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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Afghanistan und die Afghanen.

ist. Ist ein Afghane beleidigt oder geschädigt worden, so treten die Verwandten,
die ältern Leute und die besonders angesehenen Mitglieder des Chans zusammen,
um die Sache auf friedlichem Wege zu schlichten. Gelingt dies nicht, so be¬
ginnt Fehde zwischen dem Verletzten, seiner Sippe und bisweilen der ganzen
Markgenossenschaft und andrerseits dem Missethäter, dessen Familie und dessen
Gauverband. Bevor Sühne erreicht ist, giebt es in solchen Fällen für den
Afghanen weder Unverletzbarkeit von Gesandte" noch Verbindlichkeit von Ver¬
trägen. Die Privatfehden dauern nicht selten Jahre lang fort und endigen nur
dann, wenn die eine Partei vollständig befriedigt oder gänzlich unterlegen ist.
Wird eine Volksversammlung zum Richten über eine Sache berufen, so spricht
der Chan oder sonst ein angesehener Mann des Chans, nachdem der Mullah
gebetet, in der Paschtnsprache: "Gott gehört die That, dem Menschen nnr der
Rat." Dann trügt der Kläger seine Beschwerde vor, und wenn der Beklagte
sich schuldig bekannt hat oder überführt worden ist, bestimmt man das Wehr¬
geld oder findet, daß diese oder jene Satzung ans den Fall anwendbar ist, lind
dann wird der Schuldige in die Hände des Klägers gegeben, damit er sich mit
ihm vertrage. Zur Sühne schwerer Vergehen wird häufig eine Anzahl von
jungen Mädchen ans der Verwandtschaft des Verbrechers mit Brüdern und
Vettern des Verletzten verheiratet, was, da die Afghanen in gewöhnlichen Fällen
sich ihre Frau kaufen, als Wchrgeld betrachtet wird. Unter den westlichen
Stämmen wird ein Mord mit einem der verletzten Sippe dargebrachten Ge¬
schenke von zwölf Mädchen gesühnt, von denen die Hülste eine Mitgift erhält;
ein Ohr, ein Auge, eine Nase, eine Hand gilt sechs, ein Zahn drei Jungfrauen.
Geringere Verletzungen werden mit Vieh gebüßt. Bei einigen Stämmen, wo
die Chane mehr Macht haben, erhebt man außer dem Wehrgcld noch besondre
Strafen. Widersetzt sich der Verurteilte dem Ausspruche der Dschirga, so über¬
läßt man ihn dem Kläger, der nun mit ihm nach dem Satze: "Auge um Auge,
Zahn um Zahn" verführt.

Vor einigen Jahrzehnten lebte noch die Mehrzahl der Afghanen als noma¬
dische Hirten, und noch jetzt findet man vorzüglich im Westen, in den Bergen
zwischen Herat und Dschehestcm, Klane der Durcmi, welche dieser Lebensweise
huldige". Ja der Stamm der Nassir, der 30000 Familien zählen soll, besitzt
uicht einmal bestimmte Weideplätze, sondern läßt seine Schafe abwechselnd bald
hier, bald dort im Gebiete andrer Stämme grasen. Im Frühjahr teilen sich
die Hirten in kleine Haufen, durchwandern das Land, schlagen ihre schwarzen
Zelte am Fuße eines Hügels, auf einer Fluszwiesc oder auf einer Alpeumatte
auf "ud kehren, wenn der Winter naht, in die Ebne zurück, wo sie kreisförmige
Lager um die Burg des Häuptlings bilden. Läßt ein Stamm sich irgendwo
bleibend nieder, um Feldbau zu betreiben, so wird der Grund und Boden an
die einzelnen Familien gleichmäßig verteilt, und damit die Gleichheit dauere,
erfolgt von Zeit zu Zeit eine neue Teilung; denn das betreffende Land gilt


Afghanistan und die Afghanen.

ist. Ist ein Afghane beleidigt oder geschädigt worden, so treten die Verwandten,
die ältern Leute und die besonders angesehenen Mitglieder des Chans zusammen,
um die Sache auf friedlichem Wege zu schlichten. Gelingt dies nicht, so be¬
ginnt Fehde zwischen dem Verletzten, seiner Sippe und bisweilen der ganzen
Markgenossenschaft und andrerseits dem Missethäter, dessen Familie und dessen
Gauverband. Bevor Sühne erreicht ist, giebt es in solchen Fällen für den
Afghanen weder Unverletzbarkeit von Gesandte» noch Verbindlichkeit von Ver¬
trägen. Die Privatfehden dauern nicht selten Jahre lang fort und endigen nur
dann, wenn die eine Partei vollständig befriedigt oder gänzlich unterlegen ist.
Wird eine Volksversammlung zum Richten über eine Sache berufen, so spricht
der Chan oder sonst ein angesehener Mann des Chans, nachdem der Mullah
gebetet, in der Paschtnsprache: „Gott gehört die That, dem Menschen nnr der
Rat." Dann trügt der Kläger seine Beschwerde vor, und wenn der Beklagte
sich schuldig bekannt hat oder überführt worden ist, bestimmt man das Wehr¬
geld oder findet, daß diese oder jene Satzung ans den Fall anwendbar ist, lind
dann wird der Schuldige in die Hände des Klägers gegeben, damit er sich mit
ihm vertrage. Zur Sühne schwerer Vergehen wird häufig eine Anzahl von
jungen Mädchen ans der Verwandtschaft des Verbrechers mit Brüdern und
Vettern des Verletzten verheiratet, was, da die Afghanen in gewöhnlichen Fällen
sich ihre Frau kaufen, als Wchrgeld betrachtet wird. Unter den westlichen
Stämmen wird ein Mord mit einem der verletzten Sippe dargebrachten Ge¬
schenke von zwölf Mädchen gesühnt, von denen die Hülste eine Mitgift erhält;
ein Ohr, ein Auge, eine Nase, eine Hand gilt sechs, ein Zahn drei Jungfrauen.
Geringere Verletzungen werden mit Vieh gebüßt. Bei einigen Stämmen, wo
die Chane mehr Macht haben, erhebt man außer dem Wehrgcld noch besondre
Strafen. Widersetzt sich der Verurteilte dem Ausspruche der Dschirga, so über¬
läßt man ihn dem Kläger, der nun mit ihm nach dem Satze: „Auge um Auge,
Zahn um Zahn" verführt.

