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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Zur Arboitenvvhnungsfrage.

Von den beiden Büchern ist das ungleich bedeutendere dus von Ruprecht,
welches sich auf eigne in London gemachte Beobachtungen gründet und
durch ein genaues Eingehen auf die englische Gesetzgebung dem deutschen
Ökonomen ein reiches und wertvolles Material bietet. Die Abhandlung
von Reichardt belehrt uns vorzüglich über die verschiednen Systeme, nach
welchen die Möglichkeit gewährt wird, die Arbeiter zu Hauseigentümern zu
machen.

Obgleich in dieser Beziehung schon zahlreiche und glänzende Versuche
gemacht sind -- wir erinnern nur nu die große Peabvdystiftnng in London,
an die Arbeiterstadt in Mülhausen (Elsaß) und an eine Reihe gemeinnütziger
Ballgesellschaften in Altdeutschland --, so ist doch das Ergebnis im Verhältnis
zu der aus Millionen bestehenden Arbeitevbevölkerung ein sehr geringes. Es
ist gewiß eine herrliche Sache um ein eignes Heim, welches dem Arbeiter nach
vollbrachter Tagesarbeit so traulich winkt, mit dem Gärtchen, das ihm sein
Gemüse liefert, ein Heim, das ihn ebensowohl von dem Wirtshause wie von
den wüsten, ihn um sein irdisches und geistiges Wohl betrügenden Agitationen
fernhält. Aber wir fragen uns, ob hier nicht zuviel angestrebt wird. Wie¬
viel Leute giebt es, die ein solches Heim ihr eigen nennen können, wieviel
Künstler, Gelehrte, Beamte, wieviel, die sich vou dem Fabrikarbeiter mir durch
die Bluse unterscheiden, an deren Stelle sie den Frack oder Rock tragen, er¬
langen ein solches Idyll? Und was kann es helfen, wenn gegenüber den fünf-
oder zehntausend Arbeitern, welchen mit sehr schwerem Geldaufwand ein solches
Haus geschaffen wird, Hunderttausende in Spelunken, in dumpfen und unge¬
sunden Wohnungen verkommen?

Wir wollen gewiß nicht abschrecken, wenn an geeigneten Stellen die Fabri¬
kanten für ihre Arbeiter das leisten, was die Mülhauser gethan haben. Das
wird ihnen den Nutzen einer stehenden, gesitteten Arbeiterbevölkerung gewähren,
und den letztem ist gewiß der Genuß eines häuslichen Lebens zu gönnen.
Freilich ist auch hier uicht alles Gold, was glänzt; die Arbeiter können leicht
in eine gewisse Lvhnabhängigkeit dadurch geraten, die Freizügigkeit wird für sie
illusorisch, und ob das Verhältnis zu ihrem Arbeitgeber immer durch dieses
sogenannte Cvttagesystem gebessert wird, ist noch eine Frage. In Mülhausen
ist die Zahl der sozialdemokratischen Stimmen gewachsen; die Arbeiter fühlen
vielleicht, daß, wo Cottages vorhanden sind, die Arbeitgeber auch für ihre Unter¬
bringung bemüht sein müssen. Letztere beziehen ja auch eine Verzinsung von
dem Kapital, das zur Erbauung hineingesteckt wird, und so betrachtet am Ende der
Arbeiter die ganze Angelegenheit als ein geschäftliches System, bei dem Leistung
und Gegenleistung abgewogen sind. Nur freiwillig gewährte Gaben erzeugen
Dankbarkeit in dem Herzen des Empfängers; sind diese Gaben, sei es dnrch
Gesetz, Statut oder Umstände erzwungen, so werden sie nicht bloß unterschätzt,
sondern häusig auch mißachtet,


Zur Arboitenvvhnungsfrage.

Von den beiden Büchern ist das ungleich bedeutendere dus von Ruprecht,
welches sich auf eigne in London gemachte Beobachtungen gründet und
durch ein genaues Eingehen auf die englische Gesetzgebung dem deutschen
Ökonomen ein reiches und wertvolles Material bietet. Die Abhandlung
von Reichardt belehrt uns vorzüglich über die verschiednen Systeme, nach
welchen die Möglichkeit gewährt wird, die Arbeiter zu Hauseigentümern zu
machen.

Obgleich in dieser Beziehung schon zahlreiche und glänzende Versuche
gemacht sind — wir erinnern nur nu die große Peabvdystiftnng in London,
an die Arbeiterstadt in Mülhausen (Elsaß) und an eine Reihe gemeinnütziger
Ballgesellschaften in Altdeutschland —, so ist doch das Ergebnis im Verhältnis
zu der aus Millionen bestehenden Arbeitevbevölkerung ein sehr geringes. Es
ist gewiß eine herrliche Sache um ein eignes Heim, welches dem Arbeiter nach
vollbrachter Tagesarbeit so traulich winkt, mit dem Gärtchen, das ihm sein
Gemüse liefert, ein Heim, das ihn ebensowohl von dem Wirtshause wie von
den wüsten, ihn um sein irdisches und geistiges Wohl betrügenden Agitationen
fernhält. Aber wir fragen uns, ob hier nicht zuviel angestrebt wird. Wie¬
viel Leute giebt es, die ein solches Heim ihr eigen nennen können, wieviel
Künstler, Gelehrte, Beamte, wieviel, die sich vou dem Fabrikarbeiter mir durch
die Bluse unterscheiden, an deren Stelle sie den Frack oder Rock tragen, er¬
langen ein solches Idyll? Und was kann es helfen, wenn gegenüber den fünf-
oder zehntausend Arbeitern, welchen mit sehr schwerem Geldaufwand ein solches
Haus geschaffen wird, Hunderttausende in Spelunken, in dumpfen und unge¬
sunden Wohnungen verkommen?

