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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Afghanistan und die Afghanen.

Staunn fuhrt seinen Ursprung auf einen mythischen Helden als Ahnherrn zurück,
und jede Markgenossenschaft, die ihre Herkunft in direkter Linie von einem solchen
verehrten Urahn abzuleiten vermag, genießt innerhalb des Stammes besondre
Achtung, sodaß sie für heilig und unverletzlich gilt. Als eine solche adliche
Sippe standen früher die Hotvli bei den Gildschi, die Sudvsi bei den Durani
und die Bari bei den Jusvfsi da, und noch jetzt erfreuen sich jene Familien-
Verbände großen Ansehens und Einflusses. Aus ihrer Mitte werden die Stamm-
fürsten gewählt und im Kriege die Führer genommen. Viele Stamme aber
kennen weder ein erbliches noch ein zeitweiliges Oberhaupt, sondern regieren
sich, soweit nicht der Emir in Kabul sie seine Macht fühlen lassen kann, in
patriarchalisch-demokratischer Weise selbst. Über die allgemeinen Angelegenheiten
ivird auf Landtagen der Gangenossenschaft, des Klaus oder des Stammes be¬
raten und abgestimmt. Diese Versammlungen heißen iir der Paschtusprache
Dschirga. Die Dschirga der einzelnen Gemeine setzt sich aus deren freien
Gliedern, soweit sie Afghanen sind und ein gewisses Alter erreicht haben, zu¬
sammen. Tadschiks und andre Hintersassen, desgleichen Knechte haben hier keine
Stimme. Aus den Dschirgas der Gemeinden wählt man eine Anzahl von Ab¬
geordneten, die zusammen den Landtag des Klaus bilden, und aus diesen Ver¬
sammlungen gehen wiederum Vertreter des ganzen Stammes hervor, die dessen
Willen auf einem allgemeinen Landtage repräsentiren. Was hier beschlossen
wird, ist von Rechtswegen für alle Angehörigen des Ulus verbindlich. Die
Überwachung des Vollzugs der Beschlüsse wird einem dazu gewählten Ausschusse
oder auch einem einzelnen Mitgliede des Landtags übertragen, das durch Adel
oder Besitz hervorragt. Bisweilen ernennt man in unruhigen Zeiten auch einen
Dschehelmendschi, d. h- einen Diktator, der nach Beseitigung der Gefahr von
seiner unumschränkten Gewalt zurückzutreten hat. Die Jnsofsi haben die alte
demokratische Art, sich zu regieren, streng festgehalten. Die andern Stämme
zogen eine mehr aristokratische oder auch eine monarchische Einrichtung vor.
Sie gehorchen einem Häuptling aus bestimmter Familie. Den Marken, Gauen
und Dörfern stehen adliche Beamte vor, die als Mauls, Mnschirs oder Spin-
seras (Weißbärte) lebenslängliche Befugnis haben. Die Vorsteher der Chans
werden vom Volke mit Stimmenmehrheit gewählt und bedürfen keiner höhern
Bestätigung. Dagegen ivird der Chan eines jeden Ulus, wenn ein Emir in
Afghanistan vorhanden ist, von diesem eingesetzt.

Wie bei allen muhammedanischen Völkern, so gilt auch bei den Afghanen
der Koran mit seinen Kommentaren nicht bloß als religiöses, sondern auch als
bürgerliches Gesetzbuch. Daneben aber existirt eine Sammlung von Nechts-
gewohnheiten des Pathanvolkes, die Paschtcmi-Walli heißt und deren wesentlichste
Bestimmungen in Satzungen bestehen, welche sich auf das Wehrgeld beziehen.
Die Dschirga ist das öffentliche Schvppengericht, dessen Ausspruch, wenn es
bei Streitigkeiten von den Parteien angerufen wird, für entscheidend anzusehen


Afghanistan und die Afghanen.

Staunn fuhrt seinen Ursprung auf einen mythischen Helden als Ahnherrn zurück,
und jede Markgenossenschaft, die ihre Herkunft in direkter Linie von einem solchen
verehrten Urahn abzuleiten vermag, genießt innerhalb des Stammes besondre
Achtung, sodaß sie für heilig und unverletzlich gilt. Als eine solche adliche
Sippe standen früher die Hotvli bei den Gildschi, die Sudvsi bei den Durani
und die Bari bei den Jusvfsi da, und noch jetzt erfreuen sich jene Familien-
Verbände großen Ansehens und Einflusses. Aus ihrer Mitte werden die Stamm-
fürsten gewählt und im Kriege die Führer genommen. Viele Stamme aber
kennen weder ein erbliches noch ein zeitweiliges Oberhaupt, sondern regieren
sich, soweit nicht der Emir in Kabul sie seine Macht fühlen lassen kann, in
patriarchalisch-demokratischer Weise selbst. Über die allgemeinen Angelegenheiten
ivird auf Landtagen der Gangenossenschaft, des Klaus oder des Stammes be¬
raten und abgestimmt. Diese Versammlungen heißen iir der Paschtusprache
Dschirga. Die Dschirga der einzelnen Gemeine setzt sich aus deren freien
Gliedern, soweit sie Afghanen sind und ein gewisses Alter erreicht haben, zu¬
sammen. Tadschiks und andre Hintersassen, desgleichen Knechte haben hier keine
Stimme. Aus den Dschirgas der Gemeinden wählt man eine Anzahl von Ab¬
geordneten, die zusammen den Landtag des Klaus bilden, und aus diesen Ver¬
sammlungen gehen wiederum Vertreter des ganzen Stammes hervor, die dessen
Willen auf einem allgemeinen Landtage repräsentiren. Was hier beschlossen
wird, ist von Rechtswegen für alle Angehörigen des Ulus verbindlich. Die
Überwachung des Vollzugs der Beschlüsse wird einem dazu gewählten Ausschusse
oder auch einem einzelnen Mitgliede des Landtags übertragen, das durch Adel
oder Besitz hervorragt. Bisweilen ernennt man in unruhigen Zeiten auch einen
Dschehelmendschi, d. h- einen Diktator, der nach Beseitigung der Gefahr von
seiner unumschränkten Gewalt zurückzutreten hat. Die Jnsofsi haben die alte
demokratische Art, sich zu regieren, streng festgehalten. Die andern Stämme
zogen eine mehr aristokratische oder auch eine monarchische Einrichtung vor.
Sie gehorchen einem Häuptling aus bestimmter Familie. Den Marken, Gauen
und Dörfern stehen adliche Beamte vor, die als Mauls, Mnschirs oder Spin-
seras (Weißbärte) lebenslängliche Befugnis haben. Die Vorsteher der Chans
werden vom Volke mit Stimmenmehrheit gewählt und bedürfen keiner höhern
Bestätigung. Dagegen ivird der Chan eines jeden Ulus, wenn ein Emir in
Afghanistan vorhanden ist, von diesem eingesetzt.

