer Wohnung zu stellen sind, wieviel Räume einer
Familie zur Verfügung stehen müssen, in welcher Weise ein Zwang gegen pflicht¬
vergessene Eigentümer geübt werden muß. Soweit hier die einzelnen Bau¬
ordnungen noch Lücken ausweisen, wird es Sache des Reiches und der Einzel-
stacitcn sein, dieselben in entsprechender Weise auszufüllen. Die englische Gesetz¬
gebung, wie sie das Ruprechtsche Buch darstellt, giebt hierfür ein gutes Vorbild.
Zwar hat sie, wie derselbe Schriftsteller nachweist, noch nicht sonderliche Früchte
getragen, allein der Grund dieses Mangels liegt in den ausführenden Behörden.
Es sind dies die Stadtbehörden lok8tri68), welche einerseits selbst aus Eigen¬
tümern bestehen und keine Lust bezeugen, sich selbst zu belasten, und andrerseits


Jur Arbeiterwohnungsfrage.

Die Lösung der Frage muß unsers Erachtens mehr in der Quantität als
in der Qualität gesucht werden. Das Cottagesystem wird nur in einzelnen
kleinern Orten, bei einzelnen Fabrikanten Anwendung finden können. Hier sind
es diese selbst, in deren Interesse es liegt, sich eine seßhafte und zufriedne Ar-
beiterbevölkerung zu verschaffen. Im übrigen muß gegen das Massenelend ein¬
geschritten werden, wie es namentlich in den großen Städten überhaupt oder in
den Zentren der Industrie vorhanden ist.

Vom Staate kann man zunächst nicht erwarten, daß er Arbeiter¬
wohnungen herstelle. Wir sind zwar nicht der Meinung, daß dies der Auf¬
gabe des Staates fernliege. Aber zur Zeit sind seine Ziele und die mit ihnen
in Verbindung stehenden Aufgaben nach andrer Richtung gewendet. Die Sicher¬
heit nach außen, die Stärkung der Industrie, um den Arbeitern anch Arbeit zu
verschaffen, die Versicherung gegen Unfälle und Invalidität sind in erster Linie
zu verwirklichen. Der Staat kann nur durch seine Gesetzgebung eingreifen;
er kann nicht die Fabrikanten nötigen, für die Wohnung ihrer Arbeiter
Sorge zu tragen. Denn je größer die Leistungen sind, welche der Staat hier
auferlegen würde, desto weniger leicht würde die einheimische Industrie die Kon¬
kurrenz auf dem Weltmarkte bestehen können, und jede Schädigung mindert die
Gelegenheit zur Arbeit. Zwar glaubt man diesem Einwand dadurch begegnen
zu können, daß man eine internationale Regelung der Arbeiterfrage ins Auge
faßt. Allein abgesehen von der Schwierigkeit, die verschiednen Interessen der
Staaten hier in Einklang zu bringen, würde Deutschland immer ein schlechtes
Geschäft machen. Die deutsche Negierung und das deutsche Beamteutum
fassen ihre Verpflichtungen stets sehr ernst auf; mit der größten Gewissen¬
haftigkeit führen sie die übernommenen Verpflichtungen aus, und dasselbe
Gesetz erhält ein ganz andres Aussehen, je nachdem dessen Ausführung in
deutsche oder französische, englische u. s. w. Hände gelegt wird. Wir haben
in dieser Beziehung im Elsaß ganz besondre Erfahrungen gemacht, was es
heißt, ob ein Gesetz unparteiisch oder nach Gunst und Laune der jeweiligen
Machthaber geübt wird.