Wir wollen gewiß nicht abschrecken, wenn an geeigneten Stellen die Fabri¬
kanten für ihre Arbeiter das leisten, was die Mülhauser gethan haben. Das
wird ihnen den Nutzen einer stehenden, gesitteten Arbeiterbevölkerung gewähren,
und den letztem ist gewiß der Genuß eines häuslichen Lebens zu gönnen.
Freilich ist auch hier uicht alles Gold, was glänzt; die Arbeiter können leicht
in eine gewisse Lvhnabhängigkeit dadurch geraten, die Freizügigkeit wird für sie
illusorisch, und ob das Verhältnis zu ihrem Arbeitgeber immer durch dieses
sogenannte Cvttagesystem gebessert wird, ist noch eine Frage. In Mülhausen
ist die Zahl der sozialdemokratischen Stimmen gewachsen; die Arbeiter fühlen
vielleicht, daß, wo Cottages vorhanden sind, die Arbeitgeber auch für ihre Unter¬
bringung bemüht sein müssen. Letztere beziehen ja auch eine Verzinsung von
dem Kapital, das zur Erbauung hineingesteckt wird, und so betrachtet am Ende der
Arbeiter die ganze Angelegenheit als ein geschäftliches System, bei dem Leistung
und Gegenleistung abgewogen sind. Nur freiwillig gewährte Gaben erzeugen
Dankbarkeit in dem Herzen des Empfängers; sind diese Gaben, sei es dnrch
Gesetz, Statut oder Umstände erzwungen, so werden sie nicht bloß unterschätzt,
sondern häusig auch mißachtet,


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[0608] Zur Arboitenvvhnungsfrage. Von den beiden Büchern ist das ungleich bedeutendere dus von Ruprecht, welches sich auf eigne in London gemachte Beobachtungen gründet und durch ein genaues Eingehen auf die englische Gesetzgebung dem deutschen Ökonomen ein reiches und wertvolles Material bietet. Die Abhandlung von Reichardt belehrt uns vorzüglich über die verschiednen Systeme, nach welchen die Möglichkeit gewährt wird, die Arbeiter zu Hauseigentümern zu machen. Obgleich in dieser Beziehung schon zahlreiche und glänzende Versuche gemacht sind — wir erinnern nur nu die große Peabvdystiftnng in London, an die Arbeiterstadt in Mülhausen (Elsaß) und an eine Reihe gemeinnütziger Ballgesellschaften in Altdeutschland —, so ist doch das Ergebnis im Verhältnis zu der aus Millionen bestehenden Arbeitevbevölkerung ein sehr geringes. Es ist gewiß eine herrliche Sache um ein eignes Heim, welches dem Arbeiter nach vollbrachter Tagesarbeit so traulich winkt, mit dem Gärtchen, das ihm sein Gemüse liefert, ein Heim, das ihn ebensowohl von dem Wirtshause wie von den wüsten, ihn um sein irdisches und geistiges Wohl betrügenden Agitationen fernhält. Aber wir fragen uns, ob hier nicht zuviel angestrebt wird. Wie¬ viel Leute giebt es, die ein solches Heim ihr eigen nennen können, wieviel Künstler, Gelehrte, Beamte, wieviel, die sich vou dem Fabrikarbeiter mir durch die Bluse unterscheiden, an deren Stelle sie den Frack oder Rock tragen, er¬ langen ein solches Idyll? Und was kann es helfen, wenn gegenüber den fünf- oder zehntausend Arbeitern, welchen mit sehr schwerem Geldaufwand ein solches Haus geschaffen wird, Hunderttausende in Spelunken, in dumpfen und unge¬ sunden Wohnungen verkommen? Wir wollen gewiß nicht abschrecken, wenn an geeigneten Stellen die Fabri¬ kanten für ihre Arbeiter das leisten, was die Mülhauser gethan haben. Das wird ihnen den Nutzen einer stehenden, gesitteten Arbeiterbevölkerung gewähren, und den letztem ist gewiß der Genuß eines häuslichen Lebens zu gönnen. Freilich ist auch hier uicht alles Gold, was glänzt; die Arbeiter können leicht in eine gewisse Lvhnabhängigkeit dadurch geraten, die Freizügigkeit wird für sie illusorisch, und ob das Verhältnis zu ihrem Arbeitgeber immer durch dieses sogenannte Cvttagesystem gebessert wird, ist noch eine Frage. In Mülhausen ist die Zahl der sozialdemokratischen Stimmen gewachsen; die Arbeiter fühlen vielleicht, daß, wo Cottages vorhanden sind, die Arbeitgeber auch für ihre Unter¬ bringung bemüht sein müssen. Letztere beziehen ja auch eine Verzinsung von dem Kapital, das zur Erbauung hineingesteckt wird, und so betrachtet am Ende der Arbeiter die ganze Angelegenheit als ein geschäftliches System, bei dem Leistung und Gegenleistung abgewogen sind. Nur freiwillig gewährte Gaben erzeugen Dankbarkeit in dem Herzen des Empfängers; sind diese Gaben, sei es dnrch Gesetz, Statut oder Umstände erzwungen, so werden sie nicht bloß unterschätzt, sondern häusig auch mißachtet,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/608>, abgerufen am 22.07.2024.