Wie bei allen muhammedanischen Völkern, so gilt auch bei den Afghanen
der Koran mit seinen Kommentaren nicht bloß als religiöses, sondern auch als
bürgerliches Gesetzbuch. Daneben aber existirt eine Sammlung von Nechts-
gewohnheiten des Pathanvolkes, die Paschtcmi-Walli heißt und deren wesentlichste
Bestimmungen in Satzungen bestehen, welche sich auf das Wehrgeld beziehen.
Die Dschirga ist das öffentliche Schvppengericht, dessen Ausspruch, wenn es
bei Streitigkeiten von den Parteien angerufen wird, für entscheidend anzusehen


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[0603] Afghanistan und die Afghanen. Staunn fuhrt seinen Ursprung auf einen mythischen Helden als Ahnherrn zurück, und jede Markgenossenschaft, die ihre Herkunft in direkter Linie von einem solchen verehrten Urahn abzuleiten vermag, genießt innerhalb des Stammes besondre Achtung, sodaß sie für heilig und unverletzlich gilt. Als eine solche adliche Sippe standen früher die Hotvli bei den Gildschi, die Sudvsi bei den Durani und die Bari bei den Jusvfsi da, und noch jetzt erfreuen sich jene Familien- Verbände großen Ansehens und Einflusses. Aus ihrer Mitte werden die Stamm- fürsten gewählt und im Kriege die Führer genommen. Viele Stamme aber kennen weder ein erbliches noch ein zeitweiliges Oberhaupt, sondern regieren sich, soweit nicht der Emir in Kabul sie seine Macht fühlen lassen kann, in patriarchalisch-demokratischer Weise selbst. Über die allgemeinen Angelegenheiten ivird auf Landtagen der Gangenossenschaft, des Klaus oder des Stammes be¬ raten und abgestimmt. Diese Versammlungen heißen iir der Paschtusprache Dschirga. Die Dschirga der einzelnen Gemeine setzt sich aus deren freien Gliedern, soweit sie Afghanen sind und ein gewisses Alter erreicht haben, zu¬ sammen. Tadschiks und andre Hintersassen, desgleichen Knechte haben hier keine Stimme. Aus den Dschirgas der Gemeinden wählt man eine Anzahl von Ab¬ geordneten, die zusammen den Landtag des Klaus bilden, und aus diesen Ver¬ sammlungen gehen wiederum Vertreter des ganzen Stammes hervor, die dessen Willen auf einem allgemeinen Landtage repräsentiren. Was hier beschlossen wird, ist von Rechtswegen für alle Angehörigen des Ulus verbindlich. Die Überwachung des Vollzugs der Beschlüsse wird einem dazu gewählten Ausschusse oder auch einem einzelnen Mitgliede des Landtags übertragen, das durch Adel oder Besitz hervorragt. Bisweilen ernennt man in unruhigen Zeiten auch einen Dschehelmendschi, d. h- einen Diktator, der nach Beseitigung der Gefahr von seiner unumschränkten Gewalt zurückzutreten hat. Die Jnsofsi haben die alte demokratische Art, sich zu regieren, streng festgehalten. Die andern Stämme zogen eine mehr aristokratische oder auch eine monarchische Einrichtung vor. Sie gehorchen einem Häuptling aus bestimmter Familie. Den Marken, Gauen und Dörfern stehen adliche Beamte vor, die als Mauls, Mnschirs oder Spin- seras (Weißbärte) lebenslängliche Befugnis haben. Die Vorsteher der Chans werden vom Volke mit Stimmenmehrheit gewählt und bedürfen keiner höhern Bestätigung. Dagegen ivird der Chan eines jeden Ulus, wenn ein Emir in Afghanistan vorhanden ist, von diesem eingesetzt. Wie bei allen muhammedanischen Völkern, so gilt auch bei den Afghanen der Koran mit seinen Kommentaren nicht bloß als religiöses, sondern auch als bürgerliches Gesetzbuch. Daneben aber existirt eine Sammlung von Nechts- gewohnheiten des Pathanvolkes, die Paschtcmi-Walli heißt und deren wesentlichste Bestimmungen in Satzungen bestehen, welche sich auf das Wehrgeld beziehen. Die Dschirga ist das öffentliche Schvppengericht, dessen Ausspruch, wenn es bei Streitigkeiten von den Parteien angerufen wird, für entscheidend anzusehen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/603>, abgerufen am 22.07.2024.