Der Staat kann nur Vorschriften treffen, welche Erfordernisse an die
normale Beschaffenheit einer Wohnung zu stellen sind, wieviel Räume einer
Familie zur Verfügung stehen müssen, in welcher Weise ein Zwang gegen pflicht¬
vergessene Eigentümer geübt werden muß. Soweit hier die einzelnen Bau¬
ordnungen noch Lücken ausweisen, wird es Sache des Reiches und der Einzel-
stacitcn sein, dieselben in entsprechender Weise auszufüllen. Die englische Gesetz¬
gebung, wie sie das Ruprechtsche Buch darstellt, giebt hierfür ein gutes Vorbild.
Zwar hat sie, wie derselbe Schriftsteller nachweist, noch nicht sonderliche Früchte
getragen, allein der Grund dieses Mangels liegt in den ausführenden Behörden.
Es sind dies die Stadtbehörden lok8tri68), welche einerseits selbst aus Eigen¬
tümern bestehen und keine Lust bezeugen, sich selbst zu belasten, und andrerseits


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[0609] Jur Arbeiterwohnungsfrage. Die Lösung der Frage muß unsers Erachtens mehr in der Quantität als in der Qualität gesucht werden. Das Cottagesystem wird nur in einzelnen kleinern Orten, bei einzelnen Fabrikanten Anwendung finden können. Hier sind es diese selbst, in deren Interesse es liegt, sich eine seßhafte und zufriedne Ar- beiterbevölkerung zu verschaffen. Im übrigen muß gegen das Massenelend ein¬ geschritten werden, wie es namentlich in den großen Städten überhaupt oder in den Zentren der Industrie vorhanden ist. Vom Staate kann man zunächst nicht erwarten, daß er Arbeiter¬ wohnungen herstelle. Wir sind zwar nicht der Meinung, daß dies der Auf¬ gabe des Staates fernliege. Aber zur Zeit sind seine Ziele und die mit ihnen in Verbindung stehenden Aufgaben nach andrer Richtung gewendet. Die Sicher¬ heit nach außen, die Stärkung der Industrie, um den Arbeitern anch Arbeit zu verschaffen, die Versicherung gegen Unfälle und Invalidität sind in erster Linie zu verwirklichen. Der Staat kann nur durch seine Gesetzgebung eingreifen; er kann nicht die Fabrikanten nötigen, für die Wohnung ihrer Arbeiter Sorge zu tragen. Denn je größer die Leistungen sind, welche der Staat hier auferlegen würde, desto weniger leicht würde die einheimische Industrie die Kon¬ kurrenz auf dem Weltmarkte bestehen können, und jede Schädigung mindert die Gelegenheit zur Arbeit. Zwar glaubt man diesem Einwand dadurch begegnen zu können, daß man eine internationale Regelung der Arbeiterfrage ins Auge faßt. Allein abgesehen von der Schwierigkeit, die verschiednen Interessen der Staaten hier in Einklang zu bringen, würde Deutschland immer ein schlechtes Geschäft machen. Die deutsche Negierung und das deutsche Beamteutum fassen ihre Verpflichtungen stets sehr ernst auf; mit der größten Gewissen¬ haftigkeit führen sie die übernommenen Verpflichtungen aus, und dasselbe Gesetz erhält ein ganz andres Aussehen, je nachdem dessen Ausführung in deutsche oder französische, englische u. s. w. Hände gelegt wird. Wir haben in dieser Beziehung im Elsaß ganz besondre Erfahrungen gemacht, was es heißt, ob ein Gesetz unparteiisch oder nach Gunst und Laune der jeweiligen Machthaber geübt wird. Der Staat kann nur Vorschriften treffen, welche Erfordernisse an die normale Beschaffenheit einer Wohnung zu stellen sind, wieviel Räume einer Familie zur Verfügung stehen müssen, in welcher Weise ein Zwang gegen pflicht¬ vergessene Eigentümer geübt werden muß. Soweit hier die einzelnen Bau¬ ordnungen noch Lücken ausweisen, wird es Sache des Reiches und der Einzel- stacitcn sein, dieselben in entsprechender Weise auszufüllen. Die englische Gesetz¬ gebung, wie sie das Ruprechtsche Buch darstellt, giebt hierfür ein gutes Vorbild. Zwar hat sie, wie derselbe Schriftsteller nachweist, noch nicht sonderliche Früchte getragen, allein der Grund dieses Mangels liegt in den ausführenden Behörden. Es sind dies die Stadtbehörden lok8tri68), welche einerseits selbst aus Eigen¬ tümern bestehen und keine Lust bezeugen, sich selbst zu belasten, und andrerseits

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/609>, abgerufen am 22.07.2024.