Vor einigen Jahrzehnten lebte noch die Mehrzahl der Afghanen als noma¬
dische Hirten, und noch jetzt findet man vorzüglich im Westen, in den Bergen
zwischen Herat und Dschehestcm, Klane der Durcmi, welche dieser Lebensweise
huldige». Ja der Stamm der Nassir, der 30000 Familien zählen soll, besitzt
uicht einmal bestimmte Weideplätze, sondern läßt seine Schafe abwechselnd bald
hier, bald dort im Gebiete andrer Stämme grasen. Im Frühjahr teilen sich
die Hirten in kleine Haufen, durchwandern das Land, schlagen ihre schwarzen
Zelte am Fuße eines Hügels, auf einer Fluszwiesc oder auf einer Alpeumatte
auf »ud kehren, wenn der Winter naht, in die Ebne zurück, wo sie kreisförmige
Lager um die Burg des Häuptlings bilden. Läßt ein Stamm sich irgendwo
bleibend nieder, um Feldbau zu betreiben, so wird der Grund und Boden an
die einzelnen Familien gleichmäßig verteilt, und damit die Gleichheit dauere,
erfolgt von Zeit zu Zeit eine neue Teilung; denn das betreffende Land gilt


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[0604] Afghanistan und die Afghanen. ist. Ist ein Afghane beleidigt oder geschädigt worden, so treten die Verwandten, die ältern Leute und die besonders angesehenen Mitglieder des Chans zusammen, um die Sache auf friedlichem Wege zu schlichten. Gelingt dies nicht, so be¬ ginnt Fehde zwischen dem Verletzten, seiner Sippe und bisweilen der ganzen Markgenossenschaft und andrerseits dem Missethäter, dessen Familie und dessen Gauverband. Bevor Sühne erreicht ist, giebt es in solchen Fällen für den Afghanen weder Unverletzbarkeit von Gesandte» noch Verbindlichkeit von Ver¬ trägen. Die Privatfehden dauern nicht selten Jahre lang fort und endigen nur dann, wenn die eine Partei vollständig befriedigt oder gänzlich unterlegen ist. Wird eine Volksversammlung zum Richten über eine Sache berufen, so spricht der Chan oder sonst ein angesehener Mann des Chans, nachdem der Mullah gebetet, in der Paschtnsprache: „Gott gehört die That, dem Menschen nnr der Rat." Dann trügt der Kläger seine Beschwerde vor, und wenn der Beklagte sich schuldig bekannt hat oder überführt worden ist, bestimmt man das Wehr¬ geld oder findet, daß diese oder jene Satzung ans den Fall anwendbar ist, lind dann wird der Schuldige in die Hände des Klägers gegeben, damit er sich mit ihm vertrage. Zur Sühne schwerer Vergehen wird häufig eine Anzahl von jungen Mädchen ans der Verwandtschaft des Verbrechers mit Brüdern und Vettern des Verletzten verheiratet, was, da die Afghanen in gewöhnlichen Fällen sich ihre Frau kaufen, als Wchrgeld betrachtet wird. Unter den westlichen Stämmen wird ein Mord mit einem der verletzten Sippe dargebrachten Ge¬ schenke von zwölf Mädchen gesühnt, von denen die Hülste eine Mitgift erhält; ein Ohr, ein Auge, eine Nase, eine Hand gilt sechs, ein Zahn drei Jungfrauen. Geringere Verletzungen werden mit Vieh gebüßt. Bei einigen Stämmen, wo die Chane mehr Macht haben, erhebt man außer dem Wehrgcld noch besondre Strafen. Widersetzt sich der Verurteilte dem Ausspruche der Dschirga, so über¬ läßt man ihn dem Kläger, der nun mit ihm nach dem Satze: „Auge um Auge, Zahn um Zahn" verführt. Vor einigen Jahrzehnten lebte noch die Mehrzahl der Afghanen als noma¬ dische Hirten, und noch jetzt findet man vorzüglich im Westen, in den Bergen zwischen Herat und Dschehestcm, Klane der Durcmi, welche dieser Lebensweise huldige». Ja der Stamm der Nassir, der 30000 Familien zählen soll, besitzt uicht einmal bestimmte Weideplätze, sondern läßt seine Schafe abwechselnd bald hier, bald dort im Gebiete andrer Stämme grasen. Im Frühjahr teilen sich die Hirten in kleine Haufen, durchwandern das Land, schlagen ihre schwarzen Zelte am Fuße eines Hügels, auf einer Fluszwiesc oder auf einer Alpeumatte auf »ud kehren, wenn der Winter naht, in die Ebne zurück, wo sie kreisförmige Lager um die Burg des Häuptlings bilden. Läßt ein Stamm sich irgendwo bleibend nieder, um Feldbau zu betreiben, so wird der Grund und Boden an die einzelnen Familien gleichmäßig verteilt, und damit die Gleichheit dauere, erfolgt von Zeit zu Zeit eine neue Teilung; denn das betreffende Land gilt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/604>, abgerufen am 22.07.2024.