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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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der kaiserlichen Botschaft und der Sozialpolitik des Reichskanzlers. Nicht bloß
weil sich das mobile Kapital der Gefahren bewußt wird, die ihm aus dem An¬
wachsen einer begehrlichen Masse entstehen, sondern weil das Gefühl angeregt
wird, daß es Pflicht sei, für unsre schwächern Brüder zu sorgen, beginnt man
allmählich auch in den der Bismarckschen Politik feindlichen Kreisen den Kern
derselben als einen berechtigten einzusehen, wenn auch nicht der Wählerschaft
gegenüber einzugestehen.

In der That ist es notwendig, daß nicht dem Reiche oder Staate alles
überlassen werde. Das mag vielleicht manchen nicht zielbewußter sozial-
demokratischen Köpfen vorschweben, aber der verständige Politiker und Bürger
muß sich sagen, daß der Staat doch nur die schwersten Übelstände beseitigen
und in vielen Fällen nur den Weg zeigen kann, der zum Heile der notleidenden
Bevölkerung betreten werden muß. Es bleiben daneben noch viele Teile übrig,
die nur durch das geschlossene Wirken der besitzenden Klassen bearbeitet werden
können.

Zu solchen Restgebieten, so genannt, nicht als ob alles andre bereits gethan
wäre, sondern weil sie neben allem andern gepflegt werden können, gehört auch
die Arbeiterwohnungsfrage.

Vor einigen Tagen erhielten wir von befreundeter Seite die Mitteilung,
daß der um das Wohl der ärmeren Klassen so hochverdiente Pastor von Bodel-
schwingh mit einigen Gesinnungsgenosse!: damit umgehe, die Arbeiterwohnungs¬
frage in die Hand zu nehmen und die ersten Schritte zur Gründung eines
solchen Vereins bereits gethan habe. Als diese Nachricht uns zukam, lagen
die jüngsten literarischen Bearbeitungen dieser Frage vor uns, ein Büchlein von
Reichardt") und eine größere Abhandlung von Ruprecht."*) Bei der Lektüre
derselben trat uns wieder lebendig ins Bewußtsein, wie schwierig das Unter¬
nehmen ist, welches Pastor von Bodelschwingh ins Werk setzen will. Die
rastlose und opfervolle Thätigkeit dieses Mannes giebt zwar die Gewähr, daß
das, was er thut, nicht vergeblich gethan sein wird. Aber es sind uns doch auch
die Grenzen klar geworden, die hier dem menschlichen Beginnen gesetzt sind. Um
dieser willen danken es uns vielleicht einige Leser, wenn wir sie mit wenigen
Worten über die Sache zu unterrichten suchen.

Über die Wichtigkeit der in Rede stehenden Frage sind alle Parteien einig;
sie betrifft neben dem Unterhalt das ganze Leben der ärmeren Bevölkerung.
Das Wort Dismelis, daß niemand zu gut wohnen könne, hat nirgends eine
solche Bedeutung als gegenüber von Leuten, deren Behausung Gesundheit und
Leben, Geist und Körper, Sitte und Ehre in gleicher Weise bedroht.




*) or. Erwin Reichardt, Die Grundzüge der Arbeiterwohnungsfrage.
Berlin, Puttkcmnncr und Mnhlbrecht, 188S,
^) Dr. Wilhelm Ruprecht, Die Wohnungen der arbeitenden Klassen in
London. Göttingen, Vcmdcnhoek und Ruprechts Verlag.

der kaiserlichen Botschaft und der Sozialpolitik des Reichskanzlers. Nicht bloß
weil sich das mobile Kapital der Gefahren bewußt wird, die ihm aus dem An¬
wachsen einer begehrlichen Masse entstehen, sondern weil das Gefühl angeregt
wird, daß es Pflicht sei, für unsre schwächern Brüder zu sorgen, beginnt man
allmählich auch in den der Bismarckschen Politik feindlichen Kreisen den Kern
derselben als einen berechtigten einzusehen, wenn auch nicht der Wählerschaft
gegenüber einzugestehen.

In der That ist es notwendig, daß nicht dem Reiche oder Staate alles
überlassen werde. Das mag vielleicht manchen nicht zielbewußter sozial-
demokratischen Köpfen vorschweben, aber der verständige Politiker und Bürger
muß sich sagen, daß der Staat doch nur die schwersten Übelstände beseitigen
und in vielen Fällen nur den Weg zeigen kann, der zum Heile der notleidenden
Bevölkerung betreten werden muß. Es bleiben daneben noch viele Teile übrig,
die nur durch das geschlossene Wirken der besitzenden Klassen bearbeitet werden
können.

Zu solchen Restgebieten, so genannt, nicht als ob alles andre bereits gethan
wäre, sondern weil sie neben allem andern gepflegt werden können, gehört auch
die Arbeiterwohnungsfrage.

Vor einigen Tagen erhielten wir von befreundeter Seite die Mitteilung,
daß der um das Wohl der ärmeren Klassen so hochverdiente Pastor von Bodel-
schwingh mit einigen Gesinnungsgenosse!: damit umgehe, die Arbeiterwohnungs¬
frage in die Hand zu nehmen und die ersten Schritte zur Gründung eines
solchen Vereins bereits gethan habe. Als diese Nachricht uns zukam, lagen
die jüngsten literarischen Bearbeitungen dieser Frage vor uns, ein Büchlein von
Reichardt") und eine größere Abhandlung von Ruprecht."*) Bei der Lektüre
derselben trat uns wieder lebendig ins Bewußtsein, wie schwierig das Unter¬
nehmen ist, welches Pastor von Bodelschwingh ins Werk setzen will. Die
rastlose und opfervolle Thätigkeit dieses Mannes giebt zwar die Gewähr, daß
das, was er thut, nicht vergeblich gethan sein wird. Aber es sind uns doch auch
die Grenzen klar geworden, die hier dem menschlichen Beginnen gesetzt sind. Um
dieser willen danken es uns vielleicht einige Leser, wenn wir sie mit wenigen
Worten über die Sache zu unterrichten suchen.

Über die Wichtigkeit der in Rede stehenden Frage sind alle Parteien einig;
sie betrifft neben dem Unterhalt das ganze Leben der ärmeren Bevölkerung.
Das Wort Dismelis, daß niemand zu gut wohnen könne, hat nirgends eine
solche Bedeutung als gegenüber von Leuten, deren Behausung Gesundheit und
Leben, Geist und Körper, Sitte und Ehre in gleicher Weise bedroht.




*) or. Erwin Reichardt, Die Grundzüge der Arbeiterwohnungsfrage.
Berlin, Puttkcmnncr und Mnhlbrecht, 188S,
^) Dr. Wilhelm Ruprecht, Die Wohnungen der arbeitenden Klassen in
London. Göttingen, Vcmdcnhoek und Ruprechts Verlag.
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[0607] der kaiserlichen Botschaft und der Sozialpolitik des Reichskanzlers. Nicht bloß weil sich das mobile Kapital der Gefahren bewußt wird, die ihm aus dem An¬ wachsen einer begehrlichen Masse entstehen, sondern weil das Gefühl angeregt wird, daß es Pflicht sei, für unsre schwächern Brüder zu sorgen, beginnt man allmählich auch in den der Bismarckschen Politik feindlichen Kreisen den Kern derselben als einen berechtigten einzusehen, wenn auch nicht der Wählerschaft gegenüber einzugestehen. In der That ist es notwendig, daß nicht dem Reiche oder Staate alles überlassen werde. Das mag vielleicht manchen nicht zielbewußter sozial- demokratischen Köpfen vorschweben, aber der verständige Politiker und Bürger muß sich sagen, daß der Staat doch nur die schwersten Übelstände beseitigen und in vielen Fällen nur den Weg zeigen kann, der zum Heile der notleidenden Bevölkerung betreten werden muß. Es bleiben daneben noch viele Teile übrig, die nur durch das geschlossene Wirken der besitzenden Klassen bearbeitet werden können. Zu solchen Restgebieten, so genannt, nicht als ob alles andre bereits gethan wäre, sondern weil sie neben allem andern gepflegt werden können, gehört auch die Arbeiterwohnungsfrage. Vor einigen Tagen erhielten wir von befreundeter Seite die Mitteilung, daß der um das Wohl der ärmeren Klassen so hochverdiente Pastor von Bodel- schwingh mit einigen Gesinnungsgenosse!: damit umgehe, die Arbeiterwohnungs¬ frage in die Hand zu nehmen und die ersten Schritte zur Gründung eines solchen Vereins bereits gethan habe. Als diese Nachricht uns zukam, lagen die jüngsten literarischen Bearbeitungen dieser Frage vor uns, ein Büchlein von Reichardt") und eine größere Abhandlung von Ruprecht."*) Bei der Lektüre derselben trat uns wieder lebendig ins Bewußtsein, wie schwierig das Unter¬ nehmen ist, welches Pastor von Bodelschwingh ins Werk setzen will. Die rastlose und opfervolle Thätigkeit dieses Mannes giebt zwar die Gewähr, daß das, was er thut, nicht vergeblich gethan sein wird. Aber es sind uns doch auch die Grenzen klar geworden, die hier dem menschlichen Beginnen gesetzt sind. Um dieser willen danken es uns vielleicht einige Leser, wenn wir sie mit wenigen Worten über die Sache zu unterrichten suchen. Über die Wichtigkeit der in Rede stehenden Frage sind alle Parteien einig; sie betrifft neben dem Unterhalt das ganze Leben der ärmeren Bevölkerung. Das Wort Dismelis, daß niemand zu gut wohnen könne, hat nirgends eine solche Bedeutung als gegenüber von Leuten, deren Behausung Gesundheit und Leben, Geist und Körper, Sitte und Ehre in gleicher Weise bedroht. *) or. Erwin Reichardt, Die Grundzüge der Arbeiterwohnungsfrage. Berlin, Puttkcmnncr und Mnhlbrecht, 188S, ^) Dr. Wilhelm Ruprecht, Die Wohnungen der arbeitenden Klassen in London. Göttingen, Vcmdcnhoek und Ruprechts Verlag.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/607>, abgerufen am 22.07.2024.